1938 – Frater Michael Müller malt den „Türken-Pavillon“

Titel

1938 – Frater Michael Müller malt den „Türken-Pavillon“

Beschreibung

Im Volksmund wird das oktogonale ehemalige Sommerhaus auf der Nordwestseite des Amtsgebäudes noch heute „Türken-Pavillon“ genannt. Auf der Spitze über dem Zeltdach prangte 200 Jahre lang ein Halbmond, bis dieser im Frühjahr 1959 verschwand.

Das barocke Ämtergebäude als Teil des Gesamtkomplexes um die Benediktiner-Abtei in Ottobeuren wurde von Simpert Kramer geplant und in den Jahren 1731 bis 1742 errichtet. Zur Zeit des Klosterstaats – vor der Säkularisation – standen darin fünf Wohnungen zur Verfügung, in denen wichtige Persönlichkeiten mit ihren Familien wohnten: ein Arzt, Richter, hohe Beamte und der Kanzler. Letzterer war nach dem Abt der ranghöchste Vertreter Ottobeurens; so kommt es nicht von ungefähr, dass er nicht nur in der Mitte des Gebäudes wohnte, sondern – zum Abschluss des Gartens hin – als einziger ein Sommerhäuschen hatte. Man erkennt es auch auf der bekannten Federlithographie von Haelmle von 1813 (nach Klauber um 1766).

Die denkmalgeschützte Anlage stand ab 2001 zunächst leer, bis 2010 entstanden nach einer Komplettsanierung 28 Eigentumswohnungen mit einer Gesamtwohnfläche von 2.350 m². In der Liste der Baudenkmäler in Ottobeuren wird Kramer auch im Zusammenhang mit dem Garten genannt, „wohl im 18. Jahrhundert“ sei er entstanden; das Sommerhaus schließt an die Gartenmauer an.

Aus dem Geschichtsunterricht kennen wir die Belagerung Wiens (1683). Die sogenannten Türkenkriege waren damit aber noch längst nicht beendet. In der Musik griff man die Klänge des osmanischen Reichs auf – vgl. die sogenannte „Janitscharen-Musik“ Mozarts; Adelige nahmen über exotische Kleidungs-Accessoires Bezug. Und wie das Beispiel in Ottobeuren zeigt, fand die Zeit der Bedrohung durch die Türken auch in der Architektur ihren Ausdruck. Sogar im Kloster selbst finden sich solche Spuren: Den Angeln der Türen bei der Durchfahrt zum Kaisersaal sind „Türkenköpfe“ aufgesetzt.

Zur Zeit des Klosterneubaus war die Türkengefahr imminent. Eine Fundstelle aus dem 1959 herausgegebenen Buch „Der Herr mit den drei Ringen“ von Arthur Maximilian Miller belegt dies eindrücklich. Bezogen auf die gotische Kindelmann-Kirche heißt es in der vierten Auflage (von 2002) auf S. 288:
Vom Turm dröhnte die Türkenglocke, die man seit Beginn des neuen Türkenkrieges alle Mittag ertönen ließ, um die Gläubigen an die große Gefahr zu mahnen, die der Christenheit durch den Ansturm der Ungläubigen drohte, ...“

Bruder Michael Müller (*26.01.1905, Altach, †27.07.1980, Puerto de la Cruz auf Teneriffa) malte das Motiv 1938. Franziska Hollo, Enkelin der früheren Engel-Wirtin Luise Baur (*28.06.1911 in Ottobeuren, †17.01.1995), erzählte am 24.06.2021, dass der Benediktiner-Frater gerne im Engel bei ein, zwei Bier saß. Vermutlich hatte er einmal kein „Sackgeld“ bei sich und die Wirtin – die „Engelwirts-Luis“ – bot ihm an: „Na molscht mer halt amol a Bild!“
Von Frater Michael finden sich etliche Bilder im virtuellen Museum.

Wer 1959 die hübsche Zeichnung angefertigt hat – sie ist im Zeitungsarchiv der Gemeinde eingeklebt – ist nicht bekannt. In deutscher Schrift steht darunter:
„Seit dem Frühling 1959 fehlt der Halbmond auf dem Sommerhaus. 200 Jahre war er dessen Zier.

Wer etwas zum Verbleib des Halbmondes sagen kann, bitte melden! Mitte der 1950er Jahre zogen hier die Pfandfinder ein, heute bildet eine metallene Spitze mit einer Art Wetterfahne den oberen Abschluss des Pavillons. Die Farben des Fähnchens erinnern an die Nationalfarben des Kaiserreichs.

Ein Foto zeigt die Ostseite des Amtsgebäudes am 24.06.2021, links die 2007 von Erwin Roth geschaffene Skulptur „Tre Pellegrini“ (drei Pilger, die zunächst am oberen Abschluss der Basilika-Treppe stand); im Gras sieht man bereits einen Stein des zukünftigen Planetenwegs. Die Fotos vom Pavillon wurden am Abend des 25. Juni 2021 gemacht.

Auch in der Basilika finden wir eine Referenz mit Halbmond: in der zentralen Pfingstkuppel bei einer Personengruppe, die Asien als Erdteil symbolisieren soll. (Foto vom 09.05.2019).

Passend zum Thema hier die Titelseite der Ausgabe des Ottobeurischen Wochenblatts Nr. 1 vom 07.01.1830 mit einem Schmähgedicht auf die Osmanen. Vermutlich bezieht sich das abgedruckte Gedicht („Nachruf an das verflossene Jahr 1829“) auf den „Russisch-Türkischen Krieg“ 1828/29, den die Osmanen verloren hatten und der am 14.09.1829 mit dem „zweiten Frieden von Adrianopel“ endete. Hier der Wortlaut:

Ottobeurisches Wochenblatt Nr. 1, 7. Jänner 1830 (07.01.1830)

Nachruf an das verflossene Jahr 1829.
Hunderte der Jahre sind entflohen,
Aber keines ihm an Größe gleich,
Denn zernicht hat es des Osmanns Drohen
Und gestürzt des Moslemiten-Reich;
Der, ach nicht der Christen Säugling' schonte,
Tausend mordete mit kaltem Blut;
Und der Mutter tiefen Schmerzen hohnte,
Seiner Rache wilde Tyger-Wuth.

Ein Genügen fand das Menschen-Würgen
Dieser rohen Ungeheuer nicht.
Bis in ihm die Stunde schlug den Türken,
Da Gott wendete sein Angesicht,
Von des Halbmond's prunkenden Moscheen;
Muth und Fassung ihrer Brust entwich,
Vor des heil'gen Kreuzes Fahne wehen;
Und ihr Koran ließ sie nun im Stich.

So, so rächte sich das Blut der Christen,
In dem dreymal hoch geprieß'nen Jahr;
Nach dem schnaubend die Barbaren dürsten,
Denen Morden eine Wollust war.
Doch gelähmt, in Schwäche hingesunken,
Ist nun Mahometens stolzer Thron;
Und den Gräuel-Scenen der Halunken
Folget nun der Schande Schmach zum Lohn.

So voll Glanz stand es am Scheidewege,
Seiner Ruhmbekrönten Tagenlauf,
Und es hob des Krieges harte Schläge
In des Friedens Palmen wieder auf.
Darum zieh' gesegnet es hinüber;
Wo ein reinres Licht die Stern' erhellt.
Und die Menschen sich ach lieben lieber,
Als auf dieser eitlen Sinnen-Welt.

Auch du junges Jahr erhalte Allen
Das, was es zum Wohle uns verlieh,
Gieb, daß stets im Frieden wir hier wallen,
Uns’re Brust von Dank zu Gott erglüh'.
Schenke deinen Segen jedem Heerde,
Gieb den Kindern ach ein frommes Herz,
Daß der Eltern Mühe Segen werde;
Heil' und stille aller Leiden Schmerz.

O, gewähre Herr uns diese Bitte,
Nimm in Obhut unser Vaterland,
Und in seiner goldnen Auen Mitte,
Segne Gott des Königs weise Hand.
Segne du des Bürgers Fleiß und Mühen,
Segne du den Nähr- und Handelsstand,
Lasse Kunst und Wissenschaften blühen;
Und erhalt der Eintracht schönes Band.

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Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem osmanischen Reich sind längst Vergangenheit. Durch das Anwerbeabkommen mit der Türkei vom 30. Oktober 1961 bis zum Anwerbestopp 1973 kamen laut Wikipedia 867.000 Türken nach Deutschland und - nun schon zwei, drei Generationen später - leben noch viele Türken hier, auch in Ottobeuren. Der Döner ist heute so selbstverständlicher Teil des gastronomischen Angebots wie Pizza, Gyros mit Tzatziki oder Frühlingsrollen, wie sich am Beispiel von Familie Bozdag zeigt.

Auf künstlerischem Gebiet sei auf Ercan Dündar (*19.07.1957, nahe Ankara, † 21.07.2018, Ottobeuren) verwiesen. Sein Beispiel zeigt jedoch, dass sich politische Verhältnisse ändern können. Vor seiner letzten Reise in seine Geburtsheimat bat er, den Eintrag im virtuellen Museum vorübergehend aus dem Netz zu nehmen, aus Angst davor, wegen seiner Kunst und einiger darin enthaltenen Botschaften (u.a. zu den politischen Unruhen im Gezi-Park in Istambul) in der Türkei in Schwierigkeiten zu geraten.

Eine interessante Statistik zum Abschluss: Am 30.12.2020 lebten 35 Türkinnen und Türken in Ottobeuren, insg. waren es 891 Ausländer.
Nach Größe geordnet: Rumänien: 152 / Ungarn: 109 / Polen: 77 / Kosovo: 60 / Italien: 55 / Kroatien: 50 / Türkei: 35 / Afghanistan und Bulgarien: je 25 / Österreich: 20 / Syrien: 19 / Griechenland und Russland: je 17 / Nigeria: 16 / Mazedonien: 15 / USA: 14/ Slowakei: 12 / Vietnam: 9 / Spanien und Thailand : je 8 / Portugal und Serbien: je 7 / Bosnien-Herzegowina, Tschechien, Ukraine: je 6 / Eritrea, Estland, Somalia: je 5 / Schweiz, Sierra-Leone, Südafrika: je 4 usw. (Quelle: Auskunft Einwohnermeldeamt Ottobeuren, 30.06.2021)

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Repros, Fotos und Zusammenstellung: Helmut Scharpf, 06/2021

Urheber

Bruder Michael Müller, Helmut Scharpf

Quelle

Kranziska Hollo, Gemeindearchiv, Helmut Scharpf

Verleger

Helmut Scharpf

Datum

1938-06-16

Rechte

gemeinfrei