08.11.1940 - Ottobeurer Bürger als Opfer der Zwangssterilisation und NS-„Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee
Titel
Beschreibung
Das Schicksal von Josef Ostler (06.02.1922 - 02.11.1940) bringt uns zu einem weiteren sehr dunklen Kapitel des Dritten Reichs: Körperlich oder psychisch Krankte, deren Leben der Gesellschaft keinen „Nutzen“ brachte, wurden als lebensunwürdig betrachtet und ermordet.
Josef Ostler war in seiner Schulzeit noch relativ unauffällig. Sein damaliger Freund, Georg Mathies (06.07.1924, Ottobeuren - 21.01.2016, St. Gallen), berichtete 2014, er sei zwar „auffällig“ gewesen, aber seine Mitgliedschaft in der Negus-Bande (1934 Gründungsmitglied, 1939 „ausgeschieden“) belegt, dass er aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnahm. Nach sechs Jahren Volksschule ging er kurz auf das Progymnasium in Memmingen, brach es aber im März 1939 ab - allerdings nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern weil er „in Griechisch und Mathematik nicht mitkam“.
Nur zwei Monate nach Beginn einer kaufmännischen Ausbildung (am 01.04.1939) an der „Handelsschule Merkur“ in Ulm, wurde er auffällig und nach Hause geschickt. Am 13.06. 1939 kam Ostler ins Krankenhaus Ottobeuren, am 15.06.1939 wurde er mit der Diagnose Schizophrenie in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren eingewiesen. Nachdem er als „nicht fortpflanzungsgefährdet“ eingestuft wurde, entging er der Zwangssterilisation zwar, eine in Kaufbeuren entdeckte Tuberkulose-Erkrankung verschlimmerte sich allerdings so sehr, dass er am 29.10.1940 als „ungeheilt“ nach Ottobeuren entlassen wurde, wo er kurz darauf im Krankenhaus starb.
Mehrere andere Ottobeurer wurden aufgrund ihrer Erkrankung unmittelbar Opfer der NS-Ideologie. In einem Fachartikel stellt Dr. des. Petra Schweizer-Martinschek für das virtuelle Museum den Gesamtzusammenhang her. (Hinweis: Der Gesamttext ist demnächst in der Word- bzw. Pdf-Datei abrufbar; dort eben auch mit den Erläuterungen zu den Fußnoten, die hier nachfolgend fehlen). Der Text beginnt zunächst mit Josef Ostler:
Ottobeurer Bürger als Opfer der Zwangssterilisation und NS-„Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee
Der Ottobeurer Josef Ostler(1) wurde im Juni 1939 im Alter von nur 17 Jahren vom Bezirkskrankenhaus Ottobeuren in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee überwiesen. Im Erlass vom 8. Januar 1936 hatte der Reichsinnenminister die erbbiologische Bestandsaufnahme der gesamten deutschen Bevölkerung angeordnet.(2) Die Heil- und Pflegeanstalten sollten dazu sämtliche Insassen und deren Angehörige in Sippentafeln erfassen. Dies wurde auch im Fall der Familie Ostler im Juli 1939 durchgeführt.(3) Die Zwangssterilisation wurde beantragt, allerdings nicht durchgeführt.(4) Nachdem sich der Gesundheitszustand gebessert hatte, wurde er am 23.9.1939 wieder entlassen – allerdings in die Obhut der Außenfürsorge – einer ambulanten Betreuung von gebesserten Patienten.
Keinen Monat später wurde Josef Ostler wieder in die HuPA Kaufbeuren eingewiesen. Im Oktober 1940 wurde bei ihm eine offene Tuberkulose diagnostiziert.(5) Er wurde auf Veranlassung der Mutter ins Krankenhaus nach Ottobeuren verlegt (29.10.1940) und verstarb dort am 8.11.1940.
Einleitung
Die geringe Wertschätzung von behinderten Mitmenschen, die in deren Ermordung während des Zweiten Weltkriegs durch die Nationalsozialisten ihren grausamen Höhepunkt fand, war keine ausschließliche Erscheinung des Dritten Reiches: Die Wurzeln der Diskriminierung sind im 19. Jahrhundert zu finden, als sowohl die gesellschaftlichen als auch ideologischen Voraussetzungen entstanden und sich entwickelten. Neben den ideologischen Aspekten waren es vor allem ökonomische Gründe, die dazu führten, dass die Lage der psychisch Kranke und körperlich Behinderten während der Weimarer Republik sich deutlich verschlechterte.
Schon seit Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu einem Anstieg der Insassenzahlen innerhalb der Anstalten, den damals so genannten Irrenhäusern. In einer Zeit, in der die Agrargesellschaft von der Industriegesellschaft verdrängt wurde und damit immer mehr Arbeitskräfte gebraucht wurden, geriet die große Zahl von psychisch Kranken und körperlich Behinderten immer mehr in den Blickwinkel, da diese Personengruppe als „asozial“ und „unproduktiv“ erschien. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden in der Psychiatrie die diagnostischen Begriffe „Entartung und Minderwertigkeit.“ Als „entartete Patientengruppen“ wurden Kriminelle, Alkoholiker, Bettler, Homosexuelle und hysterische Menschen bezeichnet, die als unheilbar Kranke sich nicht vermehren dürften. Viele Insassen von Irrenanstalten stufte man als minderwertig, also als unproduktiv und somit lebensunwürdig ein.
In den Wissenschaftskreisen der Sozial- und Rassenhygienik wurde die These vertreten, dass der medizinische Fortschritt die natürliche Auslese verhindere und somit Minderwertige überleben, während die Besten im Krieg ihr Leben verlieren. Da dies zu einer stetigen Verschlechterung des vorhandenen Erbmaterials und damit zur allmählichen Zerstörung des Volkes führe, müsse dieser mit geeigneten Methoden – in letzter Konsequenz durch die Vernichtung der Untauglichen – entgegengewirkt und die Höherzüchtung der germanischen Rasse zu arischen Übermenschen angestrebt werden. In der dazu zahlreich erschienenen Literatur(6) wurden die psychisch Kranken und körperlich Behinderten nur mehr mit Bezeichnungen wie „Ballastexistenzen“, „leere Hülsen“, „geistig Tote“ oder „unnütze Esser“, die nur große Kosten verursachen, tituliert. Diese Begriffe wurden später von den Nationalsozialisten in die Propagandasprache übernommen. Durch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges und die damalige wirtschaftlich schwierige Lage erfuhr die Diskussion eine radikale Wendung, als im Jahre 1920 ein Werk erschien, das öffentlich für die Vernichtung geistig und körperlich behinderter Menschen argumentierte: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ von Karl Binding (Jurist) und Alfred Hoche (Psychiater).(7) Während sich vor Erscheinen dieser Schrift die Debatten zur Euthanasie lediglich mit der Sterbehilfe für Unheilbare auf ihr Verlangen hin beschäftigten, ging es nun um die Tötung so genannter Erbkranker. Im Vordergrund stehen ökonomische und utilitaristische Aspekte, vor allem der Nutzen für die Allgemeinheit, nach dem der Wert des Einzelnen durch dessen Produktivität gemessen wird. Der folgende Textausschnitt aus diesem Werk verdeutlicht den Unterschied zwischen gesunden Soldaten, die im Krieg gefallen sind, während die lebensunwerten Behinderten in den Anstalten bestens versorgt wurden:
„Denkt man sich nämlich ein Schlachtfeld bedeckt mit Tausenden toter Jugend [...] und stellt man in Gedanken unsere Idioteninstitute mit ihrer Sorgfalt für ihre lebenden Insassen daneben – und man ist auf das tiefste erschüttert von diesem grellen Mißklang zwischen der Opferung des teuersten Gutes der Menschheit in größtem Maßstab auf der einen und der größten Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen auf der anderen Seite.“(8)
Nach Hitlers Machtergreifung 1933 „wurde die deutsche Wissenschaft rasch mit der NS- Ideologie gleichgeschaltet“(9), indem die nationalsozialistische Bewegung diese Lehre mit der rassisch begründeten politischen Ideologie verband. Die NS- Gesundheitspolitik war geprägt von sozialdarwinistischem Gedankengut, deren oberstes Ziel die „Gesundung“ des deutschen Volkes war. Wer nicht stark und nützlich war, wurde ausgerottet. Hitlers Vision von der Schaffung des neuen Menschen mit den Attributen stark, gesund, unbeugsam, arisch und führertreu, sollte verwirklicht werden. In dieser Gesellschaft konnte deshalb kein Platz sein für minderwertige, also lebensunwürdige Menschen wie psychisch Kranke und körperlich behinderte Menschen. Die Ausgrenzung dieser Personengruppe begann mit der Zwangssterilisation und endete mit der Tötung von ca. 260.000 Patienten im ganzen Deutschen Reich.
Die Sterilisation zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“
Das am 14. Juli 1933 verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) legte den Grundstein der NS-Eugenik- und Rassengesetzgebung. Das Gesetz, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat, zwang Menschen sowohl mit körperlichen als auch psychischen Erkrankungen zur Sterilisation.(10) Die Nationalsozialisten legten fest, dass Menschen mit folgenden Krankheiten auch gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht werden konnten:
„angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärer (manisch-depressiver) Irrsinn, erbliche Fallsucht (Epilepsie), erblicher Veitstanz (Huntington’sche Chorea), erbliche Blindheit, erbliche Taubheit und schwere körperliche Missbildungen, deren erblicher Charakter durch die Forschung hinreichend belegt sei.“(11)
Ein Jahr später erfolgte sogar die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bei erbkranken Frauen. Auch chronische Alkoholiker und Jugendliche ab 14 Jahren konnten sterilisiert werden. Die Sterilisierungsanträge wurden in den insgesamt 225 neu eingerichteten Erbgesundheitsgerichten (EGG), die den Amtsgerichten angegliedert waren, unter Ausschluss der Öffentlichkeit geprüft. Die Operation konnte entweder vom Behinderten selbst oder vom Anstaltsarzt – meist vom Direktor selbst – veranlasst werden. In den meisten Fällen geschah der operative Eingriff jedoch gegen den Willen der Behinderten. Vielen wurde die Entlassung aus der Anstalt in Aussicht gestellt, wenn sie sich freiwillig der Operation unterzögen. „Etwa 400.000 Menschen, die als erblich geisteskrank oder behindert angesehen wurden, mussten zwischen 1934 und 1945 eine Zwangssterilisation erdulden.“(12) Rund 5000 Personen starben aufgrund von Komplikationen während des Eingriffs oder an dessen Folgen.(13)
Im Rahmen des Sterilisationsgesetzes, das den ersten Schritt im Ausgrenzungsprozess Behinderter darstellte, wurden zur Erhaltung der Rasse die persönlichen Rechte des einzelnen Menschen in keiner Weise beachtet. Mit dem GzVeN wurden die geistig und körperlich Behinderten zu Menschen zweiter Klasse degradiert.
Die Sterilisation von Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee(14)
Bereits vor der Legalisierung hatte der Kreistag Schwaben unter dem Vorsitz von Dr. Otto Merkt (Oberbürgermeister von Kempten) in einer geheimen Sitzung im März 1933 die Möglichkeit einer freiwilligen Sterilisation beschlossen.
Ab der Einführung des GeVeN (1934) wurde zunächst in der chirurgischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Augsburg sterilisiert, danach wurde auch das Städtische Krankenhaus Kaufbeuren „zur Unfruchtbarmachung berechtigt“ erklärt.
Über Zwangssterilisationen von Kaufbeurer Patienten entschied fast ausschließlich das Erbgesundheitsgericht (EGG) in Kempten. Da Direktor Dr. Valentin Faltlhauser als fachkundiger Beisitzer dem EGG angehörte, hatten seine Anträge auf Unfruchtbarmachung somit große Erfolgsaussichten. Es wurden jedoch nicht nur Patienten begutachtet, die in stationärer Behandlung waren, sondern auch diejenigen, die im Rahmen des Außenfürsorge betreut wurden.(15)
Seit Kriegsbeginn nahm die Zahl der Operationen immer mehr ab: von 73 Männer und 140 Frauen noch als erbkrank Gemeldeten wurden noch drei Frauen im Jahr 1944 sterilisiert.(16) Wegen des totalen Kriegseinsatzes ergingen vereinfachende Verwaltungs- und Rechtspflegevorschriften, welche die Unfruchtbarmachung auf ganz besonders dringliche und klarliegende Fälle unter Beiziehung der höheren Verwaltungsbehörde beschränkten. Damit war das GzVeN faktisch außer Kraft gesetzt. Das Erbgesundheitsgericht in Kempten wurde Ende 1944 aufgelöst; dringliche Fälle entschied fortan das Erbgesundheitsgericht München.
Beispiel Ottobeurer Patienten, die zwangssterilisiert wurden
Die Krankenmorde
Allgemeines zur NS-„Euthanasie“
In der NS-Zeit starben mehr als 250.000 körperlich oder psychisch kranke sowie arbeitsunfähige Menschen einen gewaltsamen Tod, der staatlich organisiert war. Diese nationalsozialistischen Krankenmorde fanden unter dem Deckmantel des beschönigenden Begriffs „Euthanasie“, (=„guter bzw. leichter, schöner Tod“) statt.
Da im Dritten Reich die Tötung eines Menschen nach wie vor ein Verbrechen war, unterzeichnete Hitler im Oktober 1939 ein Dokument, in dem er die mit der „Kinder-Euthanasie“ vertrauten Karl Brandt, seinen Leibarzt, und den Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler „beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“(17) Dieser so genannte „Gnadentoderlass“, der auf den 1. September 1939 (= Kriegsbeginn) zurückdatiert wurde, diente offiziell als Grundlage zur Tötung von Behinderten. Die NS-„Euthanasie“ von Erwachsenen fand in zwei Phasen statt: von 1939 bis August 1941 wurden die zu tötenden Patienten in eigens errichtete Tötungszentren transportiert und mittels Gas ermordet. Dieser „Aktion T4“ fielen 70.273 Menschen zum Opfer.(18)
Im August 1941 befahl Hitler wegen öffentlicher Proteste von Angehörigen aber auch von den Kirchen (v.a. die Rede von Clemens August Graf von Galen) das Einstellen der Krankenmorde durch Gas. Nach diesem sog. „Euthanasie-Stop“ wurden die Kranken im Rahmen der „dezentralen Euthanasie“ in den Anstalten direkt durch die Verabreichung überdosierter Schmerz- bzw. Beruhigungsmittel getötet. Die Kranken kamen aber auch infolge vorsätzlich herbeigeführter Erschöpfungszustände oder chronischer Unterernährung (sog. „Hungerkost“) um.
Die Tötung von Kindern fand in eigens errichteten Kinderfachabteilungen statt. Zielgruppe der „Euthanasie“ sollten vor allem jene Kinder sein, die nicht schon in Anstalten untergebracht waren, sondern noch bei ihren Eltern lebten. Ab August 1939 erfolgte eine „Meldepflicht für mißgestaltete usw. Neugeborene“(19). Dieser Erlass forderte Hebammen und leitende Ärzte von Entbindungsstationen und Kinderkrankenhäusern auf, sämtliche behinderte Neugeborene sowie Kinder unter drei Jahren, die im Deutschen Reich lebten, den zuständigen Gesundheitsämtern zu melden.(20) Für jedes Kind musste ein Meldebogen ausgefüllt werden, der Auskunft über Geburt, Grad der Behinderung, sowie die komplette bisherige Krankengeschichte enthielt. Diese Meldebögen wurden von den Gesundheitsämtern an die Kanzlei des Führers geschickt, die diese Bögen an Gutachter weiterreichte. Drei Obergutachter entschieden, ob das betreffende Kind zu töten sei oder nicht. Wurde ein Kind in das „Euthanasie-Programm“ aufgenommen, wurde es in eine der Kinderfachabteilungen eingewiesen, die in mehr als 30 Heilanstalten und Universitätskliniken eingerichtet worden waren.(21)
Die Rolle der HuPA Kaufbeuren-Irsee bei den Krankenmorden
Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee war zwischen 1939 und 1945 aktiv an der „Euthanasie“ psychisch und körperlich Kranker beteiligt. Mit 1200 Betten in den 30er Jahren war sie schon immer die größte Einrichtung dieser Art in ganz Schwaben. Während in der Hauptstelle Kaufbeuren eher diejenigen Patienten untergebracht waren, die wieder geheilt werden konnten, war die Nebenstelle Irsee vielmehr Pflege- und Verwahranstalt.
Zu Beginn der „Euthanasie“-Aktion (September 1939) wurden aus ganz Bayern, vor allem aber aus dem Regierungsbezirk Schwaben Patienten anderer Anstalten nach Kaufbeuren verlegt. So kamen viele Personen aus Ursberg, Holzen, Pfaffenhausen, Glött, Lauingen, Lautrach, Schweinspoint, Günzburg und aus den Kinderheimen Möhren und Stein ins Ostallgäu.(22)
In der ersten Phase der „Euthanasie“ wurden bis zum „Euthanasie-Stop“ im August 1941 insgesamt 687 Patienten in die Tötungsanstalten Grafeneck und Hartheim transportiert und dort ermordet. Die Opferzahlen können anhand von Klinikakten folgendermaßen belegt werden:(23)
26. August 1940 75 Männer
27. August 1940 75 Frauen
5. September 1940 75 Männer
8. November 1940 90 Frauen
25. November 1940 61 Männer
9. Dezember 1940 35 Frauen
4. Juni 1941 70 Männer
5. Juni 1941 71 Frauen
8. August 1941 133 Frauen und 7 Männer
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5 Rückstellungen
gesamt: 687 Patienten(24)
Eine Überprüfung der Zu- und Abgangsbücher zeigte, dass fünf Männer ein paar Tage nach ihrer Verlegung in eine Tötungsanstalt – am 8.12.1940 – wieder nach Kaufbeuren gekommen waren. Fest steht, dass die Patienten in einem Sammeltransport aus der Zwischenanstalt Zwiefalten wieder ins Allgäu gebracht worden waren.(25) Vermutlich erfolgte bei diesen Männern eine „Rückstellung“, da alle Veteranen des Ersten Weltkriegs gewesen waren. Diese Tatsache spielte in der zweiten Phase der Krankenmorde wohl keine große Rolle mehr: drei dieser Männer wurden durch Nahrungsentzug und/oder die Überdosis von Medikamenten getötet; die beiden anderen Patienten überlebten die NS-Zeit.(26)
Das Hist. Archiv des BKH Kaufbeuren verfügt über nahezu alle Patientenakten seit der Gründung der Kreisirrenanstalt Irsee 1849 – nur die Akten der sog. T4-Opfer sind nicht da. Diese Akten wurden nämlich mit den Patienten in die Tötungszentren mitgegeben. Anhand der Abgangsbücher konnte festgestellt werden, dass unter diesen 687 Opfern auch Menschen aus Ottobeuren waren.
Genovefa H. (AktenNr. 9728): ledig, Kindermädchen, geb am 8.2.1895, geboren und wohnhaft in Ottobeuren, in der Anstalt vom 4.9.1917 bis 27.8.1940 (ab 1.4.1922 in Irsee untergebracht).
Maria K. (AktenNr. 7880): ledig, Dienstmädchen, geb. am 19.11.1899, geboren und wohnhaft in Ottobeuren, in der Anstalt vom 5.4.1927 bis 16.3.1929 und 5.8.1930 bis 27.8.1940.
Irma N. (AktenNr. 7187): ledig, Kontoristin, geb. am 22.8.1897 in Ottobeuren, wohnhaft in Augsburg, in der Anstalt vom 1.5.1925 bis 12.9.1925 und 15.2.1928 bis 9.12.1940.
Johanna H. (AktenNr. 11823): ledig, ohne Beruf, geb. am 15.4.1899 in München, wohnhaft in Ottobeuren, in der Anstalt vom 19.11.1940 bis 8.8.1941.
Josef L. (AktenNr. 11759): ledig, ohne Beruf, geb. am 10.11.1920, geboren und wohnhaft in Ottobeuren, in der Anstalt vom 19.11.1940 bis 4.6.1941.
Kriterien, nach deren die Opfer der Krankenmorde ausgewählt wurden, waren die Aufenthaltsdauer und die Arbeitsfähigkeit. Ca. ein Drittel der Krankenakten der T4-Opfer sind erhalten und befinden sich nun im Bundesarchiv in Berlin – auch die Akte von H., K., L. und N. [Hinweis: Die Anonymisierung kann geg. aufgehoben werden.]. Diese Akten können von Angehörigen und Wissenschaftlern eingesehen werden.
Eine aktive Rolle in der Ermordung psychisch und körperlich Behinderter spielte Kaufbeuren erst nach dem „Euthanasie-Stop“ vom August 1941, als in Kaufbeuren und Irsee jeweils eine Tötungsstation für Erwachsene eingerichtet wurde, um dort die Patienten durch Giftspritzen zu ermorden. Am 5. Dezember 1940 wurde außerdem unter der Leitung Faltlhausers eine Kinderfachabteilung eröffnet.
Ganz im Sinne der NSDAP-Führung war der damalige Direktor, Dr. Valentin Faltlhauser, ein Befürworter der Sterilisation sowie der Euthanasie. Er entwickelte eine Entzugs-Kost, aufgrund der die Patienten allmählich verhungern sollten. Kranke, die nicht arbeiten konnten und somit nichts für die Volksgemeinschaft leisteten, erhielten die so genannte „E-Kost“: eine Ernährung ohne Kohlehydrate und Fett, bestehend aus Gemüse und sehr wenig Brot; zu trinken gab es Tee. Viele „arbeitsunfähige“ Patienten starben an den dadurch entstandenen Mangelerscheinungen oder an entsprechenden Folgeerkrankungen. Auf den Kaufbeurer und Irseer Tötungsstationen sind seit dem so genannten „Euthanasie-Stop“ im August 1941 bis zum 2. Juli 1945 durch die Hand Faltlhausers und einiger Mitarbeiter ungefähr mind. 1200 Menschen durch die Gabe von Opiaten, vor allem Luminal, das bei erhöhter Dosierung das Atemzentrum lähmt und eine Lungenentzündung verursacht, oder durch Nahrungsentzug umgebracht worden.
Unter diesen Opfern befanden sich auch Menschen aus Ottbeuren.
Ab September 1944 wurde die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren zur bayerischen Sammelstelle für Ostarbeiter, die als psychisch oder körperlich krank eingestuft wurden. Am 6. September 1944 wurde nämlich ein Gesetz erlassen, um psychisch kranke und nicht mehr arbeitsfähige ausländische Arbeiter in Heil- und Pflegeanstalten einzuweisen und sie dort im Rahmen des „Euthanasie-Programms“ zu ermorden. Aus allen bayerischen Städten wurden deshalb ausländische Patienten ins Allgäu transportiert; ein Teil von ihnen wurde dort ermordet.(27)
Insgesamt verstarben in der Anstalt Kaufbeuren-Irsee in den Jahren 1939 bis Kriegsende zwischen 1200 und 1600 Personen, darunter mind. 210 Kinder.(28)
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Literatur zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee sowie zum Thema „Euthanasie“ im „Dritten Reich“ allgemein:
Ackermann, Hanns, Benzenhöfer, Udo: Die Zahl der Verfahren und der Sterilisationen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, Kontur-Verlag Münster, 2015, 30 S., 10 €, ISBN 978-3-944998-07-7
Birk, Hella: Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Eine Untersuchung zum Erbgesundheitswesen im bayerischen Schwaben in der Zeit des Nationalsozialismus, [Kießling, Rolf, Hrsg: Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben, Band 33] Wißner-Verlag Augsburg, 17.03.2005, 304 S.,19,80 €, ISBN 978-3-89639-471-2
Cranach, Michael von, Cranach, Katharina von:
In Memoriam. Ausstellung in Gedenken an die Opfer des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms aus Anlass des XI. Weltkongresses für Psychiatrie in Hamburg, 1999, Selbstverlag, Kaufbeuren, 60 S.
Cranach, Michael von, Schneider, Frank (Autoren), Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (Hrsg.): In Memoriam. Erinnerung und Verantwortung, Ausstellungskatalog, Springer-Verlag Berlin, 19. November 2010, 60 S., ISBN-10: 3642173985, ISBN-13: 978-3642173981
Cranach, Michael von, Kuhlmann, Robert, Schmidt, Martin: Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, in: Cranach, Michael von, Siemen, Hans-Ludwig (Hrsg.): Psychiatrie im Nationalsozialismus: Die Bayerischen Heil und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, Oldenbourg Wissenschaftsverlag München [jetzt: De Gruyter Oldenbourg], 1999 (2. Auflage 25.07.2012), 508 S., 44,95 €, ISBN-10: 3486714511, ISBN-13: 978-3486714517, eBook ISBN 978-3-486-71742-6
Dobler, Gerald : Warum Irsee? Die Erweiterungsplanungen der Kreisirrenanstalt Irsee ab 1865 bis zum Neubau der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren 1872, Grizeto Verlag, Irsee, 2014, 87 Seiten, 15,80 €, ISBN 978-3-9812731-7-5
Dobler, Gerald: von Irsee nach Kaufbeuren, Grizeto Verlag, Irsee, 2013, 88 S., ISBN-10: 3981273176, 14,80 €, ISBN-13: 978-3981273175
Domes, Robert: Wir waren wie eine große Familie. Die Anstalt Irsee zwischen Kriegsende und Auflösung, Grizeto Verlag Irsee, 01.12.2017, 180 S., 13,80 €, ISBN-13: 978-3981667875
Die Memminger Zeitung berichtete am 31.03.2018 auf Seite 15 über das Buch (Überschrift: „Zeitreise in die Welt der Anstaltspsychiatrie. Robert Domes beleuchtet die Versorgung psychisch Kranker im Kloster Irsee von 1945 bis 1972. Ein bemerkenswerter Beitrag zur schwäbischen Heimatgeschichte.“)
Heuvelmann, Magdalene (Autorin), Bildungswerk Irsee, Putzhammer, Albert, Raueiser, Stefan (Hrsg.): Das Irseer Totenbuch: Chronisches Toten-Register der Heil- und Pflegeanstalt Irsee 1849 bis 1950, Grizeto Verlag Irsee, 01.09.2015, 496 S., 35,80 €, ISBN 978-3-9816678-2-0
Heuvelmann, Magdalene (Autorin), Bildungswerk Irsee, Cranach, Michael von, Raueiser, Stefan (Hrsg.): „Wer in einer Gottesferne lebt, ist im Stande, jeden Kranken wegzuräumen.“ „Geistliche Quellen“ zu den NS-Krankenmorden in der Heil- und Pflegeanstalt Irsee, [Impulse Bd. 7], Grizeto Verlag Irsee, 01.12.2013, 240 S., 16,80 €, ISBN-10: 3981273184, ISBN-13: 978-3981273182, ISSN 1867-7118
Hohendorf, Gerrit: Die "Euthanasie"-Opfer zwischen Stigmatisierung und Anerkennung, [Berichte des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation, Band 10], Kontur-Verlag Münster, Oktober 2014, 232 S., 22 €, ISBN-10: 3944998049 ISBN-13: 9783944998046
Kiderle, Johann Michael, Resch, Erich: Beschreibung der bayerischen Heilanstalt für Geisteskranke in Kaufbeuren aus dem Jahr 1882, [Kaufbeurer Schriftenreihe, Bd. 3] Bauer-Verlag Thalhofen, 2001, 40 S.
Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Erstauflage Frankfurt 1985, Neuauflage Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main, 2010, ISBN 978-3-596-18674-7
Ley, Astrid: Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934-1945, [Kultur in der Medizin], Campus-Verlag Frankfurt/Main, 10.05.2004, 396 S., 43,00 €, ISBN-10: 359337465X, ISBN-13: 978-3593374659
Mitscherlich, Alexander, Mielke, Fred (Hrsg.): Medizin ohne Menschlichkeit: Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main, 19.10.2009, 400 S., ISBN-10: 3596220033, ISBN-13: 978-3596220038, 12,95
Römer, Gernot: Die grauen Busse in Schwaben: Wie das Dritte Reich mit Geisteskranken und Schwangeren umging. Berichte, Dokumente, Zahlen und Bilder, Wißner-Verlag, Augsburg, 2. Auflage 11.03.2009, 184 S., 14,80 €, ISBN-10: 3896396943, ISBN-13: 978-3-89639-694-5, vergriffen
Schweizer-Martinschek, Petra: Tbc-Versuche an behinderten Kindern in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee 1942-1944, S. 231-259 in: Wirsching, Andreas (Hrsg.): Nationalsozialismus in Bayerisch-Schwaben: Herrschaft - Verwaltung - Kultur, Thorbecke Verlag Ostfildern, 2004, 306 S., ISBN-10: 3799575103, ISBN-13: 978-3799575102
Und hier noch zwei Publikationen aus dem „Giftschrank“:
Faltlhauser, Valentin: Geisteskrankenpflege: Ein Lehr- u. Handbuch für Irrenpfleger. Zus. mit Ludwig Scholz., 1923 (4. Aufl. 1939), Halle, 190 S.
Gütt, Arthur, Rüdin, Ernst, Ruttke, Falk: Zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Gesetz und Erläuterungen, Verlag Lehmanns, München, 1934, 272 S.
Außerdem Internet-Links:
Wikipedia-Seite zum damaligen Chefarzt Valentin Faltlhauser.
Die Bezirkskliniken Schwaben bei Wikipedia (mit geschichtl. Übersicht)
Der Wortlaut des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, unterzeichnet von Adolf Hitler, Innenminister Frick sowie Justizminister Gürtner am 14.07.1933. (Vgl. insb. die §1, 2 und 3.)
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Ergänzungen: In der „ErbkarteiN“ tauchen 10 weitere Ottobeurer (*1875, 1885, 1887, 1888, 1895, 1906, 1908, 1914, 1915 und 1922) auf, von denen vier 1937 - 1939 nachgewiesenermaßen zwangssterilisiert wurden, bei den übrigen ist der Status nicht bekannt. Neben Schizophrenie wurden bei den Patienten „manisch depressives Irresein“ und „progressive Paralyse“ als Diagnose angegeben.
Die „Sippenbögen“ sind zwar komplett erfasst, von den etwa 20.000 Akten in Kaufbeuren sind erst um die 20% ausgewertet. Es kann also durchaus sein, dass noch mehr Ottobeurer auftauchen werden. Eine Anfrage in Berlin auf Aktenübermittlung von getöteten Patienten - deren Akten in die Vernichtungseinrichtungen jeweils mitgingen - läuft gerade.
Anträge auf Sterilisation ergingen über die Erbgesundheitsgerichte nicht nur aus den Pflegeanstalten, sondern in erster Linie von Ärzten und aus der Bevölkerung insgesamt. Diese Gerichte waren meist in den Bezirksstädten (heute: Kreisstädten) angesiedelt. Für Kaufbeuren war i.d.R. Kempten zuständig, vermutlich gab es solch ein Gericht auch in Memmingen.
Dem Anstaltsleiter Valentin Faltlhauser wurde übrigens zu drei Jahren Haft verurteilt, musste diese aber nicht antreten. Seine Pensionsberechtigung blieb ihm auf dem „Gnadenweg“ erhalten.
Die Amerikaner haben Kaufbeuren zwar um den 27.5.1945 eingenommen, die Heil- und Pflegeanstalt wurde jedoch nicht betreten, da auf Schildern außen auf die Typhus-Gefahr hingewiesen wurde. So ging das Personal noch ein und aus und das Töten ging weiter: Am 20.06.1945 wurde mit einem vierjährigen Jungen die letzte Tötung vorgenommen. Das 1944 eingerichtete Krematorium war dafür nicht mehr in Betrieb, weil der Rauch sonst Aufmerksamkeit erregt hätte. Erst am 02.07.1945 durchsuchten die Amerikaner die Anstalt - und fanden neben dem erhängten stellvertr. Leiter auch eine Vielzahl von Leichen. Im ehemaligen Reichsgebiet begann daraufhin eine großangelegte Recherche zu weiteren vergleichbaren Einrichtungen.
Veranstaltungshinweis: Vom 23.10.2015 - 31.01.2016 lief in Kaufbeuren im Stadtmuseum die Sonderausstellung „In memoriam. Euthanasie im Nationalsozialismus“. (Link mit Detailinfos)
Auch hier wurde ein Einzelschicksal beispielhaft erzählt, das des Jungen Ernst Lossa. Seine Leidensgeschichte ist jüngst verfilmt worden. Sollte der Film nicht in Cannes 2016 gezeigt werden, dann wird er voraussichtlich bereits am 27.01.2016 (Gedenktag der NS-Opfer) erstmals gezeigt werden.
Die Ausstellung ist vom 15.09.-10.10.2014 auch schon im Landratsamt in Mindelheim gezeigt worden. Frau Dr. Schweizer-Martinschek hat am 03.10.2015 in Lautrach über Impfexperimente (TBC-Versuche, siehe auch Literaturhinweis) an behinderten Kindern einen Vortrag gehalten.
Literaturzitat zum abgebildeten Buchcover:
Gütt Arthur, Rüdin Ernst, Ruttke Falk: Zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Gesetz und Erläuterungen, München, 1934, 272 S. (Sammlung Helmut Scharpf)