1850 – Ottobeurens Geschichte und die von Pater Ulrich Schiegg im „Sulzbacher Kalender“
Titel
Beschreibung
Abschrift S. 65 - 74 (zweites Kapitel im Abschnitt „Denkwürdigkeiten aus Bayern“) aus:
Kalender für katholische Christen auf das Jahr 1850, J.E. Seidel, Sulzbach, 1850, 124 S.
Digitalisat
Die 10 Seiten enthalten einen Abriss zur Geschichte Ottobeurens (mit etlichen statistischen Angaben; Stand vermutlich Juni 1849), Hinweise zu Pater Maurus Feyerabend und Pater Augustin Bayrhammer sowie eine Biografie von Pater Ulrich Schiegg.
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[Abbildung: Ausschnitt Klauber-Stich von 1766]
II.
Ottobeuren,
Markt und Kloster in Schwaben.
In einem anmuthigen Thale des Regierungs-Bezirkes Schwaben und Neuburg des Königreichs Bayern, das in mannichfacher Windung das obere oder westliche Günz-Flüßchen durchschneidet, liegt an dessen Ufern in fruchtbarer Ebene zwischen Memmingen und Kaufbeuren, 3 Stunden von Ersteren, der wohlgebaute Marktflecken Ottobeuren (Ottenbeuern), mit 259 Wohnhäusern, 409 Familien und 1656 Einwohnern, Sitz eines königlichen Landgerichts, eines königlichen Rent- und Forstamts, dann eines Pfarramtes, Dekanats gleichen Namens Bisthums Augsburg, belebt durch gute Gewerbe und mehrere Jahr-, Vieh- und Fruchtmärkte. Schon im Jahre 1083 wurde Ottobeuren in den ältesten Annalen ein Markt (locus nundinarius) genannt. – Kaiser Friedrich III.
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ertheilte demselben im Jahre 1488 zwei Jahrmärkte, und Kaiser Ferdinand I. im Jahre 1557 ein Marktgericht. Ein sehr schöner Brunnen ziert den Marktplatz. Die Anlage eines mit Bäumen bepflanzten Vergnügens-Platzes ist einem daselbst im Jahre 1832 gebildeten Verschönerungs-Verein und der Mitwirkung der Gemeinde Verwaltung zu verdanken.
Auf einer mäßigen Anhöhe ober dem Markte prangt das ehemalige berühmte uralte Benedictiner-Reichsstift gleichen Namens mit seiner prachtvollen Kirche und seinen herrlichen Gebäuden. Da gründeten unter König Pipin im Jahre 764 der Alemanne Silach, Gaugraf des Illergaues und dessen Gattin Erminswint, vermeintlich eine Verwandte Hildegardens, Gemahlin Karls des Großen, dann ihre Söhne Gauzibert (Gozbert), Bischof Toto, Kleriker, und Tagebert, Laie, aus ihren dortigen ansehnlichen, beträchtliche Landesstrecken umfassenden Gütern reichlich begabt, ein Kloster für 12 Mönche adeligen Geschlechtes, das in der Abschrift der Stiftungs-Urkunde Uotinburra, (in andern Handschriften der Vorzeit Uottenburren, Uttenburhen) genannt ist, und dessen erster Abt Silachs zweiter Sohn Toto ward.
Das neue Kloster erfreute sich des besonderen Schutzes Karls des Großen, welcher dessen reiche Dotationen im Jahre 805 bestätigte.
So entstand ein mächtiges Institut, welches seinen ursprünglichen beträchtlichen Güterbesitz in der Folge noch durch neue Schankungen und Erwerbungen bedeutend vermehrte, länger als ein Jahrtausend nützlich zu wirken strebte, und bis zum Gewaltschlage der Secularisation, trotz vielen Stürmen und Unglücksfällen, in blühendem Wohlstand verblieb als reichsunmittelbares Stift mit seinen Prälaten als deutschem Reichsstand. Erfreulich gedieh das Kloster schon unter seinem ersten Abte Toto. Die Mönche widmeten sich eifrig der Pflege der Kunst und Wissenschaft, wo, von noch am Anfange unsers Jahrhunderts herrliche Proben in einem wohlerhaltenen, – am 27. October 1800 – in französische Hände gewanderten, kostbaren Manuscripte zeugten.
Die Verehrung der Reliquien des heil. Martyrers Alexander, eines der 7 Söhne der heil. Felicitas, welche Gauzibert und Toto von Vienne in Frankreich hergebracht hatten, zog eine Menge Andächtiger nach dem Kloster. Vorzüglich strömte das Volk an dem feierlichst begangenen jährlichen Festtage des Heiligen zu Tausenden dahin, was die Veranlassung zu einem bedeutenden Jahrmarkte gab. Toto starb am 19. November 815. In der Reihe der ersten Aebte Ottobeurens stehen die Bischöfe von Augsburg St. Neodegar (Nidgar) vom Jahr 816 bis 832; Witgar (Wikger) v. J. 856 bis 887. Segensreich waltete der heilige Ulrich, Bischof von Augsburg († 973), für das Kloster, für welches er eine große Vorliebe hatte, und in dem er die Würde eines Abtes in seinem höchsten Alter im Jahre 972 übernahm, aber kurz vor seinem Tode wieder in die Hände Rudungs niederlegte, den die Klostergemeinde auf seine Empfehlung zum Abte erwählte. Er bewirkte demselben vom Kaiser Otto dem Großen das wichtige Freiheitsdiplom vom 1. Nov. 972, wodurch es von allen Reichslasten befreit wurde, und das Recht der
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freien Wahl des Abtes zurück erhielt etc. In Folge dessen erfreuten sich auch die Unterthanen dieses Reichsstiftes bis zur Secularisation stets der Wohlthat, daß niemals aus demselben ein Mann ins Feld gestellt wurde. Die Reformation des Benedictiner-Ordens, welche von Hirsau aus sich entfaltete, brachte unter dem dortigen berühmten Abte Wilhelm (†1091) auch nach Ottobeuren frische, neuerstarkte Lebenskraft und gab demselben in Wilhelms Zögling Adalmhalm einen trefflichen Abt. Unter dem ausgezeichneten Abte Rupert I. (1102 - 1145) , der mit dem Ruhme der Heiligkeit starb, wurde auch Unadeligen die Aufnahme in das Kloster gestattet. Durch den hohen Ruf seiner Frömmigkeit wurden edle Frauen, Wittwen und Jungfrauen so angezogen, daß sie unter seiner Leitung ein eigenes, von der Mönchs-Gemeinde getrenntes klösterliches Institut in einem Nebengebäude bildeten, wie solches in ältesten Zeiten bei den meisten Mönchsklöstern sich fand. Dasselbe verlor sich aber wieder mit dem Jahre 1217 unter dem Abte Conrad I., nachdem bei dem Brande, welcher am 26. April desselben Jahres das ganze Kloster, und den größern Theil des Marktes einäscherte, auch ihre Wohnung ein Raub der Flammen geworden. Auch schon unter Ruperts I. eifrigem Nachfolger Isingrin († 1180) hatte das Kloster im Jahre 1153 das Unglück, in eine Brandstätte verwandelt zu werden. Abt Conrad I. (1194 - 1229) mußte seine Mönche zur einstweiligen Verpflegung in fremde Klöster senden, bis Kirche und Kloster durch hülfreiche Unterstützung, besonders des Bischofes Sigfried von Augsburg, schöner wieder der Asche entstiegen war.
Der im Jahre 1296 erwählte Abt Conrad II. (†1312) nahm den Titel eines Fürsten an, in welcher Eigenschaft und Würde er vom Kaiser Albrecht I. anerkannt wurde. Nun folgte eine Reihe von Fürstäbten, bis nach hundert Jahren die spätern Aebte klüger und ökonomischer den höhern Titel und den dadurch veranlaßten größern Aufwand wieder beseitigten. Dem Abte Eggo Schwab, (von den Chronisten irrig als Graf von Schwabeck genannt, v. J. 1404 bis 1416), einem standhaften Vertheidiger der Rechte des Klosters gegen allseitige Angriffe, besonders des benachbarten Adels, wurde durch die Bosheit seiner Feinde ein sehr tragisches Ende bereitet. Von Hinterlist und Rachsucht umgarnt, mußte er sich lange in einem festen Thurme verbergen, und fiel, trotz allen Schutzes, als ein Opfer der Treulosigkeit seiner bestochenen Diener, welche ihn meuchelmörderisch im Bette erwürgten, und aus dem Fenster seines Versteckes auf das Kirchenpflaster hinabstürzten, wo man ihn nach Tagesanbruch zerschmettert in seinem Blute fand.
Vielen Nachtheil brachte dem Kloster eine Doppelwahl, welche im Jahre 1479 2 Aebte, Nikolaus Rößlin und Wilhelm Steudlin, feindlich einander entgegenstellte, und zu den bedauernswerthesten Vorfällen führte, bis der erstere, der auch seinen Gegner in jeder Weise übertraf, mehr durch stille Ergebung als durch Hartnäckigkeit Sieger blieb, und endlich nach einem zweijährigen Aufenthalt im Kloster Elchingen, wo er vorher Conventual war, im Jahre 1488 zum ruhigen Besitz seiner Würde zurückkehrte.
Mit dem Anfange des 16ten Jahrhunderts erwachte eine neue literarische Thätigkeit im Kloster, dem in dem gelehrten Johann Nikolaus Ellenbog, geboren zu
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Biberach 1481, Ordensprofeß 1504, gest. 1543, ein Stern wahrer Wissenschaft entstanden war. Auf den berühmtesten Universitäten und durch große Reisen allseitig gebildet, ausgezeichnet als Theolog, Philosoph, Mathematiker, Astronom, Arzt, und als Philolog von sehr ausgebreiteten Kenntnissen, wie seine vielen, theils im Drucke theils in Manuscripten hinterlassenen Schriften bewähren, begeisterte er durch sein Beispiel und durch glühende Aufmunterung auch seine Ordensbrüder zum Eifer und Fleiße in den Studien. Eine eigene, unter seiner Leitung im Kloster errichtete Buchdruckerei, nur von Mönchen besorgt, kam dem edlen Streben zu Hülfe; eine treffliche Schule verbreitete den Segen der Bildung immer weiter; aber der Reformation und ihren unseligen Folgen mußte das junge Leben bald wieder zur Beute fallen.
Der Bauernkrieg wüthete auf's Heftigste auch im Gebiete Ottobeurens und das Kloster selbst mit seinen Kunstschätzen, seiner werthvollen Bibliothek entging der Zerstörung nicht, welche räuberische Horden allenthalben verbreiteten (1525). Ein armer Söldner von Sontheim erfrechte sich, in den öden Hallen als Abt zu herrschen und diese mit allen Gräueln der Anarchie zu entweihen, bis der schwäbische Bundeshauptmann, Georg Truchseß von Waldburg, über die Aufrührer wie eine Wetterwolke herfiel und sie auf's Haupt schlug.
Mit unsäglicher Mühe erhob der treffliche Abt Leonhard Widemann von Schretzheim bei Dillingen († 1547) das Kloster aus seinen Ruinen; auch die verdrängten Musen fanden sich wieder ein, und im Jahre 1543 entstand unter Mitwirkung und Geldbeiträgen der Abteien zu Kempten, Ochsenhausen, Zwifalten, Weingarten, Elchingen, Irsee und Donauwörth eine eigene Akademie, wo treffliche Lehrer in jedem Fache höherer Wissenschaft lehrten, die aber schon nach 2 Jahren wegen Kriegsunruhen nach Elchingen verlegt, und sodann i. J. 1546 von dort nach Dillingen versetzt wurde.
Leonhards würdiger Nachfolger, Kaspar Kindelmann von Stegen im Schweizer Canton Zürch († 1585), baute die Kirche und andere Kloster-Gebäulichkeiten von Neuem. Unter den folgenden Aebten glauben wir Folgendes als besonders denkwürdig erwähnen zu müssen: Im Jahre 1685 vereinigten sich unter Einwirkung des Fürstbischofes Christoph zu Augsburg die Benedictiner-Abteien Schwabens im Bisthums-Sprengel von Augsburg zu dem Zwecke kräftigerer Ueberwachung der klösterlichen Disciplin, in eine Congregation unter dem Namen des heil. Geistes. Ottobeuren sagte sich von derselben i. J. 1779 unter seinem Abte Honorat Göhl von Immenstadt (1767 - 1802) für immer wieder los. Im Jahre 1727 hatte Abt Rupert II. Neß, aus der ehemaligen Reichsstadt Wangen gebürtig, von Rom die Eremtion besagter Congregation von aller bischöfl. Gerichtsbarkeit nach dem Beispiele der bayerischen Benedictiner-Congregation erwirkt, jedoch ohne Erfolg, da der Fürstbischof von Augsburg sich derselben nachdrücklichst widersetzte. Dieser thätige verdienstvolle Abt, welcher in 14 starken Foliobänden ein vollständiges Tagebuch seiner 30jährigen Regierung (von 1710 - 1740) hinterließ, faßte den großen Entschluß, an der Stelle des alten Klosters einen den Zeitansprüchen mehr angemessenen Neubau aufzuführen. Am 5. Mai 1711 legte er den ersten Stein zum neuen Gebäude, und vollendete in der Hauptsache schon bis zum Jahr 1731 trotz mannichfacher
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Störungen und ungeheuerer Kosten das Werk in der Großartigkeit und Pracht, in der es jetzt noch den staunenden Blicken sich darstellt. Der neue Conventbau, dessen südlicher und mitternächtlicher Seitenflügel jeder 406, der östlichen Seite aber 466 Schuhe lang ist, und in welchem jede Zelle so bequem eingerichtet ist, daß sie ein Nebenzimmer und eine Alkove hat, konnte schon am 2. Januar 1715 bezogen werden. Alle bildenden Künste vereinigten sich, um das Kloster zu Schwabens Escurial*) umzuschaffen.
Unter den Gemälden verdienen Amiconis meisterhafte Malereien in der Prälatur-Kapelle besondere Bewunderung. Die stattlichen weitschichtigen Oekonomiegebäude wurden in einer solchen Ausdehnung aufgeführt, daß ihre Länge 365, und die Breite 406 Schuhe maß. Der Bau des herrlichen, 275 Schuhe langen, mit Gärten umgebenen Gebäudes der weltlichen Beamten des Stiftes wurde i. J. 1739 begonnen. Der Neubau der Kirche, wozu Rupert bereits den Grundstein gelegt hatte, blieb seinem Nachfolger, Abt Anselm Erb von Ravensburg (1740 - 1767) überlassen, und wurde von diesem in herrlicher Weise vollführt, so daß Kirche und Kloster in schönster Harmonie nun ein würdiges majestätisches Ganzes bilden, das in seiner bewährten Solidität noch vielen Jahrhunderten zu troßen vermag. Die herrliche, mit Malereien, Marmor, Schnitzwerk und Vergoldung reich gezierte Kirche wurde am 28. Septbr. 1766 feierlich eingeweihet. Sie ist in Kreuzform erbaut, 331 Schuh lang, und im Querschiffe in zwei Seiten Kapellen ausbeugend 224 Schuh breit, deren 2 Thürme sind mit ihrem Kreuze 303 Schuh hoch. In dem Seitenchore der Kirche über dem Presbyterium auf der Epistelseite steht eine ausgezeichnete Orgel mit 77 Registern und 4 Tastaturen, vielleicht die größte in Deutschland.
Sehr blühend waren unter dem oben genannten Abte Honorat Göhl, einem eifrigen Beförderer der Wissenschaften sowie der Landeskultur, die Schul-Anstalten Ottobeurens, womit gewöhnlich wenigstens 12 Ordensgeistliche beschäftigt waren. Die Studien-Schule, welche auch die Lyceal-Lehrfächer umfaßte, zählte jährlich beiläufig 200 Schüler.
Ottobeurens letzter Reichs-Prälat war mit sehr kurzer Regierungsdauer Paulus Alt von Wangen, erwählt den 23. Juli 1802 († 1807). Bald nach seiner Einsetzung unterlag das Kloster der Secularisation.
Das Reichsstift Ottobeuren mit seinem ansehnlichen Gebiete kam in Folge des Lüneviller Friedens und des deutschen Reichsdeputations-Schlusses als Entschädigungs-Object an Kurpfalzbayern, und wurde im folgenden Jahre aufgelöset. Am 1. Decbr. 1802 nahm es Bayern in Civil-Besitz; militärisch wurde es schon am 3. Septbr. besetzt. In der von dem Kloster übergebenen, von dem Benedictiner Ulrich Schiegg verfaßten Fassion, waren dessen jährliche Einkünfte auf 130,000 fl. berechnet. Der Flächeninhalt seines Gebietes war in der von dem Stifts-Kanzler Joseph von Weckbecker-Sternfeld verfaßten statistischen Uebersicht auf 44 geographische
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*) Escurial [Eskorial]: weltberühmtes, sehr großes Kloster und königliches Schloß in der spanischen Provinz Segovia, 6½ Meilen von Madrid, erbaut von König Philipp II. in den Jahren 1563 - 1584 mit einem ungeheuern Kostenaufwand von mehr als 5 Millionen Dukaten, welches eine Menge von Gebäuden, Höfen und Gärten enthält, die mit Allem, was verschwenderische Pracht zu vereinigen vermag, ausgestattet wurden.
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Quadratmeilen mit einer Anzahl von 20,051 Bewohnern angegeben. – Die Zahl der Ordensgeistlichen bestand in 45. – Die schöne Klosterkirche wurde zur Pfarrkirche des neuen Sprengels, welcher dermal 2930 Seelen umfaßt, bestimmt, und mit einem Pfarrer und zwei Hülfspriestern bestellt. Die ehemalige Marktpfarrkirche [St. Peter] wurde abgewürdigt, deren Thurm demolirt und das Gebäude in ein Schulhaus [heute: Touristikamt] umgewandelt. Der schöne Beamtenbau wurde der Sitz des königlichen Landgerichts, Rentamts und Forstamts, der Haupttheil des Oekonomiegebäudes Getreidespeicher des k. Rentamts [heute: Privatwohnungen]. Die eine starke Viertelstunde vom Kloster entfernte, in den Jahren 1702 - 1710 geschmackvoll neuerbaute Wallfahrtskirche zu Eldern, ursprünglich bei dem Entstehen der Wallfahrt i. J. 1466 von den dort befindlichen Ellern, d. i. Erlen so genannt, erhielt sich noch mehrere Jahre nach der Klosteraufhebung, bis in jüngster Zeit das wunderthätige Gnadenbild der heil. Mutter Gottes von dort in die Pfarr- und Klosterkirche zu Ottobeuren versetzt, und an deren linken Seitenaltare zur Verehrung ausgestellt wurde, wonach die Kirche zu Eldern gänzlich demolirt worden ist.
Nun verödeten allmählich die schönen Hallen des verlassenen Klosters, bis dieselben nach 32 Jahren wieder einer klösterlichen Bestimmung gewidmet wurden. – Nachdem König Ludwig I. die Wiederherstellung einiger Klöster des Benedictiner-Ordens in Bayern beschlossen hatte, errichtete er durch Verfügung vom 20. Decbr. 1834 zu Augsburg die Benedictiner-Abtei zu St. Stephan*), übergab derselben die dortige katholische Studien-Anstalt, Lyceum, Gymnasium und lateinische Schule nebst einem Seminar, und ließ zugleich in Verbindung mit dieser Abtei auch ein Benedictiner-Priorat zu Ottobeuren herstellen, und mit dem Erforderlichen gehörig ausstatten. Demselben wurde das ganze ehemalige Hauptconventgebäude nebst einem Theile des Oekonomiegebäudes eingeräumt und die dortige Pfarrei übergeben.
Am 16. Novbr. 1835 bezogen es als Prior und Pfarrvikar der Religios aus dem Kloster Maria - Einsiedeln in der Schweiz P. Gregor Waibel mit seinem Mitbruder Pater Columban Mösch und Pater Reginbald Reymann aus dem Kloster Muri in der Schweiz, dann Pater Wolfgang Schicker, Benedictiner von Metten. Von dem ehemaligen Stifte Ottobeuren trat nur der daselbst verbliebene Exconventual Pater Basil Miller (geb. d. 24. Oct. 1781, Priester d. 7. Oct. 1804) wieder in die neue Klostergemeinde. —
Dermal ist Ottobeuren das Noviziat für das Kloster St. Stephan zu Augsburg. Nach dem Augsburger Diöcesan-Schematismus von 1849 war zu Anfange dieses Jahres der Personalstand des Priorats und Noviziats 4 Priester und 2 Laien-Brüder, dann 4 Novizen und 1 Laien-Noviz.
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*) Als erster Abt der neuerrichteten Benedictiner-Abtei St. Stephan zu Augsburg wurde einer der noch übrigen jüngsten Exconventualen des ehemaligen Stiftes Ottobeuren ernannt, Barnabas Huber, geboren zu Gutenberg bei Kaufbeuren den 13. April 1778, welcher am 13. Nov. 1794 Profeß abgelegt hatte, am 30. Mai 1801 die Priesterweihe erhielt, und nach der Secularisation des Klosters in Dienste des Fürsten Fugger-Babenhausen als Hofmeister des jungen Prinzen getreten, sodann in der Folge in denselben als fürstl. Bibliothekar zu Babenhausen verblieben war. Am 5. Nov. 1835 erfolgte mit großer Feierlichkeit die förmliche Einsetzung des Klosters, und die Eröffnung der damit verbundenen Lehranstalten. Der Personalstand begann mit 31 Religiosen, darunter waren 20 aus Klöstern in den österreichischen Staaten und 1 aus der Schweiz, welche der für die Errichtung dieses Klosters besonder thätige Bischof zu Augsburg, Ignaz Albert von Riegg auf einer mit dem Abte Barnabas Huber zu diesem Zwecke unternommenen Reise geworben hatte.
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[Grafik Ulrich Schiegg, 1813 vom Lithograph Johann Michael Schramm angefertigt]
Besondere Erwähnung verdient als eine der Zierden des ehemaligen Reichsstifts Ottobeuren in seiner letzten Zeit der als Mathematiker und Astronom berühmte dortige Benedictiner
Ulrich Schiegg,
geboren am 3. Mai 1752 zu Gosbach an der Fils bei Wiesensteig in der im Jahre 1806 an Württemberg abgetretenen ehemaligen Bayerischen Reichsherrschaft gleichen Namens. Er trat in den Orden am 29. September 1771, und erhielt die Priesterweihe am 1. October 1775. Bald zeichnete er sich durch seine eifrigen Studien und seinen Reichthum an Kenntnissen und Einsichten aus. – Es wurde ihm das wichtige Amt des Stifts-Oekonoms übertragen. Er verfertigte nach Montgolfiers Erfindung (1783) den ersten Luftballon in Schwaben und Deutschland. Nach mehreren Versuchen im Kleinen [09.01.1784] ließ er am 22. Januar 1784 zum allgemeinen Vergnügen bei einem heftigen Winde einen größern Ballon steigen, noch einen aber, den größten und schönsten, am 16. Mai 1784, welcher in einer Entfernung von 3 Meilen im Reichsgräflich Truchseßischen Gebiete niedersank, und mit nachstehender genialer chronologischer Inschrift versehen war:
Deutsch in freier Uebersetzung:
DIsCIpVLa GaLLIae Frankreichs Zögling,
PraesVL SveVIae Der Erste in Schwaben,
OttenbVrae Liberta Ottobeurens Freigelassener
IngenIosa aerIs hospIta Durch sinnreiche Kunst Luftwanderer
perDItIs eXtInCtIsqVe VirIbVS, Ruhe ich hier ermüdet von der Reise,
heIC ..eX ItInere Lassa nach verlorner und erloschner
qVIesCo. Kraft.
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Professor Schiegg wurde von dem Reichsgrafen, welcher den Fremdling mit einem Glückwunsche und dem Anerbieten einer zu erwählenden Gnade zurückschickte, mit dem Bürgerrechte in dem Städtchen Wurzach beehrt, das er nachmals mit des Grafen Genehmigung an einen armen Eingebornen von Wurzach verschenkte. Er ließ die Druckschrift erscheinen: „Nachricht über einen ärostatischen Versuch, welcher in dem Reichsstifte Ottenbeuern vorgenommen worden den 22. Jänner 1784. Ottenbeuern, gedruckt durch Karl Wankenmiller. 8.“
In dem nämlichen Jahre wurde unter Schieggs Leitung das ganze Gebiet des Reichsstifts Ottobeuren geometrisch vermessen. Ueber alle Ortsgemeinden und Besitzungen wurden besondere geographische Karten und Pläne verfertigt, und die Grundbücher darnach eingerichtet. Als ein Zug auch seiner Kunstfertigkeit verdient noch erwähnt zu werden, daß er schon i. J. 1773 als junger Religios (in seinem Alter von 21 Jahren) sechs Sonaten von der Composition des dortigen ausgezeichneten Kirchen-Musikdirectors und Ordenspriesters Franz Schnitzer aus freiem Antriebe und ohne alle fremde Anleitung, als ersten Versuch auf 24 Kupfertafeln meisterlich gelungen, in Stich brachte, und dem Publikum mittheilte. Nachdem Schiegg mehrere Jahre in seinem Kloster Philosophie gelehrt hatte, wurde er i. J. 1791 an der Universität zu Salzburg als ordentlicher öffentlicher Professor der philosophischen Fakultät angestellt, wo er 10 Jahre lang in den Fächern der Mathematik, Astronomie, Physik und Landwirthschaft mit allgemeinem Beifall lehrte. Zu Salzburg gab er eine Abhandlung „über Reibung und Steifigkeit der Seile als Hinderniß der Bewegung bei Maschinen“ in Druck (bei Fr. Xav. Duyle 1796). Nach seinem Vorschlage wurde bei einigen Salzwerken eine bedeutende Holzersparung eingeführt. Auch bei vielen anderen Nebengeschäften, in denen er daselbst verwendet wurde, zeichnete er sich rühmlich aus. Im Herbste 1800 aber rief ihn der hochbejahrte Prälat Honorat, der Seiner in Verwaltungsgeschäften dringend bedurfte, ungeachtet wiederholter Gegenvorstellungen von Seite der Universitäts-Vorstände und selbst des Fürsterzbischofs, in das Kloster zurück, stellte ihn als Großkellner an, und übertrug ihm die Aufsicht über alle Stifts-Revenüen, und die Oberleitung aller Oekonomie-Aemter des Klosters, in welchem Wirkungskreise er bis zur Secularisation verblieb und sich um das Stift große Verdienste erwarb.
Bei Auflösung des Klosters Ottobeuren erhielt er i. J. 1803 den Ruf als Astronom an die Sternwarte nach München. Da unterzog er sich der Theilnahme an den Arbeiten des topographischen Bureaus, und erhielt von der Staatsregierung verschiedene wichtige Aufträge in Gegenständen des mathematischen Faches, z.B. unter Andern auch den der Untersuchung und Adjustirung der Münchner Original- oder Mutter-Maße und Gewichte und auf deren Grunde hiernach der genauen Reduction der verschiedenen Maße und Gewichte in den bayerischen Provinzen. Sehr einflußreich wirkte er auf das i. J. 1804 zu München unter der Firma ,,Utzschneider, Reichenbach und Liebherr“ gegründete berühmte mathematisch-mechanische Institut, das seinem Beirathe sehr Vieles verdankte. Unterm 10. März 1805 wurde Schiegg zum öffentlichen ordentlichen Professor der Astronomie und höhern Mathematik an der Universität zu Würzburg ernannt; Er trat aber dieses Lehramt nicht an. König Maximilian Joseph beauftragte ihn durch Rescript vom 5. December 1805 mit dem Geschäfte der Vermessung der bayerischen Provinzen in Franken. Unermüdet förderte er mit größter Umsicht die trigonometrischen Vorarbeiten. Besonders merkwürdig ist die von ihm unter Beihülfe des Vermessungs-Adjuncten, k. Forsttaxators und nachherigen Steuerrathes Thaddä Lämmle mit ganz ausgezeichneter Genauigkeit im Jahre 1807 ausgeführte Messung der Basis von 47273,44 bayerischen Fußen zwischen Nürnberg und dem Dorfe Bruck nächst Erlangen, – deren Endpunkte er mit zwei ganz in die Erde vergrabenen Sandsteinen bewahrte. Diese Punkte sind auf Metall gesetzt, das mit Blei in die Steine eingegossen ist, und bedeckt mit einer runden Messingplatte, auf welche Professor Schiegg folgende Aufschrift stechen ließ:
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Bei Nürnberg Bei Bruck
am Thurme der St. Johannis-Kirche: am Thurme der Dorfkirche:
Meta australis Meta borealis
Baseos
quam ager inter turrim Sti Joannis Norimbergae
et eam in pago Bruck excipit
Maximiliani Josephi
ʘ
Bavariae Regis jussu
abs
Udalrico Schiegg et Thaddaeo Laemmle
Mens. Septembri et Octobri
MDCCCVII
ferreis regulis
heic
terminata.
Deutsch frei übersetzt:
Bei Nürnberg: Bei Bruck:
Südlicher Endpunkt Nördlicher Endpunkt
der Basis.
Auf dem Felde zwischen dem St. Johannes Thurme zu Nürnberg,
und dem Thurme in dem Dorfe Bruck
auf Marimilian Josephs
ʘ
Königs von Bayern Befehl
gemessen von
Ulrich Schiegg, und Thaddä Lämmle
in den Monaten September und October
1807
mit eisernen Meßstäben.
Diese Basismessung Schieggs diente sowohl zur Herstellung des großen Dreieck-Netzes in Franken, als zugleich zur Verification der früheren Messung derjenigen Haupt-Basis von 74192,6 bayerischen Fußen, welche bereits i. J. 1801 in der Richtung des nördlichen Thurmes der U. L. Frauen Kirche [Unser Lieben Frau, Frauenkirche] zu München zwischen Ober-Vöhring bei München und Aufkirchen bei Erding unter der Leitung des französischen Obersts und Ingenieurs-Geographs Bonne zum Zwecke der von Frankreichs erstem Consul eingeleiteten Herstellung einer militärisch topographischen Karte von Bayern ausgeführt wurde. Auf diesen beiden Grundlinien ruht die ganze Reihe der Haupt-Dreiecke der Landesvermessung in Bayern. Auf dieselben gründen sich sonach die sämmtlichen geographischen Messungen. Alle andern Längen sind bis auf das kleinste Detail von denselben hergeleitet. Die Orientirung des Ganzen ist durch die von dem französischen Astronomen Henry, und nachhin von dem Professor Schiegg vorgenommenen Azimuthal-Beobachtungen bewirkt worden. Schiegg hat eine große Anzahl der Winkel gemessen.
Professor Schiegg war ordentliches Mitglied der Königl. Akademie der Wissenschaften (der mathematisch-physikalischen Classe) zu München. – Er wurde mit dem Titel als königlicher Steuerrath bei der am 27. Januar 1808 auf Antrag des verdienstvollen k. geheimen Rathes Joseph von Utzschneider für das definitive Steuer-Rectifications-Geschäft errichteten, dem K. Finanzministerium unmittelbar untergeordneten K. Steuer-Vermessungs-Commission, nachherigen K. Steuer-Kataster-Commission, angestellt, und hatte um die Gründung und Leitung dieses Institutes mit Herrn von Utzschneider die wesentlichsten Verdienste, wie es dieser selbst als Abgeordneter zur Ständeversammlung des Königreichs Bayern in derselben öffentlich feierlich anerkannt hat i. J. 1822 in seinem Vortrage über die Staatsausgaben (Beil. Band V. S. 417) und i. J. 1828 in den Verhandlungen im Bezuge auf das System des Steuer-Katasters (Bd. IX. S. 66 u. 67) . In Beziehung auf diesen Gegenstand sprach
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nach Anrühmung der Verdienste Utzschneiders um das Steuer-Kataster-Wesen der Abgeordnete Freih. von Westernach folgende Worte :
„Er (Hr. v. Utzschneider) wird mir erlauben, daß ich neben ihm seinen Freund nenne –; ja ich bin überzeugt, es muß seinem Zartgefühle wohlthun, einige Zweige des Lorbeeres, der so hell an seiner Stirne glänzt, mit ihm zu theilen. Es ist der große Mathematiker und Astronom Ulrich Schiegg, Benedictiner aus dem vormaligen Reichsstifte Ottobeuren.“ (Verhandl. 1828. Bd. VIII. S. 479.)
Leider wurde Professor Schiegg durch allzufrühen Tod schon am 4. Mai 1810 in einem Alter von 58 Jahren aus seinem neuen Wirkungskreise gerissen. Während er sich im Jahre 1807 in Landes-Vermessungs-Geschäften in Franken befand, traf ihn vor dem Gasthause zu Ehingen bei Wassertrüdingen am Hesselberge, auf welchem er ein trigonometrisches Signal errichtet hatte, in Folge Scheuwerdens der Pferde das Unglück des Umsturzes seines Wagens, wobei er durch den Druck des an seine Seite gestellten Instrumentenkastens eine sehr schwere gefährliche Quetschung an den Rippen erlitt, von welcher er zwar in einigen Wochen so weit geheilt war, daß er bald wieder in seinen Geschäften arbeiten konnte, deren Folgen er aber in ihren Nachwehen seine ganze noch übrige kurze Lebenszeit zu fühlen hatte, bis er nach fortwährenden Brustbeschwerden einem langwierigen Lungenleiden vollends unterlag. Gutmüthigkeit war einer der Hauptzüge des sanften Charakters dieses anspruchlosen Mannes, dessen Bescheidenheit sein tiefes Wissen barg. So wie er mit größter Seelenruhe dem Herannahen seines Lebensendes entgegensah, nahm er auch ein paar Tage vor demselben von seinen um ihn versammelten Freunden herzlichen Abschied, und ließ jeden derselben die ihm zugedachten Andenkens-Stücke, z.B. seine astronomische Secunden-Taschenuhr, Fernröhre, Compaß, Tabatiere etc. etc. unmittelbar aus seiner Hand in Empfang nehmen. Der Lithograph Joh. Mich. Schramm (gebürtig zu Sulzbach, gest. als Revisor im königlich-topographischen Bureau zu München i. J. 1835) lieferte i. J. 1813 sein wohlgetroffenes Porträt mit ganz gelungenem Ausdrucke des Charakters dieses schlichten Mannes in seinem einfachen Gewande. Die obige Vignette ist demselben nachgebildet. Eine von dem Bildhauer Joseph Kirchmayer verfertigte, sehr ähnliche Gips-Büste wurde in einer Nische der Arkaden des allgemeinen Gottesackers zu München, wo seine Gebeine ruhen, aufgestellt; nach mehreren Jahren verschwand sie aber in Folge der Erschütterung durch die Explosion der nahegelegenen Pulvermühle.
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Maurus Feyerabend, gebürtig zu Schwabmünchen d. 7. Octbr. 1754. Priester den 6. Jan. 1778, † den 8. März 1818, welcher bei Auflösung des Stiftes Ottobeuren Prior, und vorher Schul-Präfect daselbst war, schrieb in 4 starken Octavbänden: ,,Des ehemaligen Reichsstiftes Ottenbeuern Benedictiner-Ordens in Schwaben sämmtliche Jahrbücher in Verbindung mit der allgemeinen Reichs- und der besondern Geschichte Schwabens, diplomatisch, kritisch und chronologisch bearbeitet von Pater Maurus Feyerabend, Benedictiner und Prior des ehemaligen Reichsstifts.“
Ottenbeuern, gedruckt durch Joh. Bapt. Ganser 1813 bis 1816.
Der I. Band umfaßt den Zeitraum vom J. 764 bis 1106. Der II. vom J. 1106 bis 1519. Der III. vom J. 1519 bis 1740. Der IV. vom J. 1740 bis Ende 1802. Dem letzten Bande ist eine lithographirte, vortreffliche Karte der Territorialbesitzungen des ehemaligen Reichsstifts Ottobeuern nach dem Entwurfe des Professors Ulrich Schiegg, und eine Abriß-Zeichnung der Gebäude dieses Stifts nebst Kirche beigefügt.
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Im vorigen Jahrhunderte erschien anonym (verfaßt von dem Benedictiner Pater Augustin Bayrhammer) eine Beschreibung von Ottobeuren unter dem Titel: „Das von der gottseligen Milde Sylachi gestiftete durch weise Regierung würdigster Vorsteher erhaltene, durch ausnehmende Freigebigkeit der höchsten und ansehnlichen Gutthätern verherrlichte tausendjährige Ottobeyren; oder kurze Beschreibung der Stiftung, Erhaltung und Wachsthum des uralten und befreiten Reichsstifts Ottobeyren zum Druck befördert; da die neuerbaute Kirche feierlichst eingeweihet wurde in dem Jahre 1766“. Ottobeuren, gedruckt bei Karl Joseph Wankenmiller. fol. Mit einem Abriß des Reichsstifts und Gotteshauses. (Kupferstich, Klauber.) fol.
[Ende dieser Abschrift]
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Auf dem oben abgedruckten Artikel über Ulrich Schiegg beruht ein weiterer aus dem Jahr 1890.
Literaturzitat:
Bauernfeind, Carl Maximilian von: Schiegg, Ulrich, S. 180 - 183 in: Scheller, Karl Schmidt: Allgemeine Deutsche Biographie, 31. Band. Auf Veranlassung seiner Majestät des Königs von Bayern, herausgegeben durch die historische Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften, Verlag von Dunckler und Humblatt, Leipzig, 1890, 795 S.
Digitalisat
Hier wiederum die Abschrift:
Schiegg: Ulrich
Schiegg, geb. am 3. Mai 1752 zu Gosbach an der Fils bei Wiesensteig (damals noch bairisch), gestorben am 4. Mai 1810 zu München als Rath der K. Steuerkatastercommission daselbst, um welche er sich theils durch seine genauen geodätisch-astronomischen Bestimmungen für die Landesvermessung theils durch vorzügliche wirthschaftliche Arbeiten für die Einwerthung der Grundstücke nach ihrer natürlichen Bodengüte (Bonitirung und Classification) große Verdienste erworben hat. Nach seinem Entwicklung- und Bildungsgange war ein solcher Abschluß des Lebens Ulrich Schiegg's nicht zu erwarten. Denn als der Sohn armer Bauersleute trat er nach vollendeten Gymnasialstudien im Septbr. 1771 in dem Reichsstifte Ottobeuern als Religiose des Benedictinerordens ein, wo er sich durch Fleiß, Eifer und Wohlverhalten nach vier Jahren die Priesterweihe und bald darauf das Amt eines Stiftsökonomen erwarb. Seine natürliche Begabung brachte es mit sich, daß er neben seinen theologischen Studien besonders ernstlich auch jene der Mathematik und Physik mit ihrer Anwendung auf Astronomie betrieb; wofür als Beweis die Thatsache angesehen werden kann, daß er wenige Monate nach Erfindung des Luftballons durch Montgolfier in Paris zuerst im Januar 1784 einen kleineren und dann am darauf folgenden 16. Mai einen größeren von ihm selbst verfertigten Ballon zum allgemeinen Vergnügen der Einwohner von Ottobeuern und Umgebung in die Luft aufsteigen ließ. Der große mit einer von Schiegg verfaßten lateinischen chronologischen Inschrift versehene Luftballon fiel drei Meilen von Ottobeuern entfernt in dem reichsgräflich Truchseß’schen Gebiete nieder und wurde von dessen Besitzer mit einem Glückwunsche und dem Anerbieten des Bürgerrechts von Wurzach an seinen Absender zurückgeschickt. Dieses bald darauf urkundlich verbriefte Recht hat Schiegg später, mit des Grafen Truchseß Genehmigung, an einen unbemittelten Eingeborenen des Orts verschenkt, seinen Versuch aber mit dem kleinen Ballon beschrieb er in einer gedruckten Abhandlung: „Nachricht über einen ärostatischen Versuch, welcher im Reichsstifte Ottobeuern am 22. Jänner 1784 vorgenommen worden ist“ (Ottobeuern, bei K. Wankenmüller).
In dem nämlichen Jahre 1784 begann unter Schiegg's Leitung eine topographische Aufnahme des ganzen zum Reichsstifte Ottobeuern gehörigen Gebiets, bei welcher für alle Ortsgemeinden und Besitzungen besondere Flurpläne und Grundbücher hergestellt wurden. Nach Vollendung dieser immerhin sehr beachtungswerthen Arbeit erhielt S. von seinem Prälaten Honorat den Auftrag, für die Religiosen des Klosters Philosophie zu lehren, und als er sich hier als ein sehr befähigter Docent erwiesen hatte, wurde er im Jahre 1791 an die Universität Salzburg als öffentl. ordentlicher Professor der philosophischen Facultät berufen, um an ihr das Lehramt der Mathematik und Physik nebst Astronomie auszuüben; eine Aufgabe, die er neun Jahre lang mit allgemeinem Beifall löste. In jener Zeit (und zwar 1796) veröffentlichte er bei Duyle in Salzburg eine zweite Abhandlung „Ueber Reibung und Steifigkeit der Seile als Hinderniß der Bewegung bei Maschinen“, die deutlich erkennen ließ, daß S. auch in der theoretischen Mechanik sehr gründliche Kenntnisse besaß. Im Jahre 1800 wurde er, trotz den Gegenvorstellungen der Universität und selbst des Erzbischofs von Salzburg, von seinem bejahrten Prälaten, der seiner in Verwaltungsgeschäften dringend bedurfte, wieder in das Kloster zurückgerufen und ihm die Aufsicht über alle Stiftsrevenuen und die Oberleitung aller Oekonomieämter übertragen. In dieser Stellung verblieb er jedoch nicht lange; denn im Jahre 1803 wurde das Reichsstift Ottobeuern mit vielen anderen Klöstern in Baiern säcularisirt und S. als Astronom an der im nordwestlichen Thurme des ehemaligen Jesuitencollegiums eingerichteten akademischen Sternwarte, welche zugleich dem topograpischen Bureau zu dienen hatte, angestellt. Gleichzeitig wurde er zum Mitgliede der Akademie der Wissenschaften ernannt und als Professor reactivirt.
Als Astronom besorgte er vor allem die Fortsetzung der von seinem Vorgänger im Amte, dem französischen Ingenieurgeographen Henry begonnenen astronomischen Bestimmungen für das Dreiecksnetz der topographischen Landesaufnahme, und als Mathematiker und Physiker übernahm er gerne auch andere wichtige Aufträge der Staatsregierung, wie z. B. die Regelung der baierischen Maße und Gewichte. Mit Reichenbach und Liebherr bereits befreundet, stand er diesen hochgeschätzten Mechanikern mit seinem wissenschaftlichen Rathe bei, als sie im Jahre 1804 mit Joseph Utzschneider das nach allen dreien benannte mechanische Institut gründeten; sowie er es auch war, der den von Utzschneider ihm übergebenen und nachmals als Optiker so berühmt gewordenen Glaserlehrling Joseph Fraunhofer in Mathematik und Physik mit dem besten Erfolge unterrichtete. Als S. zu Anfang des Jahres 1805 noch mit der Fortsetzung seiner zur Orientirung des vom topographischen Bureau angelegten Hauptdreiecknetzes dienenden astronomischen Beobachtungen beschäftigt war und eben die Polhöhe seiner Sternwarte bestimmt hatte, überraschte ihn am 10. März des genannten Jahres die Enthebung von seinem ihm liebgewordenen Posten und gleichzeitig die Ernennung zum ordentlichen öffentlichen Professor der Astronomie und höheren Mathematik an der Universität Würzburg, womit der Auftrag verbunden war, die astronomischen Instrumente der Sternwarte sofort an den schon im Vorjahre aus Göttingen berufenen Astronomen Seyffer auszuliefern. Diese Verfügung des kurfürstlichen Ministeriums schmerzte den verdienstvollen Mann so sehr, daß er sich entschloß, das ihm übertragene Lehramt in Würzburg nicht anzunehmen und lieber in den Ruhestand zu treten, als dem praktischen Messungsgeschäfte zu entsagen. Unter diesen Umständen erschien ihm eine allerhöchste Verfügung des Kurfürsten Max Joseph vom 5. Decbr, 1805, welche ihn mit der Leitung der trigonometrischen Operationen der fränkischen Gebietstheile Baierns beauftragte, als eine wahre Wohlthat. Unermüdlich förderte er mit dem für die Markgrafschaft Ansbach von König Friedrich Wilhelm III. schon vorher abgeordneten preußischen Commissär J. G. Soldner (siehe daselbst) die Vorarbeit zur Triangulation Frankens, bis dieselbe durch die für Preußen unglücklich ausgegangenen Schlachten von Jena und Auerstädt unterbrochen und Soldner nach Berlin zurückgerufen wurde. Im Jahre 1807, als Joseph v. Utzschneider wieder in den Staatsdienst des nunmehrigen Königreichs Baiern eingetreten war, und zweifelsohne auf dessenVeranlassung erhielt S. den ehrenvollen Auftrag, im Anschlusse an seine trigonometrischen Arbeiten in Franken und für dieselben auf der Ebene zwischen Nürnberg und Bruck bei Erlangen, die er selbst als das geeignetste Terrain ausgewählt hatte, eine Grundlinie zu messen. Diese Linie liegt in der Verticalebene, welche durch die Axen der Kirchthürme von St. Johannis bei Nürnberg und des Pfarrdorfs Brück geht, und ist fast zwei Meilen oder vierzehn Kilometer lang.
Bei ihrer Messung (im September und October 1807) kam ein in der Reichenbach’schen Werkstätte angefertigter und nach deren Leiter benannter, theilweise aber von S. erfundener Basisapparat zur Anwendung, der auf dem Princip beruht, die eisernen Meßstangen bei der Längenbestimmung nicht dicht aneinander zu reihen, sondern in kleinen Abständen von einigen Millimetern, welche mit dünnen Glas- oder Stahlteilen gemessen werden können. Das Tagebuch über die doppelte Messung und die Berechnung ihrer waagrechten Länge zwischen den Endpunkten aus den einzelnen Meßlagen bildet zwei stattliche Foliobände, welche in den Acten der K. Steuerkatastercommission zu München verwahrt und nur nach ihren Hauptergebnissen mit den astronomischen Beobachtungen Schiegg's in dem von der genannten K. Commission und dem K. topograpischen Bureau herausgegebenen Werke „Die Baierische Landesvermessung in ihrer wissenschaftlichen Grundlage“ (München 1873) veröffentlicht sind.
Nach Vollendung der fränkischen Basismessung und noch während ihrer Berechnung aus den Beobachtungen wurde S. am 27. Januar 1808 unter Verleihung des Titels eines K. Steuerraths zum Mitgliede der neuerrichteten und vom Geheimrath Joseph v. Utzschneider geleiteten Steuervermessungscommission ernannt und durch Berufung des in Georgenhof bei Feuchtwangen in Baiern geborenen, damals in Berlin weilenden Astronomen und Geodäten J. G. Soldner als eines weiteren Mitglieds der bezeichneten Commission von den anstrengenden trignometrischen Messungen namentlich deshalb entlastet, weil er einige Monate vor Beginn der Basismessung sich so sehr beschädigt hatte, daß er das Geschäft des Triangulirens nicht mehr versehen konnte: S. wurde nämlich als er im Begriff war, mit einem neben ihm stehenden großen Reichenbach’schen Theodolithen auf den Hesselberg zu reisen, um dort Winkel zu messen, vor dem Gasthause zu Ehingen bei Wassertrüdingen durch das Scheuwerden der Pferde so unglücklich umgeworfen, daß der auf ihn gefallene schwere Instrumentenkasten eine sehr gefährliche Quetschung an den Rippen und damit eine Rippenfellentzündung zur Folge hatte. Konnte er auch nach mehreren Wochen wieder arbeiten, so hat er sich von dem unglücklichen Falle doch nie mehr erholt; im Gegentheile knüpfte sich an die genannte Entzündung, wie so oft, ein schweres Lungenleiden, dem er am 4. Mai 1810, einem Tag nach seinem 58. Geburtsfeste, unterlag. Dem Herannahen seines Lebensendes sah er mit größter Seelenruhe entgegen. Einige Tage zuvor nahm er von seinen um ihn versammelten Freunden herzlichen Abschied und überreichte jedem von ihnen ein Andenken aus seinem Besitze an Fernröhren, Uhren, Dosen u. dgl.
Er ist im südlichen Friedhofe zu München begraben und durch Aufstellung einer von Joseph Kirchmayr angefertigten Gypsbüste in den Arkaden jenes Kirchhofs geehrt worden. Dieses Andenken wurde jedoch bei Gelegenheit der Explosion einer nahegelegenen Pulvermühle zerstört, und so gibt uns nur noch ein Holzschnitt in dem unten genannten Kalender (Seite 71) eine ungefähre Vorstellung von dem Aussehen des schlichten Mannes, über dessen Wesen und Leistungen ein Zeitgenosse und College, der Generalsecretär der K. B. Akademie der Wissenschaften Friedrich Schlichtegroll, in seinem am 12. October 1810 erstatteten Jahresberichte sich wie folgt ausgesprochen hat: „Professor Schiegg war einer der gründlichsten Gelehrten seines Fachs. Sein Geist war gereift hinter den stillen Mauern seiner Benedictinerabtei. Aus ihnen nahm er die Neigung, in Stille und Verborgenheit seiner Pflicht zu leben, mit in die Welt, und daher rührte seine Abneigung, sich einen schriftstellerischen Ruhm zu erwerben. Die aber seine Schüler gewesen sind und die als vertraute Freunde seiner sokratischen Unterredungen genossen haben, in deren Herzen hat er sich mit seinen probehaltigen ächten Verdiensten ein ewiges Denkmal gestiftet.“
[Hinweis am Ende auf die verwendeten Quellen:]
Kalender für katholische Christen auf das Jahr 1850. Bei J.E. Seidel – Jahresberichte der königlichen Akademie der Wissenschaften von 1807 bis 1813 – Acten der Königlich Baierischen Steuercatastercommission über die Formation dieser Centralstelle.
[Ende der Abschrift, Helmut Scharpf, 11/2023]