1906 - Warum die Ottobeurer in Memmingen keinen Pflasterzoll bezahlen

Titel

1906 - Warum die Ottobeurer in Memmingen keinen Pflasterzoll bezahlen

Beschreibung

Raith Kasimir: Warum die Ottobeurer in Memmingen keinen Pflasterzoll bezahlen, S. 72f., in: Fischer Leo: Schwäbische Sagen und Geschichten, Verlag der Schwäbischen Schulausstellung in Augsburg, Carl August Seyfried & Comp. (Carl Schnell), München, 1906, 191 S.

In Leo Fischers Buch über Sagen und Geschichten in Schwaben (illustriert von Ernst Liebermann) ist auch eine über Ottobeuren enthalten, die der Ottobeurer Kasimir Raith auf 1½ Seiten erzählt. Raith war lt. Website der Bücherei Ottobeuren „Präparantenlehrer“ (nicht zu verwechseln mit dem Schlossermeister Casimir Raith); er leitete die Bücherei von 1904 bis zu seinem Tod im Jahr 1919. In den meisten Quellen wird die frühere Berufsbezeichnung für einen (Lehramts-)Referendar mit „d“ geschrieben, also Präparandenlehrer. Seine Frau Kreszentia (geb. Abröll) starb am 26.05.1940.
Von Leo Fischer ist wenig bekannt, er scheint zwischen 1883 und 1934 publiziert zu haben.

Hier der gesamte Text:

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48.  Warum die Ottobeurer in Memmingen keinen Plasterzoll bezahlen.

Wenn man auf der Straße von Memmingen nach Ottobeuren geht, so sieht man links am Wege, einige hundert Schritte vor der Riedmühle bei Benningen, noch  den alten Grenzstein, an dem sich einstens das Gebiet der „freyen Reichsstadt Memmingen“ von dem des „freyen Reichsstifts Ottenbeuren“ schied. Das sumpfige Quellgebiet, das sich von da an auf ehemals Ottobeurer Boden links der Straße hinzieht, liefert schon seit Jahrhunderten der Stadt Memmingen einen großen Teil ihres Trinkwassers. Von diesen Quellen geht folgende Sage:

Einmal fuhr der Reichsprälat von Ottobeuren nach Memmingen, um den dortigen Patriziern einen freundnachbarlichen Besuch zu machen. Da er gerade besonders guter Laune war und sich in seiner ganzen Macht und Würde zeigen wollte, befahl er, daß an seiner Hofkarosse nicht wie gewöhnlich vier, sondern, was eigentlich nur dem Kaiser erlaubt war, sechs Pferde angespannt werden sollten. So fuhr er vergnügten Sinnes der Stadt zu. Die Memminger aber verstanden in diesen Dingen keinen Spaß. Die Eifersucht zwischen „Reichsstädtlern“ und „Reichsstiftlern“ war von jeher groß. Als darum der Herr Prälat sechsspännig durch das Kalchtor einfuhr und die Reichsstädtler der Riesenkutsche mit dem ordnungswidrigen Gespann anfichtig wurden, da gab es große Augen und manches Wort fiel, das für den Reichsprälaten nicht gerade schmeichelhaft war. Zwar getraute man sich nicht, öffentlich etwas dagegen zu unternehmen; aber als der Herr Prälat wieder einspannen ließ um heimzufahren, da zeigte es sich, daß bei zwei Pferden die Zugstricke zerschnitten waren.

So konnte der Abt nur vierspännig nach Hause zurückkehren. Mit Lohn und Schadenfreude sahen die Reichsstädtler den Wagen durchs Tor fahren. Sie sollten sich aber nicht lange ihres Schelmenstreiches freuen. Kaum zu Hause angelangt, schickte der Herr Prälat sofort den Brunnenmeister des Klosters nach Benningen mit dem Auftrag, die Deichel, welche von den dortigen Brunnenstuben das Wasser nach Memmingen leiteten, zu zerhauen. Sofort wurde

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der Befehl des Herrn Abtes vollzogen und noch am demselben Abend blieb in den meisten Brunnen der Stadt das Trinkwasser aus. Nun war hier Not am Mann. Was tun? Wasser mußte man haben. Da blieb nichts anderes übrig, als zu Kreuze zu kriechen. Man sandte eine Abordnung nach Ottobeuren. Diese sollte bei dem Herrn Abte wegen des ihm widerfahrenen Mißgeschickes um Entschuldigung bitten und das Anliegen wegen der Wasserleitung vorbringen.

Der Herr Prälat ließ sich leicht versöhnen. Doch ganz ohne Buße sollten die Memminger nicht wegkommen. Der kluge Herr gestattete den Weiterbezug des Wassers aus den Benninger Quellen für die Stadt, aber nur unter der Bedingung, daß die Reichsstadt Memmingen den Untertanen des Stiftes Ottobeuren für alle Zeiten Befreiung vom Pflasterzoll gewähre. Mit süßsaurer Miene gingen die Abgeordneten der Stadt auf diese Bedingungen ein. So endete dieser Zwischenfall zum Vorteil der Reichsstiftler und noch heute bezahlen die Ottobeurer in Memmingen keinen Pflasterzoll. 
Kasimir Raith.

Abschrift: Emma Scharpf, 09/2013
Das Original ist im Besitz von Günter Krotil.

Im „Spiegelschwab“, der Heimatbeilage der Memminger Zeitung, Ausgabe 3 vom März 1971 schrieb der damalige Heimatpfleger der Stadt Memminger Walter Braun (1905-1977) auf S. 9f. einen Text über den Grenzstein bei der Riedmühle. Darin zitiert er zunächst den gesamten Text von Raith, meint aber, er sei erfunden:
Und die köstliche Geschichte vom Pflasterzoll? Hübsch erfunden, aber nicht so alt. In den „Jahrbüchern von Ottobeuren“ von Pater Maurus Feyerabend (Ottobeuren 1813-16) kommt sie nicht vor, auch nicht in den 2 Bänden „Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus“ von Karl Reiser (Kempten 1895), in der hübschen Auswahl „Allgäuer Sagen“ von Hulda Eggart, verh. Hofmiller (Kempten und München 1914), und in dem neueren Werk „Allgäuer Sagen“ von Hermann Endrös und Alfred Weitnauer (Kempten 1954). Sie erscheint auch in keiner Memminger Geschichtsquelle, ganz abgesehen davon, daß es unter der reichsstädtischen Zöllen noch keinen Pflasterzoll gegeben hat, der erst im 19. Jahrhundert notwendig geworden ist, seitdem die Straßen in der Stadt (ab 1816) gepflastert wurden; und damals hat es keinen Reichsabt von Ottobeuren mehr gegeben.

Worterklärung: Als Deichel verstand man früher geschlossene Baumstamm-Rohre, als Teil einer Pipeline für Süßwasser oder Sole.
In der Krünitz-Enzyklopädie (242 Bände, herausgegeben zwischen 1773 und 1856) heißt es:
Deichel, ein durchbohrter Baum nach verschiedener Stärke, so zu Wasserleitungsröhren gebrauchet wird. Man bedienet sich dazu des Kiefern= Ulmen= Eichen und Erlenholzes.“

Urheber

Kasimir Raith, 1906

Quelle

Günter Krotil, Digitale Sammlung Helmut Scharpf

Verleger

Helmut Scharpf

Datum

1906-03

Rechte

gemeinfrei