1904 – Dr. Baumgarten berichtet in einem Buch von drei Kneippkur-Vortragsreisen
Titel
Beschreibung
Das Buch ist so selten wie seltsam: Zwischen Ende Oktober 1903 und Ostern 1904 war Dr. med. Alfred Baumgarten (29.07.1862, Barmen - 30.11.1924, Bad Wörishofen), einst zusammen mit Prior Bonifaz Reile engster Weggefährte Sebastian Kneipps, vier Mal auf Vortragsreisen, die ihn bis nach Ungarn und Slowenien (ehemals K. und K.-Monarchie) führten. In 41 Städten sprach er über die Kneipp'sche Sache, an keiner Stelle des Besuches jedoch wird Sebastian Kneipp als Person und Freund erwähnt, sein Erzrivale Reile bleibt ebenfalls außen vor. Immerhin hatte Baumgarten mit seiner 1898 herausgegebenen Kneipp-Biographie eine führende Rolle eingenommen.
Noch ein kurzer biografischer Abstecher: Nach eigener Aussage war Baumgarten, der sich in Koblenz als Arzt etabliert hatte, durch Zufall mit der Kneippkur bekannt geworden. Am 12. August 1892 war er – zwei Wochen nach seinem 30. Geburtstag und nur wenige Tage nach dem 40. Priesterjubiläum von Kneipp – mit der Postkutsche in Wörishofen eingetroffen. Mitte Februar 1894 war er bei der Romreise Kneipps dabei, wo sein Bruder Dr. jur. Paul Maria Baumgarten die Priesterweihe empfing, begleitet auch von der Mutter Lina Baumgarten)
Zurück zum Buch: Selbst die Inhalte von Baumgartens Gesundheitsvorträgen bleiben im Dunkeln. Seine „Propaganda-Tätigkeit“ stand „im Interesse der Ausbreitung des Kneipp‘sehen Heilverfahrens als auch im Interesse des Kurortes Wörishofen“. Auf S. 136 zitiert er sich mit der Zielvorgabe, „Wenn nun in der kommenden Saison nicht wenigstens 500 Gäste mehr nach Wörishofen kommen, dann bin ich nicht zufrieden.“ (Vielleicht kamen die gewonnenen Gäste ja vornehmlich in das eigene „Sanatorium Wörishofen“!)
Baumgarten ließ sich – angeblich – regelrecht betteln, dass er als VIP zu Vorträgen kam: Zitat S. 79: „Da die Vorbereitungen für derartige Propaganda-Unternehmungen außerordentlich viel Arbeit und nicht unerhebliche Kosten verursachen, so ließ ich es immer wieder gut sein, bis endlich die Freunde der Sache aus der österreichisch-ungarischen Monarchie mich gebieterisch an meine Pflicht, wie sie sagten, mahnten.“
Eine eingehende Analyse des Buches lässt vermuten, dass es ihm vornehmlich um seine eigenes Ego ging. Kneipp sprach bei seinen vielen Vortragsreisen (zwischen 1890 und 97) in den größten Sälen und erreichte dort bis zu 5.000 Menschen, Baumgarten in der Regel nur zwischen 200 und 400 Besucherinnen und Besucher. Der Unterschied zwischen Kneipp und Baumgarten könnte nicht größer sein: Während Kneipp – zusammen mit seinem „Reisemarschall“, Pfarrer Alois Stückle aus Mindelau – der Einfachheit treu blieb, seine Graupensuppe, mitgebrachten Topfenkäse und Äpfel konsumierte, meist bei den Vorsitzenden der jeweiligen Kneippvereine unterkam und sich in keinster Weise für die tourischen Aspekte seiner Vortragsstädte interessierte, übernachtete Baumgarten in den teuersten Luxushotels (z.B. in Karlsruhe im Hotel „Erbprinz“ des schweizer Hoteliers Friedrich Samuel Kipfer (1844 - 1919), der in Wörishofen 1892 das „Victoria“ erbaut und 1895 zum Hotel erweitert hatte, sein Quartier beschreibt Baumgarten wie folgt: „Man öffnete mir die schönsten Zimmer im Hause; das Bett war in gelber Seide gedeckt und die kostbaren Möbel von Olivenholz mit feinen Stoffen in modernen Farben überzogen. Es schienen mir die zwei Räume, die man mir anwies, Schlafzimmer und Salon, ein furchtbar standesgemäßer Aufenthalt.“), besuchte Theater, beschwerte sich gar über zu einfache Kost auf den Speisekarten und macht sein Buch mehr zu einem touristischen Reiseführer als zu einem Buch über die Kneippsache. Irgendwie schien der Autor ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn er auf Seite 15 sich für seinen Alkoholkonsum selbst entschuldigt:
„lm Restaurant Kaiserhof [in Frankfurt] kamen wir dann, eine kleine Tafelrunde, zum Abendessen zusammen. Es war mittlerweile fast 11 Uhr geworden und nach des Tages Arbeit war wohl ein Trunk Pilsener Urquell erlaubt.“
Besonders ärgerlich: Bis auf die Vornamen einiger Kinder erfahren wir nicht ein einziges Mal, wen er traf, wer zu seinen Vorträgen kam, denn alle Namen sind abgekürzt. Selbst den Namen seines viele Male erwähnten Reisemarschalls („Franz A.“), verrät uns Baumgarten nicht – es handelt sich um den „Wörishofer Neubürger“ Franz Aker (1870 - 1941, Geschäftsführer der Buchdruckerei Wörishofen). Baumgartens eigener Name hingegen steht einzig und immer wieder im Vordergrund. Diese Masche nervt durch ihre konsequente Anwendung; ein weiteres Beispiel: Über seine Ankunft in Görz schreibt Baumgarten auf S. 112: „An der Bahn nahm uns der berühmte Dichter und Schriftsteller Herr Dr. J. in Empfang.“ Der Dichter ist also „berühmt“, sein Name ist dennoch keine Erwähnung wert. (Das ein oder andere Mal lässt sich erschließen, wer gemeint war; dies wurde in eckigen Klammern in der Abschrift eingefügt.)
Baumgarten betont immer wieder, mit welch hohen Herrschaften er bekannt oder befreundet ist, welchen Lorbeerkranz er mit welcher Widmung (im Wortlaut!) am Rande seiner Vorträge überreicht bekam. Die Vorträge finanzierten die Reisen, waren also nicht kostenfrei zu besuchen, wie es die Vorträge Kneipps ganz selbstverständlich waren. Und wenn es denn etwas kostete, dann floss beim Wasserdoktor alles in den Bau der Kneipp'schen Häuser (Sebastianeum, Kneippianum, Kinderasyl) oder für die Behandlung kranker Kinder (Freiplätze).
Ob Baumgarten etwas für die wenigen Visitationen bzw. Behandlungen verlangte, die er in den jeweiligen Vortragsorten vornahm, erfahren wir nicht, genauso wenig wie die Krankheiten oder was er den Hilfesuchenden eigentlich riet. Seine Haltung schlägt auf Seite 53f. besonders gut durch:
„Als ich zum Gasthofe zurückkehrte, standen dort viele Leute, und obgleich ich auf Reisen für gewöhnlich keine Sprechstunden abhalte, wollte und konnte ich mich doch diesen Ratsuchenden nicht entziehen. So war der Vormittag ausgefüllt. Schließlich war es dann aus, und ich konnte mich zu Tisch begeben. Beim Rindfleisch kam dann noch einer, dem ich auch noch Gehör schenkte, dann war mirs aber doch genug. Ich aß rasch zu Ende, nahm meine Tasche und eilte zum Bahnhofe. Dort, dachte ich, kann ich ja auch warten und bin doch wenigstens ungestört.“
Kneipp hätte alles daran gesetzt, auch den letzten Kranken anzuhören, ein angesetztes Essen wäre für ihn kein Hinderungsgrund gewesen.
Als es um den schweren Eisenbahnunfall einer Wörishofer Bademeisterin geht, zeigt sich in der Notsituation in der die Frau steckte, Barmherzigkeit. (S. 133):
Dieser Lorbeerkranz stammte von der Pepi. Pepi war Bademeisterin in Wörishofen, und bei Gelegenheit eines Krankentransportes, den sie nach Berlin hatte, stieß ihr das grausame Unglück zu, daß ihr bei einem Eisenbahnunfall der eine Vorderarm und die andere Hand abgefahren wurden, so daß nur einige Finger stehen blieben. Die Bahn wollte nicht zahlen, weil der Fall nicht so ganz klar lag, und so kam sie zu mir. Ich sagte zu ihr: ,,Pepi, das lassen wir nicht ruhen; wir werden die Sache wieder aufgreifen.“ Zum Glücke befand sich mein Freund, der Reichstagsabgeordnete und Rechtsanwalt F. aus Gr.-St. in Schlesien, in Wörishofen. Dem sagte ich: ,,Mein Lieber, wir müssen einer Armen helfen“, und trug ihm den Fall vor. Sofort war er bereit und stellte sein anerkanntes Talent in den Dienst der Wohltätigkeit.
Als Wohltäter erwies sich unser Kneipparzt bei einem weiteren Fall (S. 107):
„Da kommt mir auf der Straße, er hatte mich erwartet, der Studiosus M. entgegen. Er hatte sich in seiner Bescheidenheit nicht eher vorgewagt und kam nun, um mir ,Guten Tag‘ zu sagen. Studiosus M. ist nämlich ein Schützling von mir. Als schwacher Knabe war er im Kinderasyl zu Wörishofen, und da er ein helles Köpfchen schien, ließ ich ihm lateinischen Unterricht geben, und nun ist aus dem Lukas von damals der Herr Studiosus M. geworden. Er ist Philologe und wie es scheint, sehr gescheit, hoffentlich nicht zu gescheit.“
Ein einigen Stellen schlagen homophobe und rassistische Gesinnung durch:
(S. 114) „… daß auch die vielen Verirrungen, speziell sexuellen Verirrungen in der Jugend sehr oft nichts weiter als eine Folge des Mangels an entsprechender Belehrung seien, war uns ebenfalls klar.“
Von einem „Neger“ zu sprechen, war zwar abwertend, damals aber normal, z.B. auf S. 70 über sein Quartier in Mainz: „Dieser Gasthof zur Stadt Koblenz ist kein Aktienhotel; es steht kein Neger an der Türe … „
Auf Seite 109 - er beschreibt eine Bahnfahrt nach Marburg - wird Baumgarten deutlicher:
„lm Eisenbahnabteil, in welches ich einstieg, fand ich als Gesellschaft einen Schwarzen vor, der mit eleganter Neger-Manier die gesamten Sitzgelegenheiten mit seinem schönen Reisegepäck belegt hatte und würdevoll in einem Buche lesend in der Fensterecke lehnte; die reich mit auffallenden Ringen geschmückte Linke strich hie und da, wie von ungefähr über die hohe, leider schwarze Denkerstirn. Der Mann gefiel sich und war jedenfalls irgend so eine schwarze Prinzlich- oder Fürstlichkeit, oder er tat wenigstens so.“
Was ich ihm zugute halte: Aufgrund seiner kosmopolitischen Erfahrung aus Wörishofen – ein Ort, an dem z.B. für die französischen Kurgäste ein extra Sprachführer (Guide du Français à Woerishofen) herausgegeben wurde, wo sich Menschen aus allen möglichen Ländern friedlich trafen – vertritt Baumgarten „an sich“ eine weltoffene Position. Das ist für die Zeit freilich ungewöhnlich, denn so einen „Melting Pot“ wie in Wörishofen gab es sonst kaum irgendwo. Auf Seite 126 schreibt er über einen Vortrag in Laibach (Ljubljana):
„Wie viel von meinen Zuhörern Slowenen und wie viel Deutsche waren, das weiß ich nicht und geht mich auch nichts an, Menschen waren es, zu denen ich sprach und die mir lauschten. Außerdem möchte ich auch einmal aber nachdrücklichst bemerken, daß derartige humanitäre Bestrebungen wie die Kneippsache viel zu hoch stehen, um von Parteigezänk oder Nationalitätenstreit erreicht werden zu können.“
Baumgarten grenzt sich deutlich auch sprachlich von Kneipp ab. Schon auf dem inneren Titelblatt heißt es „Gedruckt in eigener Offizin“, will heißen, „im Selbstverlag“. Ob er überhaupt einen Verleger (wie Kösel in Kempten) gefunden hätte? Vermutlich nein, denn wen sollte dieses Buch, in dem er über unzählige Belanglosigkeiten („ … gingen wir in eine nahe gelegene Konditorei, nahmen dort ein Stück Fruchtkuchen und tranken ein Glas Wasser ...“) berichtet, letztlich lesen?
Wenn Baumgarten sich in einer neuen Stadt orientieren wollten, begab er sich nicht etwa auf Erkundung, sondern auf einen „Rekognoszierungsgang“. In Kreisen der armen Bevölkerungsschichten hat das damals sicherlich keiner verstanden.
Und die gesunde Bekleidung? Sebastian Kneipp trug jahrzehntealte Sachen auf. Wiederum eine Begebenheit, über die Baumgarten selbst berichtet: Eine Frau weist ihn nach seinem Vortrag in Wien darauf hin, „… es wäre wohl viel schöner gewesen, mich in meinem weißen Anzuge und in Sandalen hier in Wien zu sehen, weil man gar nicht gewohnt sei, mich im Gesellschaftsanzuge zu kennen.“ Baumgarten erklärt auf S. 89 hierzu: „Der weiße Anzug und die Sandalen sind eine Kleidung, die im Sommer in Wörishofen sehr gut passen, Im Winter in einer Großstadt, wo die Menschen für derartige freie Ideen noch nicht genügend vorgerichtet sind, würde man in solcher Gewandung unliebsames Aufsehen erregen und sich selbst und den wirklichen Freunden der Sache ein peinlicher Anblick sein.“ Auf Seite 113 – er ist gerade in Görz (Gorizia) – wiederum klingt dies ganz anders:
Der Diener fragte: ,,Darf ich dem Herrn nachher die Hühneraugen schneiden?“ Ich dankte ihm, indem ich stillvergnügt lächelte und bei mir dachte: ,Wer Sandalen trägt, der hat keine Hühneraugen‘.
Anwendungen verabreichte sich Baumgarten selbst, das scheint auf S. 24 einmal durch: „Meinem Zimmer gegenüber hatte ich ein Badezimmer entdeckt und so lag für mich die Versuchung nahe, dasselbe auch zu benutzen. Das tat ich und nahm, als es Tag geworden war, ein warmes Reinigungsbad mit nachfolgendem kaltem Vollguss, nach den Anstrengungen der verflossenen Tage eine wirkliche Wohltat.“
An keiner Stelle erwähnt Baumgarten, wenn Kneipp vor ihm an den Vortragsorten gewesen war, z.B. in Aachen oder Wien. Zu gerne hätte ich darauf gehofft, das ein oder andere Rätsel zu lösen, z.B. durch Baumgartens Besuch in Görz (Gorizia); doch zur Malerin von Kneipps Geburtshaus in Stephansried, Eugenia Sturli, die vermutlich aus Görz stammen musste, findet sich keinerlei Bezug.
Die Beschreibung der Ankunft an den jeweiligen Reisezielen beginnt meist nach dem selben Muster: Er inspiziert den Vortragssaal und fragt sich dann, ob denn wohl genügend Besucher kommen werden. Denn es gibt Konkurrenzveranstaltungen (z.B. S. 15: „An einer Plakatsäule blieb ich stehen; ich sah da tatsächlich, daß außer mir noch zwei Redner Vortrag für den Abend angekündigt hatten.“) oder einen zu geringen Anteil deutsch-sprechender Bevölkerung. In der Regel ist Baumgarten dann doch angenehm vom guten Besuch überrascht. Beispiel S. 27: „In Karlsruhe hatte ich noch niemals gesprochen, es war mir daher durchaus unklar, was hier zu erwarten stand. (...) Ich ging hinauf und fand Herrn A. an seinem Tische umlagert von Menschen, die Eintrittskarten begehrten; man zeigte mir den Weg in das Nebenzimmer. Es kam dann der Hausmeister des Museums und sagte: „Herr Doktor, Sie können unter keinen Umständen schon anfangen, es kommen noch beständig Leute; ich habe sogar soeben die Galerien aufschließen müssen, was bei einem Vortrage noch nie der Fall war.“
Es stellt schon fast eine gewisse Selbstverliebtheit dar, wenn er auf S. 51 (in Bruchsal) bemerkt: „Wir kamen dort an und sahen an einer Plakatsäule an der Eisenbahn, daß heute ein Vortrag von Dr. Baumgarten stattfinden würde.“
Auf S. 3f. eine ähnliche Äußerung, hier (in Würzburg) wird ausnahmsweise sogar einmal das Vortragsthema genannt:
„An den Straßenecken und Plakatsäulen der Stadt konnte ich deutlich lesen, daß heute Sonntag, nachmittags 5 Uhr, Dr. Baumgarten aus Wörishofen in den oberen Frankensälen einen Vortrag über „Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“ halten würde. Ich stellte mich vor ein solches Plakat und las es durch; unwillkürlich schaut man rechts und links, ob niemand in der Nähe ist, als ob man ein böses Gewissen hätte. Man kommt sich so gekannt vor, wenn man einen Vortrag im Schilde führt und vor dem Plakat steht, das diesen anzeigt.“
Das Buch besteht aus vielen Andeutungen. Dafür ein weiteres Beispiel (S. 4, wenn er in Würzburg über die Unterredung mit einem „befreundeten Kollegen“ spricht). Es ging dabei u.a. um die „Zukunft unserer Methode“, es wurden „gar wichtige Dinge“ besprochen. Gerne hätte der Leser vermutlich etwas über Baumgartens Gedanken zur Zukunft der Kneipp'schen Wasserheilmethoder erfahren oder über welch wichtige Dinge da gesprochen wurde! Aber entweder ließ sich Baumgarten nicht so weit herab, es uns zu erklären, oder die Dinge waren letztlich nicht wichtig. Dazu eine weitere passende Stelle (S. 86, bei einem Gespräch mit einem Kollegen in Wien): „Wir sprachen von bösen und guten Erfahrungen, die wir gemacht, von den Erfolgen die wir gesehen und von der Hoffnung, die wir trugen.“
Ein weiteres Mal erwähnt Baumgarten das Vortragsthema in Graz (S. 107):
„lch sprach über Nerven und zwar über Nervenkraft, wie sie verloren wird, und wie sie wieder gewonnen wird. Es muß das wohl für die Grazer ein sehr interessantes Thema gewesen sein, denn einen solch gewaltigen Andrang wie dort habe ich noch niemals bei einem Vortrag erlebt. 450 Menschen saßen in drangvoll fürchterlicher Enge in dem Saale und auf meiner Rednerbühne bis unmittelbar an mich heran. Nicht eine Stecknadel konnte zu Boden fallen, und Hunderte mußten unverrichteter Sache wieder abziehen, da einfach kein Platz mehr zu bekommen war.“
Man gewinnt etwas den Eindruck, das ganze Buch steht unter einer Art Rechtfertigungszwang und dient eher dazu – nach Kneipps Tod – dem eigenen Bedeutungsschwund entgegenzuwirken. Baumgarten plustert sich ständig auf und versucht, mit den Vortragsreisen in Kneipps Fußstapfen zu treten. Doch diese Fußstapfen sind eine Nummer zu groß, das „Original“ konnte keiner mehr ersetzen. (Ergänzend sei festgestellt: Baumgartens Vorträge dauerten mit 60 bis 90 Minuten nur halb so lang wie die von Kneipp.)
Immerhin: An einigen Stellen plaudert Dr. Baumgarten tatsächlich über Inhalte, die die Zukunft der Kneippkur betreffen, z.B. auf Seite 23 (in Mannheim):
„Zum erstenmale sprach ich es vor einer beschränkten Öffentlichkeit aus: daß Kneippbund und Wörishofener Kneippverband sich wieder einigen sollten, da Bruderzwist immer nur den Feinden nützt. Man war an jenem Abend nahezu allgemein derselben Ansicht, und ich versprach, für den Anfang des Monats Dezember eine Versammlung von Abgeordneten der Kneippvereine, die Einigungsbestrebungen dienen sollte, nach Mannheim einzuberufen.“
Und er gibt einige wenige biografische Angaben preis, z.B. S. 29 „Elsäßer waren es, also halbe Landsleute von mir; denn auch ich stamme väterlicherseits aus dem Elsaß. (...) Als wir durch das Gelände zwischen Kehl und Straßburg fuhren, und in der Ferne der ewig schöne Münsterturm herübergrüßte, fiel mir die Zeit aus meinen Studentenjahren ein, die ich in der wunderschönen Stadt [Strassburg] verbracht hatte.“
Baumgarten auf S. 69 (Fahrt nach Mainz): „Für uns echte Rheinländer fängt nämlich der eigentliche Rhein erst bei Mainz an und endet bei Bonn.“ S. 70: „Schließlich kam auch noch zu meiner größten Freude und Überraschung mein alter Erzieher, der zur Zeit Pfarrer und Schulinspektor im Maingau ist. Er wollte auch einmal sehen und hören, was aus dem Pflänzchen, das er zur Zeit gehegt und vor mancherlei schweren Nöten bewahrt hatte, geworden wäre. In angeregtem Geplauder saßen wir eine halbe Stunde beisammen, … “
Auf Seite 71 nimmt der Autor seine Herkunft als Rheinländer zum Anlass, Tipps für Vortragende zu unterbreiten:
„Ein zahlreiches Publikum hatte sich eingefunden, und wie wir Rheinländer denn schon sind, es ging ziemlich humorvoll zu an dem Abend. Es gelingt eben an manchen Orten und bei manchen Leuten besser, eine gewisse fröhliche Heiterkeit zu entfalten. Ich kann jedem, der Vorträge hält, nur den dringenden Rat geben, daß er den Ernst und die Würde seiner gewichtigen Worte stellenweise durch eine heitere Bemerkung unterbreche; denn das Publikum ist weder so andauernd wißbegierig, noch so geduldig, daß es beständig die Keulenschläge unserer gewaltigen Wahrheiten auf sich einwirken lassen möchte. Der Geist des Menschen sehnt sich gelegentlich nach Entladung; gespannte Aufmerksamkeit findet ihre Entladung aber am besten, wenn von Zeit zu Zeit eine fröhliche oder heitere Bemerkung des Redners ein erlösendes Lächeln ermöglicht. Man glaube ja nicht, daß das dem Ernste der Sache schade; im Gegenteil, mit fröhlichem, heiterem Sinn wirkt man oft viel nachhaltiger aut die Zuhörer, als mit immer wuchtiger Würde und steten schweren Argumenten.“
Und nochmals auf S. 72: „Eine gewisse Erregung bemächtigt sich des Rheinländers, wenn er durch die historischen Teile dieser einzig schönen Gegend fährt, wenn die kecken Burgen auf Augenblicke erscheinen, wenn der eilende Zug in die grauen Tunnels hineintaucht, dann die Lorelei erscheint, jener populärste deutsche Felsen, ebenso vielbesungen wie wenig bestiegen.“
Eine Seite weiter kommt er an seiner alten Heimat, Pfaffendorf (seit 1937 zu Koblenz gehörig) vorbei und beschreibt seine Gefühle:
„Dann wird die Brust weit und das Gemüt weich, stille drängen sich Erinnerungen dem Herzen auf, und nicht ohne Wehmut schweift der suchende Blick über die Stätten der fröhlichen, sorgenlosen Jugend dahin. Da war auch die Insel, auf der wir drei Jahre gewohnt, auf welcher wir uns die Herrscher der Welt wähnten, wo wir jagten und fischten und wo wir „Indianer“ spielten.
Dort drüben am anderen Ufer schimmert das reizende Pfaffendorf; da sah ich das weiße Haus mit der grünen Hoftüre; dort haben wir als Kinder unbekümmert um Gefahren Tümpel gebaut am Rhein, sind den Wellen nachgelaufen und durften nach langem Bitten auf den Bauernpferden reiten, welche in die Schwemme getrieben worden waren. Kam man dann pudelnaß nachhause, war der schöne Sommeranzug verdorben, dann gabs nicht nur Hiebe, sondern auch keinen Aprikosen-Pfannkuchen, den ich für mein Leben gern aß.
In Koblenz am Bahnhof erwartete mich meine Gattin, um die weitere Reise mitzumachen. Auch hatten sich mancherlei liebe Verwandte eingefunden, um dem in der alten Heimat schier Fremdgewordenen wenigstens flüchtig die Hand zu drücken.“
Schwach wurde Baumgarten vor allem in und um Triest, seine Reisebeschreibung ist hier am umfangreichsten. Er ist von der Gegend so eingenommen, dass er richtig emotional wirkt (S. 121): „Gleich glänzenden, schimmernden Bändern schlingen sich die weißen Straßen durch die belebten Fluren hinauf zu den zahlreichen Dörfern, Villen und Städtchen, welche die Umgebung von Triest schmücken. Schön, einzig schön war der Anblick von dieser hohen Warte.“
S. 41: „Ich fuhr am nächsten Tag nach Sigmaringen, um einen hoffnungsvollen Schüler der untersten Klasse des Gymnasiums zu besuchen, der dort im St. Fidelis-Konvikte Herberge und Pflege gefunden hat; dieser Schüler ist nämlich mein Sohn Paul. Ich fand ihn vergnügt, wie Buben sind.“ (Laut Isa Betz, S. 180, dauerte der Besuch gerade einmal drei Stunden; Paul war von 1903 „bis mindestens 1907“ in Sigmaringen)
S. 76: „Am anderen Morgen standen wir beizeiten auf; es war Sonntag, wir wollten zur Kirche und dann nach Brüssel weiter fahren zum Besuche unserer Tochter [„Lieblingskind“ Elisabeth]. (...) In wenigen Stunden brachte uns der Expreßzug nach Brüssel. Nachmittags holten wir unsere Tochter, welche in Coloma bei Malines [Mecheln bzw. Mechelen] französisch und alle möglichen anderen guten Sachen lernt, und blieben einige Tage mit ihr zusammen in der belgischen Hauptstadt.“
Fast schon unvermittelt erfahren wir, dass ihn seine Frau Anna Baumgarten (1860 - 08.11.1947, Bad Wörishofen) – vermutlich nur sporadisch – begleitete. Das kann natürlich auch an den insgesamt sieben Kindern* liegen, die sie zwischen 1889 und 1903 gebar.
Ob sie die Vorträge ihres Mannes besuchte oder was sie sonst tat, erfahren wir nicht. In Aachen wird sie erwähnt, die Anschlussfahrt nach Brüssel war nur privater Natur (s. weiter unten; Besuch der Tochter Elisabeth).
Das hier abgebildete Familienbild der Baumgartens zeigt (v.l.n.r.):
Wilhelm, Elisabeth, Hedwig, Mutter Anna (sitzend), Paul, Vater Alfred (sitzend), Alfred jun. (auf dem Schoß des Vaters), Rosa und Eugenie
S. 75: „Neugestärkt zogen wir in die inzwischen hellerleuchtete Stadt ein, durch lebhafte Geschäftsstraßen, an glänzenden Läden vorbei, zum Absteigequartier. Dort hatte sich meine Frau ermüdet bereits eingefunden; sie begab sich zur Ruhe, ich an die Arbeit.“
Dagegen S. 39: „Zum Schlusse schob er [der Besitzer einer Lichterfabrik in Basel] mir sogar noch eine Schachtel seiner Lichter in die Tasche, damit die Frau zuhause doch auch ein Andenken hätte.“
Durchaus eine interessante Randnotiz auf S. 57: „Nach dem Vortrag gingen wir hinunter in das Restaurant, das zur Stadthalle gehört, um zu Abend zu essen. Da begrüßte mich der Pächter, und erzählte mir, dass ich z.Z. in Augsburg in seinem Lokal auch einen Vortrag gehalten habe; es sei aber schon lange Jahre her. Ich erinnerte mich dessen sehr gut; es war im Jahre 1894, und es war der erste Vortrag, den ich in meinem Leben außerhalb Wörishofen gehalten habe.“
Der - noch unbekannte - Begleiter und Organisator „Franz A.“ hatte sicherlich alle Hände voll zu tun. Oft reiste er gleich nach den Vorträgen weiter, um am nächsten Ort weitere Vorbereitungen treffen zu können. Internationale Vortragsreisen stellten Anfang des 20. Jahrhunderts sicherlich eine organisatorische Herausforderung dar. Ein Beispiel auf S. 95:
„Man muß nämlich wissen, wenn man in Ungarn Vorträge halten will, so muß das Kgl. Ministerium in Budapest um Erlaubnis gefragt werden, und diese Erlaubnis wäre, dank mancher Umstände, nicht rechtzeitig eingetroffen, wenn nicht Herr J. S. mit seiner starken und glücklichen Hand eingegriffen und nachgeholfen hätte.“
Auf Seite 100 (in Budapest) wieder eine Lobhudelei mit einem Lorbeerkranz, am Ende des Zitats aber auch ein kleiner Einblick in die Zeitumstände:
„Als ich am Abende heraustrat vor mein über 300 Köpfe zahlendes Publikum schritt aus einer Seitentüre hinter mir ein Mann herein, der einen Riesen-Lorbeerkranz trug. Er stellte einen Stuhl neben mein Rednerpult und legte den Kranz darauf. An dem Kranze aber befanden sich breite, ½ Meter lange Seidenschleifen in den rot-weiß-grünen Landesfarben, welche in goldenen Buchstaben die Inschrift trugen: Dem Herrn Dr. Baumgarten aus Dankbarkeit gewidmet von seiner Patientin F. N. Budapest 22. Febr. 1904. Als der Mann den Kranz niedergelegt, erschollen mehrfache Eljen-Rufe als Zeichen der Zustimmung. Ich mußte mich wundern, trotz der in den Zeitungen zu lesenden Deutschen-Verfolgung in Budapest, soviele wohlgestimmte und aufmerksame Zuhörer dort zu finden.“
Am Ende des Buchs (S. 136) begründet Baumgarten das Halten von Vorträgen wie folgt:
„Ob es vornehm sei und mit der Würde des Arztes vereinbar, Vorträge zu halten vor dem Laienpublikum? Diese Frage ist so verschieden zu beantworten, wie die Menschen verschieden sind: das kommt nur auf den Vortragenden an. Wer ruhig und sachlich spricht, wer nicht lügt und auch keine Räubergeschichten erzählt, wer überhaupt den Mund nicht zu voll nimmt und die Leidenschaften der Menschen in seinen Vorträgen in Ruhe läßt, der wird, wenn er übrigens eine gute Sache vertritt und auf genügende Erfolge hinweisen kann, stets eine gute Figur machen, eine Zierde seines Standes bleiben und seiner Sache nützen. Je mehr derartiger vortragender Ärzte sich fänden, desto mehr und nachhaltiger würde es gelingen, Marktschreier und die Demimonde auf diesem Gebiete zurückzudrängen. Wir Ärzte müssen selbst das Ohr des Volkes besitzen und in seinem Herzen thronen, sonst versuchen es andere: den Schaden davon hat die Gesamtheit und der ärztliche Stand.“
Und abschließend auf S. 137:
„Den werbenden, den mitarbeitenden Freunden habe ich diese kleine Schrift gewidmet, die zeigt und zeigen soll, wie ich zu reisen gewöhnt bin, und die erzählen soll von den Eindrücken und Erinnerungen, die mir von manchen jener interessanten Stunden geblieben. Welches Maß von Liebe zur Sache und Aufopferungsfähigkeit dazu gehört, um derartig anstrengende Dinge zu treiben und mit einigem Erfolge durchzuführen, das weiß derjenige, der es einmal versucht hat.
Den Freunden, die geholfen haben und die helfen, danke ich für ihr Interesse; den Feinden, die mich hassen und – lehren, danke ich ebenfalls für ihr Interesse; die Gleichgiltigen [heute: Gleichgültigen] möchte ich aufrütteln, damit sie entweder Freunde oder Feinde werden; die Drohnen verachte ich.
Laßt uns sorgen, daß die Menschheit genügend oft und nachdrücklich auf dasjenige hingewiesen werde, was der Gesundheit frommt.“
Literaturzitat:
Baumgarten, Alfred: Vortragsreisen. Eindrücke und Erinnerungen, im Selbstverlag, Wörishofen, 1904, 137 S.
Erste Reise
25. Oktober bis 2. November 1903: Würzburg, Frankfurt a. M., Wiesbaden, Mannheim, Karlsruhe, Colmar, Basel Konstanz
Zweite Reise
5. bis 12. Dezember 1903: Pforzheim, Bruchsal, Heidelberg, Worms, Kaiserslautern,
Darmstadt, Mainz, Aachen
Dritte Reise
18. Februar bis 1. März 1904: Salzburg, Linz, Wien, Preßburg, Budapest, Graz, Marburg, Görz, Triest, Laibach, Klagenfurt, Innsbruck
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Wer sich mit Dr. Alfred Baumgarten näher befassen möchte, wird in der Biografie von Isa M. Betz von 2012 fündig.
Literaturzitat:
Betz, Isa: Wörishofen wird Weltbad. Dr. Alfred Baumgarten 1862 - 1924. Sebastian Kneipps Badearzt, Konrad-Verlag Weißenhorn, 2011, 261 S., ISBN 978-3-87437-476-7
Der Text seines Sterbeandekens bietet einen umfassenden Nachruf. Selbst mit dem Tod scheint Baumgartens Rivalität ein letztes Mal auf:
„Seine Beziehungen zu Sebastian Kneipp waren die eines vom Meister herzlich geliebten Sohnes. Sebastian Kneipp, der schlichte Dorfpfarrer und geniale Schöpfer, hatte in dem Verstorbenen seines Strebens berufensten Herold erkannt und ihm sein unbeschränktes Vertrauen geschenkt. Dieses Vernächtnis voll bedeutsamster Veranwortung hat der Verstorbene als unbestechlicher Treuhänder in der weise verwaltet, daß er seine ganze Persönlichkeit, seine reichen Gaben als Gelehrter, Lehrer und Arzt in den Dienst von Kneipps Sache stellte und sie zum Siege führte.“
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Ein ebenfalls sonderbares Kneipp-Buch sei hier noch zur Lektüre empfohlen: Bonenbergers Schmähschrift über den „Kneippkur-Charlatanismus“ von 1898.
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Das Buch wurde dankenswerterweise von Stefan Seidl zur Verfügung gestellt, es ist ein echtes Unikat. Bis dato gab es von der Existenz keine Spur im Internet, auch nicht bei der Bayerischen Staatsbibliothek. Die Auflage „im Selbstverlag“ dürfte 1904 nicht allzu hoch gewesen sein. Außerdem ist im Buch – wie wir gesehen haben – manches Mal interessanter, was nicht darin aufgeschrieben wurde. Erst die Lektüre des ganzen Buches ergibt ein – durchaus lohnendes – Gesamtbild.
Sie können den Scan des Originals abrufen (ca. 53 MB) oder die Abschrift als Word oder pdf.
Scan, Abschrift und Zusammenfassung: Helmut Scharpf, 12/2021.