01.12.2023 – Stephan Hann „Objekte der Begierde“ und Diether Kunerth mit Stiftungswerken
Titel
Beschreibung
Der Begriff „Upcycling“ bedeutet eine Zweit- oder Wiederverwendung von Abfallprodukten oder scheinbar nutzlosen Stoffen, die in neuwertige Produkte umgewandelt werden. Ein in Kreisen von Umweltschützern gerne verfolgtes Prinzip besonderer Nachhaltigkeit. Der Wahl-Berliner Stephan Hann (*1970) erhob dieses Prinzip zur Kunstform, er bringt die Betrachter seiner Werke damit zum Staunen.
Eigentlich hätte Diether Kunerth das „Museum für zeitgenössische Kunst – Diether Kunerth“ in der neuen Ausstellung komplett bespielen sollen, sein gesundheitlicher Zustand erlaubte es jedoch nicht, sich der Herausforderung einer Werkauswahl zu stellen. In nur wenigen Wochen war für eine neue Lösung gesorgt. Auf Seite 13 in der Ausgabe des „Ottobeuren Life“ vom Januar 2024 wurde dazu Bezug genommen: Pater Winfried Schwab – mit Hann befreundet – hatte die Verbindung zwischen Museumsleiter Markus Albrecht und dem Künstler angebahnt, der dann sehr kurzfristig die Ausstellung zusagte.
In seiner Laudatio bei der Vernissage am 1.12.2023 erzählte der Benediktiner die Geschichte der Messgewänder, die Hann auf seinen Wunsch hin für die österreichische Wallfahrtskirche Frauenberg (beim Benediktinerkloster Admont) gefertigt hat (vgl. das Transkript seiner Rede). Eingearbeitet in ein einfaches Malervlies hat er einen persischen Stoff und eine Stickerei aus dem 19. Jahrhundert, die er auf einem Kleidermarkt in Paris entdeckt hatte. Zwei Kaseln (Messgewänder) sind neben vielen Kleidern und Wandschmuck in der Ausstellung zu sehen (s. Fotos).
Die Geschichte der beiden Messgewänder zeigt, welch umfassende Gedanken sich der Künstler macht. Im Zusammenhang mit dem sakralen Charakter des Auftrags hatte Hann so große Achtung, dass er es sich die Umsetzung zunächst gar nicht zutraute. Er bereitete sich gleichwohl intensiv vor und studierte dreieinhalbtausend Jahre liturgische Textilkunst. Nicht von ungefähr betonte Pater Winfried deshalb mehrfach „Achtung und Respekt des Künstlers vor seinem Auftrag“.
Viele der ausgestellten Objekte haben eine ganz eigene biografische Geschichte. Ein Beispiel: Zwei Kleidungsstücke sind aus Medikamentenblistern, die man in jeder Apotheke oder im Krankenhaus erhält, gemacht. Stephan Hann hat den Verbrauch einer einzelnen Frau, die schwer krank war, über ein Jahr gesammelt und hat daraus ein Kleid entwickelt. Hinter dem Kunstwerk steckt eine Frau, die so sehr vom Leid geprüft war, dass sie so viele Medikamentenblister gebraucht hat. Auch an diesem Beispiel erkennt man, wie viel Überlegungen hinter einem Werk stehen. Wichtig zu erwähnen ist noch, dass alle Kleidungsstücke, die auf Schaufensterpuppen zu sehen sind, getragen werden können – wie die beiden Fotos vom Laufsteg belegen.
Mit einer Auswahl von 39 (von insgesamt 233) Stiftungswerken des heimischen Ottobeurer Künstlers Diether Kunerth wurde im Erdgeschoss und im Videoraum eine sehenswerte Ausstellung zusammengestellt. Begeistert zeigten sich die Besucher der Ausstellungseröffnung davon, dass die blaue Wand im Erdgeschoss von der vorangegangenen Hundertwasser-Ausstellung erhalten werden konnte, und von der Wirkung, die die Bilder von Diether Kunerth darauf entfalten.
Der einführende Text auf der Museumsseite:
Der Ursprung der Arbeiten von Stephan Hann liegt im Material. Materialien, die ihren Ausgangspunkt im Alltag, oft im Konsum haben, reißt er aus ihrem gewohnten Bezugsrahmen und setzt sie in neuem Kontext – an der Wand oder am menschlichen Körper – in Szene. Sein besonderes Interesse wecken Umhüllungen, Verpackungen, das Äußere von Produkten, all das, was zum Kauf verführt und nach dem Moment der Aneignung wertlos wird. Ein Produkt wurde dank seiner überzeugenden Verpackung erworben, die Begierde ist gestillt, das Drumherum kann entsorgt werden. Stephan Hann hinterfragt diese Wegwerfkultur, indem er dem Flüchtigen mit seinen Objekten eine kostbare Beständigkeit verleiht.
Ob Tetra-Pak oder goldene Kaffeeverpackungen, ob bunte Aktendullis oder Tablettenblister – Stephan Hann gibt den Materialien einen zweiten, anderen Sinn. Er behandelt sie wertschätzend, verleiht ihnen durch aufwendige Verarbeitung neue Bedeutung und schärft so unseren Blick für die Ästhetik des Beiläufigen.
„Die Materialien ermöglichen mir eine visuelle und haptische Begegnung, einen ersten Kontakt, der mich berührt und herausfordert. Daraus entwickle ich Zusammenhänge, die sich aus dem Material selbst ergeben, dann aber mit meiner Biografie zusammenfließen“, sagt Stephan Hann selbst.
Die Präzision, die seine Ausbildung als Herrenmaßschneider an der Deutschen Oper Berlin mit sich bringt, fließt in die handwerkliche Perfektion seiner Arbeiten ein. Stephan Hann nutzt die Sprache der Mode, die den Körper umhüllt und gleichzeitig schmückt, ihn zu einem Objekt der Begierde macht. Unmittelbar nach der Wende ging der in West-Berlin direkt an der Mauer Aufgewachsene zum Studium an die ehemals im Ostteil der Stadt gelegene Kunsthochschule Weißensee. Die Verbindung von Mode und Kunst lebte er sechs Jahre in Paris, wo er begann, Kollektionen, die als Auftragsarbeiten für namhafte Firmen entstanden, auf den Laufsteg zu bringen. Darüber hinaus gestaltet Stephan Hann skulpturale Wandobjekte, welche die von ihm eingesetzten Materialien auf überraschende Weise zu räumlicher Geltung kommen lassen.
Seit über 30 Jahren, schon lange bevor Begriffe wie „Nachhaltigkeit“ oder „Ressourcenschutz“ in Mode kamen, beschäftigt sich Stephan Hann mit dem Ab- und Weiterleben von Materialien und den, in die Werk-Stoffe eingeschriebenen, Erinnerungen. Und mehr denn je stehen wir heute vor der Frage, wie eine neue Wertschätzung, eine Begierde, für das scheinbar Wertlose entstehen kann.
Vor dem Bau des „Museums für zeitgenössische Kunst – Diether Kunerth“ in Ottobeuren, hat der Namensgeber Diether Kunerth eine Stiftung gegründet, in die er 233 seiner Werke aus seinem umfangreichen Oeuvre eingebracht hat. Wir zeigen in der aktuellen Ausstellung im Erdgeschoss des Museums eine Auswahl dieser sehenswerten Werke.
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Für die Memminger Zeitung berichtete Harald Holstein am 2.12.2023 („Betörende Recycling-Mode“, Seite “Allgäu-Kultur“).
Alle Fotos bzw. Repros von Helmut Scharpf (12/2023). Eine Verwendung der Abbildungen der Kunstwerke von Stephan Hann ist nur nach vorheriger Rücksprache mit dem Künstler möglich, bei den Stiftungswerken von Diether Kunerth ist Museumsleiter Markus Albrecht Ansprechpartner. Die Ausstellung läuft vom 2. Dezember 2023 - 16. Juni 2024