13.07.1944 Die Chronik vom Untergang des „Großdeutschen 3. Reichs“ von Karl Schnieringer

Titel

13.07.1944  Die Chronik vom Untergang des „Großdeutschen 3. Reichs“ von Karl Schnieringer

Beschreibung

Die Tagebuchaufzeichnungen von Karl Schnieringer (*12.11.1904, Böhen, †25.11.1973, Bad Grönenbach) beschreiben die letzten Kriegsjahre in Ottobeuren, die Bildung des Ottobeurer Volkssturmes, den Einmarsch der Amerikaner, das Chaos unmittelbar nach dem Krieg mit abziehenden Fremd- und Zwangsarbeitern, mit Flüchtlingen, dem Denunziantentum, Entnazifizierung, mit Plünderungen und Hunger.
Eine Veröffentlichung vor 1980 hatte der Autor untersagt.

Wir lassen die Chronik mit den Luftangriffen vom 18. und 20. Juli 1944 auf den Militärflugplatz der Luftwaffe in Memmingerberg beginnen. Die Ereignisse sind nicht nur schriftlich festgehalten, in der kleinen Kapelle in der Benninger Einöde, die 1949/50 über einem 1944 angelegten Luftschutzkeller erbaut wurde, hat der Ottobeurer Kirchenmaler Ludwig Dreyer den Angriff in den Altarbildern auch bildlich festgehalten. Das Pflichtjahrmädchen Theresia Maier und die Tagelöhnerin Magdalena Sinner kamen bei den Angriffen ums Leben.
Zu sehen ist hier auch ein Bild, das Karl Schnieringer im März 1943 in Uniform zeigt sowie eine Seite aus dem bislang unveröffentlichten Originalmanuskript. Die Chronik Schnieringers wurde bei einem Besuch bei der Tochter (Frau Nägele) in Billenhausen bei Krumbach dankenswerterweise zum Scannen zur Verfügung gestellt.

Von Karl Schnieringer, an den sich noch etliche alte Ottobeurer als ihren Lehrer erinnern können, sind im virtuellen Museum bereits einige seiner Schriften eingpflegt; auch der in der Chronik erwähnte Sühnebescheid und ein Kriegsurlaubsschein von 1944 ist hier abrufbar.
Schnieringer belegt zwei über Ottobeuren abgeworfene Flugblätter - sie werden zu einem späteren Zeitpunkt aufgearbeitet; hier wurde ein Flugblatt mit aufgeführt, das 1945 in Bayern zum Einsatz kam (Sammlung Helmut Scharpf).

Franz Bermeitinger sei für die Abschrift – immerhin 71 Seiten – herzlich gedankt. Der Text ist hier unten einkopiert, Sie können ihn aber auch als Word- bzw. Pdf-Datei abrufen.

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VOM UNTERGANG DES GROSSDEUTSCHEN
3. R E I C H E S
erlebt und aufgeschrieben in Ottobeuren
von Karl Schnieringer, 1944 - 1946

Abschrift in neuer Rechtschreibung und (meist) rechtschriftlich verbessert! Ergänzungen oder Unklarheiten in eckigen Klammern und Kursivschrift! Der originale Seitenumbruch wurde erhalten. (02/2018)
                            
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Aus meinem Tagebuch
vom 13. Juli 44 - 1947
Karl Schnieriger

13.07.1944: Der 13. muss kein Unglückstag sein! Mich erlöste er vom Barras. Mit der wenigen Habe eines Soldaten, in Zivil und einem Entlassungsschein, 50 M Entlassungsgeld stieg ich in den Karlsbader Zug – früh ½ 6 Uhr über Eger – Nürnberg – Augsburg – Memmingen und Ottobeuren. Die Wehrmachtsstreife prüfte immer wieder meinen Entlassungsschein und einer meinte kopfschüttelnd: Sie sind sicher der Letzte, den die Wehrmacht trotz Infassion (Invasion) entlässt. Es waren jedoch alles nur glückliche Umstände.
In Augsburg machte ich Zwischenstation, um die Häuserruinen zu besichtigen; es kamen ja immer mehr feindliche Flieger über unsere Städte. Arme Augsburger! Nachts 11 Uhr war ich daheim und doch mehr in Gefahr wie in Karlsbad, das die Alliierten sichtlich zu verschonen gedachten – Bahnhof und Umland ausgenommen.
    Schon nach wenigen Tagen wurde es unruhig in Ottobeurens Umgebung – neben das dortige Finanzamt fiel übrigens schon 1939 [siehe OMG, 04.06.1940] eine französische Fliegerbombe. Die höher gelegenen Bewohner Ottobeurens sahen die Bomben auf den Memminger Flugplatz fallen. Wir beobachteten Luftkämpfe, Flugzeugabstürze im Günztal.
Einmal war ich mit meinen Kindern im Benninger Wald beim Pilze suchen. Wir hören die Sirenen der umliegenden Orte, suchen Deckung im Jungholz. Maschinengewehre tacken über uns.

20. Juli 1944: Beim letzten Angriff auf Memmingen wurden am Bahnhof und in der Stadt beträchtlicher Schaden angerichtet. Auch die Dienstwohnung meines Bruders in der Schlageterstraße (Blatterngasse) wurde zerrissen – Gottseidank keinen Personenschaden – er zog nach Heimertingen zur Schwiegermutter. Am anderen Tage wollte ich nach meinem Bruder sehen; aber es waren alle Straßen wegen vermuteter Blindgänger gesperrt. – Auf dem Flugplatz große Verheerungen und Personalausfall – angeblich wegen zu später Alarmierung. Bei diesem Angriff verlor ein Bauer 40 Stück Vieh, das vermutlich auf der Weide war. – Schuhmacher Bechteler von Ottobeuren wurde dabei tödlich getroffen, Brauereidirektor Sönning schwer verwundet. –
Beim letzten schweren Angriff auf die Illerwerke sollen Luftminen gefallen sein. In Ottobeuren spürte man in jedem Haus den fürchterlichen Luftdruck u. die Erschütterungen. Mir riss er ein Fenster, das ich öffnen wollte, aus der Hand. Die Leute sind stark verängstigt, flüchten zum großen Teil, wie Memminger in die nahen Wälder. – Die nur abgestützten Hauskeller findet man doch allzu unsicher.

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Der Feind wirft jetzt immer schwerere Bomben, Splitterbomben, Flugblätter, Lebensmittelmarken und Lametta. Ich besitze ein feindliches Flugblatt vom 11.7.1944 Nr. 19. Diese „Luftpost“ wurde zu Millionen abgeworfen, um die Bevölkerung mürbe zu machen, die es doch schon war. Es werden die militärischen Erfolge der Alliierten aufgezählt, die Namen gefangener deutscher Generale genannt u. a. mehr. – Alles freut sich, wenn Nebel und Regenwetter einsetzen, man braucht manchmal starke Herzen, um alles zu überstehen – aber auf ein gutes Ende zu hoffen, das wagt niemand mehr – wenn auch der Mund anders spricht und andere auf Wunder hoffen.
28.7.1944: Heute Nacht 2 Uhr Alarm mit baldiger Entwarnung. Im Osten weicht die Front zurück! Großangriff der Alliierten im Westen. Die Ängste und Sorgen mehren sich von Tag zu Tag.
Am 31.7.44: Vom Freitag auf Samstag nachts 2 Uhr wieder Alarm. Angriff erfolgte auf Stuttgart. Arme Stadt! Immer fliegen die feindlichen Staffeln über Ottobeuren. Die beiden Kirchtürme sind gute Wegweiser. Heute Alarm von 12.30 - 14.30 Uhr. Wir gingen mit den Kindern zum Bannwald. Während eines Gewitters mit Platzregen kamen die Bomber von ihrem Angriff auf München zurück. Ich sah gleichzeitig einen kriegsgefangenen Serben in der Grotte wie wahnsinnig um einen Kastanienbaum rennen, ein anderer suchte Schutz im Graben einer Wiese, eine Polin bekreuzigte sich unentwegt und sprang Deckung suchend. Diese Leute haben den Krieg in nächster Nähe kennen gelernt und haben keine Nerven mehr für ihn. – Die Bewohner des Oberen Marktes in Ottobeuren haben im „Kalten Brunnen“ der Waldabteilung östlich vom Konohof einen Bunker für 40 Personen gebaut. Bei jedem Alarm rennen die Kriegsgefangenen, die Ostarbeiter(innen) dorthin. Die Ottobeurer beten täglich in der Grotte zur Muttergottes um Verschonung vor Luftangriffen – die Zahl der Beter nimmt tgl. zu. – Der Sohn von Hauptl.(ehrer) und stellvertretender Kreisleiter Schurer ist an der Westfront gefallen. Man schrieb in die Zeitung: Wir sind stolz unserem Führer ein Opfer gebracht zu haben!!! Andere 100% (ige) schrieben ähnlich – zum äußeren Schein. Unsere Ostfront weicht immer noch! – Die Familie meines Schwagers Lochner in Grönenbach hat schwere Fleischvergiftung. Im Schloss ist das Lazarett. Er stirbt von seinen sechs Kindern weg. – Vom hiesigen Bademeister Gehring ist der dritte Sohn gefallen.

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3.8.1944: Fliegeralarm von 10 Uhr bis 12.30 Uhr. Ich war mit meinen Kindern im Bannwald. Mein Kleiner kennt mit seinen 5 Jahren sofort die deutschen Jäger von feindlichen Bombern auseinander. Von Kempten her hörten wir die Einschläge. Es zitterte unser Haus (felsiger Untergrund), während man die Bomben von Memmingen her nur hörte, aber die Häuser nicht zitterten (lehmiger Grund). 12.30 Mittagessen. Seit Jahren wieder einmal Omelette geleistet. Bald neuer Alarm angesagt. Um 3 Uhr überflogen Feindverbände unseren Ort – schnell weckte ich die Kinder – aber es war viel zu spät gewesen! Und zudem wurde kein Alarm gegeben. Gottlob war die kommende Nacht ruhig – man konnte wieder einmal schlafen. Ist doch das ein Leben! Freudlos, ohne Auftrieb und nur müde, ernste Gesichter der Mitmenschen. - Einmal saß ich früh 5 Uhr auf dem Nürnberger Hauptbahnhof auf meinem Holzkoffer. Der Urlaub war vorüber – alles saß in dieser nebeligen Kälte schweigend mit eingezogenem Kopf im Mantelkragen, von der Unterführung herauf roch die Erbsensuppe – niemand sprach, niemand lacht; nur ein Frontfahrer flucht auf Militär, General und Führer. Er wollte verhaftet werden. Aber niemand ging, um ihn zu melden. Der Zug nahm uns alle mit. –
7. August 44: Beerdigung meines Schwagers Ludwig in Grönenbach. Die Verwandtschaft konnte nur mit viel Mühe kommen. Nur wenige Züge verkehren, nicht jeder darf Autofahren außer mit Holzgas, die Ärzte mit Propangas. Ein Augsburger erzählt furchtbare Tragödien bei Luftangriffen auf die Stadt.
9. August 44: Schon vormittags 10 Uhr Sirenengeheul, das jedem so auf die Nerven geht. In Grönenbach rennt der Gemeindediener noch mit der Handsirene! Man muss sofort die Straßen verlassen. Starke feindliche Bomberverbände überfliegen bereits den Marktort, schwere Kondensstreifen nachziehend. Ich zähle 30 Stück – aber sie kommen von allen Seiten dazu – und sie nehmen die Hauptrichtung gegen München – andere zweigen ab Richtung Ulm. Ich bange um Memmingen. Dort steigen Jäger hoch und weiter nördlich entwickeln sich Luftkämpfe – ich sah Flugzeuge abstürzen. Rauchpilze im NO. Einschläge aus Kaufbeurer Richtung. Auf den Feldern arbeiten die Bauern weiter, obwohl feindliche Jäger auch plötzlich Tiefangriffe auf die Menschen auf Feldern und Straßen unternehmen. Der Nachmittag ist ruhig. Gewitterwolken!
11.-18. Juli 44: Zur Durchführung meiner Entlassung aus dem Heeresdienst musste ich nach Karlsbad fahren – mit gemischten Gefühlen; denn ich glaubte bei solcher Lage nicht, dass aus meinem Urlaub nun eine Entlassung werde. Kaum war ich am Ottobeurer Bahnhof angekommen, gab man Fliegeralarm. Der Zug fuhr trotzdem

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oder deswegen schnell ab – hielt aber nach Hawangen im Walde, weil einige Flieger zum Tiefangriff auf den Zug ansetzten. Die Frauen flüchteten mit ihren Kindern in den Wald. Ich setzte mich auf die andere Seite, andere lagen unterm Bahndamm. Wir hören nun die Bordwaffen der Flieger. Sie beschießen die Bauern auf den Feldern und werfen Kanister in die Felder. Das Getreide sollte brennen, damit der Hunger größer werde! So lieb sind die Menschen zueinander. Wir fahren weiter. In Ungerhausen die gleiche Komödie! Vom Memminger Flugplatz her sehen wir drei Brände – wahrscheinlich Flugzeuge. Weitere Fahrt ohne besondere Ereignisse. Ich kam erst am anderen Tag 7 Uhr in Karlsbad an. Übernachtung im Wehrmachtsheim Nürnberg am Hauptbahnhof. Dichter Nebel im Egertal. Das Lager war still wie ausgestorben. Es klappte und ich fuhr am gleichen Tag zurück, wartete in Eger von 20 Uhr bis 2 Uhr und noch eine Stunde vor der Schiene auf den verspäteten SFR nach Nürnberg. Erster Alarm vor Treuchtlingen, der zweite vor Buchloe. – Daheim Anmeldung beim Schulrat und beim Wehrmeldeamt in Memmingen. Ab September wieder Schuldienst. Der bisherige Schulleiter ist versetzt. Ich überließ die Dienstwohnung im Knabenschulhaus am Marktplatz (alte Peterskirche) der Lehrerin Gerhäuser.
23. August 44: Großangriff in Frankreich. So lassen uns die Bomber vorerst in Ruhe. Herrliche Tage! Prima Wetter. Zwischen Memmingen und Buchloe schwerer Hagelschaden. Schlossen faustgroß! Militärische Lage kritisch. Kaum dass noch jemand an den Sieg glaubt. Kein frohes Gesicht – jeder hat seine Sorgen, seinen Kummer!
16. Oktober 44: Unfreiwillige Unterbrechung der Einträge. – Jetzt massenweise Einberufungen um die Lücken der Verluste aufzufüllen! Die Zahl der Gefallenen steigt immer mehr. Gestern Abend die Nachricht von Japans Überfall und Seesieg bei Formosa. An allen Fronten Großangriff. – Auf der Kanzel fragt unser Pater bei seiner Kirchweihpredigt: „Wohin trägst du deine Sorgen? Wo holst du Trost und Hilfe, im Ratshaus oder im Gotteshaus?“ Die Partei setzt überall Redner ein, um das verzagte Volk wieder aufzumuntern, weil man ganz zuletzt mit Geheimwaffen siegen wird!!!
    Am Samstag ist Bürgermeister Fritz Einsiedler von Moosbach-Lachen †; er war mir ein lieber aufrichtiger Freund. Vor kurzer Zeit habe ich ihn noch gesprochen. Er, der gläubige Nationalsozialist war ganz hoffnungslos – am Tage nach dem Angriff auf Memmingen – als die Sprengbomben unweit seines Tannenbauerhofes niedergingen, sagte er zu mir: „Man hat uns belogen und betrogen!“

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Der gute, gläubige Mann hatte Tränen in den Augen stehen. Er liegt auf dem Theinselberg begraben. Oft habe ich ihn gebeten, die umgestürzten, von Moos überzogenen Grabsteine vom Friedhofkrieg herstammend, doch zu entfernen, dass wirklich Gras über jene kleinlichen Streitigkeiten wachsen würde. Es ist geschehen! Die letzten Wochen waren überreich mit Alarm bedacht – noch können wir meistens nachts schlafen. - Rommel angeblich gestorben! Man sagt, er starb, weil er dem Führer empfahl den Krieg zu beenden. Er ist aber nicht am Kraftwagenunfall †, sondern zum Selbstmord gezwungen worden – aber Staatsbegräbnis – so verlogen!
18. Oktober 44: „Der Sturm bricht los!“ Der Volkssturm wird aufgerufen! Von 16 bis 60 Jahren alle Männer in allen Gauen sind aufgerufen sich zu rüsten – totaler Krieg! – Aachen eingeschlossen. Der Feind nähert sich Köln. – Der Russe an der Grenze Ostpreußens! Täglich Sirenengeheul, in frontnahen Städten ist Daueralarm. Die Menschen verkriechen sich in den Städten; denn der Feind hat die Luftherrschaft. Unsere Flieger sollen zu wenig Benzin bekommen. – Man spricht von Turbinenflugzeugen, die bis 1200 skm [kmh] fliegen können. Soll dies die Wunderwaffe sein? – Man fürchtet die feindliche Rache wegen der verschleppten Millionen von Arbeitern(innen) aus dem Ausland, man denkt an ihren Aufstand im eigenen Land, an ihre Sabotage in Waffen- und Munitionsfabriken. Man fürchtet die Hungersnot, die Greuel und Racheakte, wenn der Krieg verloren geht. Wie man doch alles enden? Was wir anderen Völkern angetan, wird nun über uns kommen.
20. Oktober 44: Heute war Heldengottesdienst für den gefallenen Panzersoldaten Brosig, diesen lebenslustigen, netten Menschen! Ich habe ihn in seinen Urlaubstagen in meine Schule eingeladen; er erzählte den Jungen von der Dünkirchenschlacht. Ich sang ihm mit dem Männerchor Ottobeuren den Bardenchor. – Heute wiederholt Alarm. Um ¾ 12 Uhr überflog ein Bomberpulk unseren Ort in Richtung München. Meine Frau ist in Sorge um ihre Schwester Herbst in Neustadt/Weinstraße. Sie sitzt Tag und Nacht im Keller. – In der Schule hab ich 60 Buben in der 7. u. 8. Klasse zusammen.
23. Okt. 44: Alarm, Alarm!!! Ein großer Pulk überfliegt Ottobeuren in Richtung Ulm. Tiefhängende Wolken – keine Sicht – kurze Zeit doch im Keller bis der Verband abgeflogen war. –
24. Oktober 44: Ein Tag ohne Alarm! Die Schulbuben erzählen: In der Nacht mussten viele Männer Posten stehen – feindliche Fallschirmabspringer seien angesagt gewesen.

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Beim gestrigen Terrorangriff auf Augsburg seien 33 feindliche Bomber abgeschossen worden. Vermutlich wurde bei den gefangenen Piloten Karten über Luftlandungen in unserem Raume gefunden. Deswegen Nachtwachen! Unsere Flieger suchten im Tiefflug unseren Raum ab. In Ostpreußen fiel Goldap in die Hände der Russen. Dort ist der 17-jährige Theologiestudent Winfried Lochner (Grönenbach) bei d. Flak gefallen. – Aachen ging verloren. Köln kommt nun daran. –
25. Okt. 44: Heimatpfleger Dr. Alfred Weitnauer kam heute nach Ottobeuren. Er fotografierte das Kloster und Einzelteile, auch die bekannte Photografin Hitlers Lala Aufsberg und andere Männer haben die Basilika innen – alle Teile – farbig aufgenommen, damit man die Basilika wieder herstellen kann, falls sie vom Feind zerstört würde. Ist das nicht traurig? – Wir wollten gestern Kohlen bestellen – ohne Erfolg. Man wird frieren müssen. Ich hole Tannenzapfen! Mutter stopft täglich die Kinderstrümpfe. Man bekommt ja keine Wolle. Fleck kommt auf Fleck! Was man kaufen will, „wir haben es schon lange nicht mehr!“ hieß es jedesmal. Viele Geschäftsleute sind unfreundlich, protzig; sie denken nicht daran, dass die Zeiten sich wieder ändern werden. Am besten funktioniert der Lebensmittelmarkt – jedoch nicht was Quantität und Qualität betrifft. Beim Metzger steht man lange an. Hier leben 940 Evakuierte, hauptsächlich von Essen und Düsseldorf. Wegen Frontnähe und Luftgefahr hat man Frauen und Kinder umgesiedelt bis Kriegsende. Man findet mit den Frauen keinen Kontakt. Sie sind verwöhnt, vergnügungssüchtig und anspruchsvoll – natürlich den Schwaben im Schnellsprechen überlegen! Was ihm schon gar nicht passt, wenns so hochdeutsch heraussprudelt und man die Ohren spitzen muss. Im 6. Kriegsjahr ist ihr Grundsatz: wenig arbeiten, gut essen, viel sich vergnügen und viel schlafen. Rheinländer und Schwaben sind wie Feuer u. Wasser.
26., 27. Okt. 44: Propagandaminister Goebbels sprach heute. An seine Wunderwaffen will niemand mehr glauben – wer es noch glaubt, wird ausgelacht. Politische Witze kursieren immer mehr. Man macht sich über den Witz die nötige Luft und hört zugleich auf die Stimmung des Nachbarn. In einen Laden kam ein Mädchen und grüßte mit dem „Deutschen Gruß“. Der Ladeninhaber sagte: „Die ist aber noch national.“ – Alles lachte darüber. Soweit ists nun gekommen. Den hiesigen Kreisredner S.[Schwarz od. Schurrer?] heißt man „den kleinen Goebbels“. Er ließ seinem gefallenen 19-jährigen Sohn keinen Trauergottesdienst halten – so stolz war man.
28. u. 29. Oktober 44: Ich fuhr nach Ollarzried, um Orgel zu spielen. Gegen 12 Uhr wurde die Sturmglocke geläutet, das einzige Glöcklein, das der Völkerkrieg noch im Turme ließ. Von Ottobeuren her

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hörte ich die Sirene. Ich dachte: Hoffentlich ist meine Frau mit den Kindern im Keller! Zwei schwere Detonationen von Norden her. Der Luftdruck drückt die Haustüre auf, man spürt die Luft im Gesicht. Augsburg oder Ulm waren die Opfer. Fast den ganzen Nachmittag und Abend immer Alarm. Man spricht nur noch von den unglücklichen Stadtbewohnern. Übrigens mussten schon 1941 und 1942 überall die Kirchenglocken bis auf die einzige kleinste abgeliefert werden. Auf diese Weise wollte man gleich vorbeugend die eherne Sprache der Kirche für die fernere Zukunft zum Verstummen bringen.
30. Oktober 44: Man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben. Er brachte 20 Uhr doch noch das aufregende Sirenengeheul. Die Presse warnt die Bevölkerung vor feindlichen Tieffliegern.
Letzter Oktobertag 44: Es ist 21 Uhr. Eben ist der 3. Voralarm des Tages verheult. Niemand geht in den Keller. Der Mensch wird schnell leichtsinnig. In der Nacht abermals Alarm! Es ist mondhell! Der Feindsender – es ist streng verboten ihn zu hören – meldet nur noch Erfolge an allen Fronten. In größeren Städten ist der Volkssturm bereits aufgestellt. Schwere Kämpfe in Holland und Ostpreußen. Aus dem Radio kommt als neues Lied: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!“ Gegenwärtig ist die Verdunklungszeit vom 30.10. - 5.11. von 17.30 Uhr ab bis 6.30 Uhr!
1. November 44: Ich war beim Grönenbacher Zahnarzt. Heute wurde der Memminger Flugplatz angegriffen – die Stadt brennt! - es war eine Ente!
2. November 44: Miserable Nacht. Konnte nicht zur Schule. Alarm! Von Westen her Bombeneinschläge hörbar. Einfältige Leute reden von „Englischen Erdbebenbomben“. Die Presse fordert auf zur Papiersammlung u. Altmaterial – gibt Anweisungen über das Verhalte bei Tieffliegerangriffen.
3. November 44: Trübe, nasskalt, regnerisch! Gegen Mittag den üblichen Alarm. Ich musste mit einem HJ-Jungen vors Jugendgericht, um seinen Vater zu vertreten. Das Urteil war schon vorher festgelegt. Artilleriefeuer will man von Westen her gehört haben. Kommenden Sonntag soll in Ottobeuren der Volkssturm aufgestellt werden. Die Grönenbacher brachten 100 Mann zusammen und hatten 4 ganze Gewehre. Darüber lacht man in Ottobeuren. Seit langer Zeit meldet die deutsche Flak einen Abschuss von 134 Maschinen! Die Offensive der Russen mit dem Ziel Berlin sei zusammengebrochen. Jetzt wird schon mit solchen Großenten gearbeitet! Alles kommt durcheinander. Wird wohl nach dem Kriege Friede unter den Völkern sein? Es sieht nicht so aus.
Samstag, 4.11.44: ½ 12 Alarm. Die Schüler haben innerhalb von 3 Minuten das Schulhaus geräumt. Um 12 überfliegt ein schwerer

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Bomberverband das Günztal – aber in westlicher Richtung. Man spricht von 1400 Maschinen, die durch das Radio gemeldet sein sollen. Wir eilen in den Keller. Nach ¼ Stunde ist die Gefahr vorüber. – Morgen 10 Uhr im ganzen Landkreis Aufstellung des Volkssturms. Auf dem gemeindlichen Vorladungszettel steht: „Als Angehöriger des Volkssturmes haben Sie sich am Sonntag, den 5. November 1944  zum ersten Appell um 10 Uhr in der Kaserne 2 einzufinden. Dieser Gestellungsbefehl ist mitzubringen. Unentschuldigtes Fernbleiben wird nach den Kriegsgesetzen bestraft. Schriftliche Entschuldigung (bei Krankheit) sind an den Kreisstabführer des Volkssturmes (Kreisleitung Memmingen) zu richten.“ Stempel der Gemeinde und Unterschrift des Bürgermeisters Hasel.
    Der VS soll am Karabiner, am Granatwerfer u. Panzerfaust ausgebildet werden – Kompanieführer sollen in Kursen geschult werden.
Sonntag, den 5. November 44: Der erste Appell des VS ist beendet. 3 Kompanien hat man aufgestellt. Bezirk der Pfarreiumfang. 2 Kompanien stellt der Marktort selbst. Jede Kompanie hat 3 Züge, jeder Zug 4 Gruppen zu je 10 Mann. Ich gehöre zur 2. Komp. 3. Zug – als Gruppenführer des 3. Zugs. Das war alles schon vorher festgelegt. Komp.-Führer Peter Rinderle, der Sonnenwirt, ein beliebter, anständiger und kein fanatischer Mann. Nach dieser Aufstellung Abmarsch zum Appellplatz auf der Ottobeurer Maibaumwiese neben der Basilika. Die 3. Komp. im Viereck aufgestellt. Kreisleiter Schurer [Schurrer?] hielt die Ansprache. Während derselben hörte man vom Westen her Bombeneinschläge – andere meinten Artillerieübungsschießen bei Biberach. Die Aufmerksamkeit und die Gedanken waren nicht beim Redner. Wie sollen die kranken, teils „bresthaften“ Männer retten können, was die gesunden verloren? Der Rede Schluss: „Wir grüßen den Führer!“ – es klang als hätten nur einige miteingestimmt, was den Redner sichtlich enttäuschte. Nächsten Sonntag soll Vereidigung sein. Die Jahrgänge 16-20 werden von der HJ (= Hitlerjugend) erfasst – gibt fast 1 Komp. – Alarm – Bomber – Sonnenschein! Wunderbarer Herbsttag. Könnten die Menschen doch Frieden machen und halten! – Ich fahre nach Böhen zum Grab meiner Eltern. Man hat den Tag der Toten abgeschafft – es gibt trotzdem immer mehr. Im Hause meiner Schwester sprach ich mit einem  serbischen Kriegsgefangenen – auch seine Heimat sei von den Russen besetzt. Er: Bei den Russen muss man nur die Parteileute fürchten, nicht die Soldaten; es sei alles Propaganda. Der Krieg dauere bei solcher Gegenwehr wohl noch ein Jahr und fordere viele Opfer.

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In Ottobeuren wohne ich neben dem Lager der Ostarbeiter: Polen, Russen, Serben … alles Frauen. Sie arbeiten zwangsweise seit Jahren in der Brauerei-Darre bei der Herstellung von Kartoffelschnitzel. Kinder dieser Frauen betteln in ihrer Umgebung Brot. Sie haben immer Hunger und bekommen auch – geheim! Die Leute verhalten sich auf den Straßen und an ihren Arbeitsplätzen durchwegs anständig und fleißig. Sie sehen auf Sauberkeit. Die Mädchen unterscheiden sich von einheimischen oft nur durch ihr Ostabzeichen an der Bluse. Im Kasernenhof sahen die Leute bei der Aufstellung des VS sehr verbittert zu. Sie dachten wohl: Wenn da noch soviele Männer stehen, müssen wir noch lange auf unsere Heimkehr warten.
6. und 7. November 44: Ich sah ein Schulmädchen rauchend auf der Straße! HJ untergräbt die Autorität der Erzieher, der Geistlichen, selbst der Eltern! Welche Früchte werden wohl einmal geerntet werden? Jugend kann sich eben nicht selbst erziehen! Jugendappelle sind am Sonntag während des Gottesdienstes. Absicht! Wer fernbleibt, zahlt 3 M. – Will der Vater nicht zahlen – Anzeige beim Kreisleiter – dann ist man verdächtig! Sie bekommen in ihren Lehrerbildungsanstalten kaum noch Zuwachs. Wer möchte sich auch dauernd mit der HJ herumärgern! –
Mittwoch, den 8.11.44: Sturmnacht! Bäume und elektrische Masten liegen geknickt. Kein Strom! Erster Schnee. Mein kleiner Bub möchte schneeschaufeln – darf aber in diesem Tratsch nicht, denn er hat nur ein paar Schuhe. Bittere Tränen! Sensation: Radio meldet den Einsatz der V2 Rakete – furchtbare Wirkung. „Ein furchtbar Schrecknis ist der Krieg!“
Donnerstag, den 9.11.44: Um 15 Uhr wird es plötzlich dunkel. Es blitzt, Hagel und Schneegestöber! Nach kurzer Zeit wieder klares, kaltes Wetter. – England meldet die verheerende Wirkung der V2 – das Geschoss sei schneller als der Schall und 16 m lang, berge 1 Tonne Sprengstoff. Reichweite 600 km. Steuerung wie V1 mit Rauchfahne nachziehend. Erfindungen um zu morden.
Freitag, 10.11.44: Schneegestöber! 14 Uhr Alarm! Großangriffe bei Metz. Hitler sprach heuer am 9. Nov. zum ersten Mal nicht zu seinen Volksgenossen! Ist das verdächtig? Die Stimmung ist etwas besser. Man meint, die V2 könnte den Krieg doch früher beenden. Die feindliche Luftwaffe bleibt überlegen. Spruch: Die Zeiten sind wie das Wetter – und dies taugt nichts!
Samstag, 11.11.1944: Mittags 12 Uhr Alarm. Sämtliche Ottobeurer Schüler, samt Zöglingen der flämischen Lehrerbildungsanstalt (untergebracht im Kloster) hatten Singprobe im Klosterhof – wegen Alarm unterbrochen!

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Sonntag, den 12. Nov. 44: Frischer Wintertag – man sieht die ersten Schlittengespanne – Bauern fahren zur Kirche, die Männer zur VS Vereidigung am Kriegerdenkmal/Marktplatz. 732 Mann! Aus mir machten sie über Nacht einen Kompanie-Feldwebel und Kompanie-Schreiber. Auf der Kirchentreppe die Schuljugend-HJ-Fahnen, Fahnen! Eltern der Gefallenen am Denkmal – Ehrenabordnungen – BdM legt Kränze nieder – Bürgermeister verliest jeden Namen – während der Gedenkfeier Alarm – Flieger in östlicher Richtung – man sieht Kondensstreifen. Der Zeitungsreporter neben mir sagt: Jetzt wäre es Zeit zu verschwinden – wenn die uns merken, kriegen wir was ab! Man wurde unruhig. Bauern unterhielten sich überlaut. Ein NSFK-Mann schreit dazwischen: „Ja Hergott, könneter it still sei, mir hand doch koin Viehmaht!“ Man lacht und viel hilfts nicht zur Herstellung der Ruhe. Nach der Heldenehrung spricht der Kreisschulungsleiter und der VS Battl.-Führer und leitet die Vereidigung ein. Eine lange Formel wurde vorgesprochen – aber lange nicht von allen Männern nachgesprochen. Gedacht hat man sich: In der Formel brauchen sie Gott – sonst kennen sie ihn nicht. Es fehlte die innere Bereitschaft. – Ich habe meinen 40. Geburtstag. –
Mittwoch, den 22. Nov. 44: Mittags Alarm! Musste die Schule unterbrechen. Geschwader über Memmingen – man wird besorgter – Luftschutzkoffer wird gerichtet – Volksgasmasken sind verteilt – Erbitterte Kämpfe entlang der ganzen Westfront. Ich kann den Kindern kein Spielzeug kaufen, denn ich habe nichts zu tauschen – bastle eben das Zeug selbst. Alles tauscht gegen Lebensmittel und Textilien. Meine Buben klebten der Kinderanstalt 20 Kartonflieger; auch die Schwestern basteln für die 100 Kinder alles selbst.
Samstag, den 25.11.44: Die Schlechtwetterperiode brachte uns etwas Ruhe und wenig Alarm – wie das beruhigt! - Es wird der gesamte Waffen- und Munitionsbestand der Bevölkerung aufgenommen. Der VS hat noch keine Waffen bekommen – man exerziert nur – alles ist Zeit- und Kraftvergeudung! Feindliche Panzer vor Straßburg! Mit Riesenschritten gehts dem Ende zu. – Kohlenot in allen Häusern. – In den Städten auch der Hunger! Man hat das Lachen ganz und gar verlernt. – Heute früh 4 Uhr Alarm. Meine Frau sagt: „Wir stehen nicht auf!“ Ich tue es doch, sehe zum Fenster hinaus – höre Einschläge von Stuttgart her.
Sonntag, den 26.11.44: Sprach heute mit einem „Alten Kämpfer“,  das sind Leute, die schon vor 1933 Parteigenossen waren und am Rockkragen das Goldene Hakenkreuzabzeichen tragen und am Gürtel der ewigbraunen Uniform einen Dolch hängen haben. Mein alter K.

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trägt es nicht mehr – viele andere haben es ebenfalls abgelegt. Die Zeiten und Ereignisse haben manchem andere Ideen beigebracht. Die Landbevölkerung hat Hitler nie ganz gewinnen können, trotz seiner großzügigen Sanierungen und Lehre von Blut und Boden – Ursache: Man hat ihn als einen Antichristen erkannt. – Die Volkssturmmänner haben immer noch keine Armbinden bekommen; ohne Kennzeichnung als VS ist man Zivilist und was der Feind mit bewaffneten Zivilisten macht, ist weltbekannt. Man will bei uns ein Partisanentum organisieren – sie sagen Werwolf. Von den Russen hat man manches abgeschaut und nachgeahmt – nur nicht die Schweigsamkeit. – Die Ottob. Komp. hat insgesamt 4 Gewehre –, man übt laden und sichern.
Montag, 27.11.1944: Sirenen wecken uns um 5 Uhr. Die Luft voll Gedröhn – der Lärm nimmt immer mehr zu – viermotorige Bomber – von verschiedenen Richtungen kommen zahlreiche Geschwader. Sie fliegen Augsburg und München zu. Man sieht die Landsberger Flakgranaten aufblitzen, Scheinwerfer tasten den Himmel ab – es blitzt, und blitzt über der Stadt von Flak und Bombenwurf. Es rauscht, dröhnt und brummt über uns. In nächster Nähe ein greller Blitz. Besorgt wecke ich Frau und Kinder. Seit einer halben Stunde fliegen sie vorbei, die riesigen Bomber, und immer noch ist keine Ende. Erst nach 6 Uhr wird es wieder ruhig. Tausende müssen es gewesen sein! Alles sprach heute über diesen Feindangriff auf die hilflosen Bewohner unserer Städte. Gegen Abend Voralarm. Radio meldet Einflug nach Süddeutschland. Die Waldbäume hängen voll Lametta wie die Christbäume. Man will mit diesen rauschenden Staniolstreifen den Funkverkehr stören und das Anpeilen unmöglich machen. – Raucher haben es schwer. Pro Tag und Kopf 2 Zigaretten, Frauen 1 St. Unter Hand erwirbt man rumänischen Blättertabak, von unseren Soldaten heimgeschickt. Eigenbau-Fachmann ist Eduard Mayer von Ottobeuren. Man schneidet die Blätter mit Mutters Nudelmaschine, gibt prima Feinschnitt.
Den 29. November 44: Viele Leute sind krank – ruhrähnliche Erscheinungen – 6 Uhr wieder Alarm. – München brennt, eine schöne Stadt brennt seit dem gestrigen Angriff. Zahllose Brandbomben, Stabbrandbomben liegen auf den Straßen – viele Blindgänger. Männer werden nach Westen zum Schanzen abkommandiert.
Den 3. Dezember 44: Eine Woche mit täglichem Alarm, viel Unterrichtsausfall – viel Schreiberei wegen VS und Besprechungen, die nichts helfen können. Schlacht um Aachen!! Die Presse veröffentlicht Bilder von zerstörten Domen. Titel: Das sind die christl. Soldaten!

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4. Dezember 44: Regen und Schnee – ein fürchterliches Wetter. Trotzdem Feindflug. Der 1. Alarm bereits um 13 Uhr – ich schickte die Schulbuben weg; der 2. um 20 Uhr. Man hört westl. Bombeneinschläge. Angriffe vermutlich auf Ulm. Ich hörte eine Viertelstunde zu. Abfliegende Maschinen nähern sich dem Günztal. Andere fliegen Richtung zum Memminger Flugplatz. Der Alarm kam erst 5 Minuten nach den Bombeneinschlägen. In Memmingen ist nichts passiert. Die Leute sagen: „Die fliegen jetzt auch bei schlechtem Wetter.“ Stratosphären- oder Terrorbomber (lt. Presse) werfen jetzt auch ohne Sicht mittels neuer Instrumente ihre todbringenden Lasten auf die Städte ab. Ist der Teufel wirklich los? –
5. Dezember, Klausentag!  Der Klaus kam, brachte wenig – mein Kleiner behauptete: Er hat um den Mund so ausgesehen wie der Klosterbruder Barnabas – und hatte recht. Mein Schwager auf Urlaub vor Abstellung ins Feld (Front). Was da die Münchener erzählen, wäre nichts für Parteiohren! Im Brief der Schwägerin aus der Pfalz heißt es u. a. Wir haben den ganzen Tag Alarm – ich weiß nicht mehr, was ich kochen soll – gäbe es wenigstens Gemüse! – Wir wissen nicht mehr, wann man einkaufen gehen kann, so lange dauern die Luftalarme – jetzt gehen wir nur noch in den Keller, wenn es bummert und in nächster Nähe die Bomben fallen. – Hoffentlich hält der Westwall allem Ansturm stand. … Unser NS-Führungsoffizier sagte, dass wir bestimmt den Krieg gewinnen werden!!
6.-9. Dez. 1944: Tägliche Luftwarnungen. Münchner Frauenkirche zerstört. Schulbetrieb arg gestört. Alarm von 11 - 14 Uhr. Um 13 Uhr überflog ein starker Verband unser Gebiet. Schwere Detonationen um Ulm. Bis in Ottobeuren zittern Fenster und Türen. Wir gehen ¼ Stunde in den Keller, bis das Donnerrollen verstummt. Ein Feindflieger kam ganz langsam über unseren Ort – wahrscheinlich angeschossen! Es werden wenig Flugzeuge abgeschossen – bei dieser hohen Einflugszahl! Man spricht jetzt von deutschen Rammflugzeugen! Was wird wieder Wahres daran sein? - Die Schulhausmeisterin zeigte mir ein Stück selbstgemachte Kernseife. Die KK-Kriegsseife ist aus Sand und Kalk.
10. Dezember 44: Sonniger, schneefreier kalter Tag. Außer verliebten Russenpärchen niemand auf der Straße. 1000 Zentner Kartoffel liegen im Bräuhausgarten und werden zu Kartoffelflocken gedörrt. In den riesigen Klosterkellern sind B[F]utterlager, Sanitätslager des Fliegerhorsts Memmingen, in den Dachräumen Tabakballenlager. Ein Raucher wird ganz krank, wenn er seine Tagesration mit solchen Ballen vergleicht. – Luftraum unruhig – 11 Uhr Alarm. Der VS im Schulhaus beim Unterricht grinste – bei Alarm gehts raus. Man versuchte mit dem Märchen neuer Waffen Hoffnungen zu erwecken.

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Eben rast und poltert ein Turbinenjäger übers Haus – bei 1000 km. Gestern haben sie Ulm, Weißenhorn und die Bahnlinie Ulm – Augsburg bombardiert. Jetzt wird der Verkehr lahmgelegt! Gestern 20 Uhr Probe der Männer in Michelers Gefolgschaftshaus – Alarm – wir sangen im Keller weiter! Eine eigenartige Probe!
13.12.44: Jetzt ist tgl. gegen Mittag und Nachmittag Alarm. Am Montag saßen wir im Keller. 2 Zentner Kohlen für den langen Winter bekommen. – Überall überfüllte Lazarette – überall Chaos – es tauchen jetzt plötzlich überall sog. Prophezeiungen auf, die abgeschrieben und geheim weitergereicht werden. Sie sind von der Gegenpropaganda.
Samstag, den 16. Dez. 44: Mein Schulrat sagt, dass mit dem Schulunterricht nach dem 15. Januar wahrscheinlich nicht begonnen werden könne. Es würden den Schulen die Kohlen beschlagnahmt. – Wieder Angriffe auf Augsburg, Kempten, Füssen! – sagt man. Nicht alles ist wahr. Jedoch zittern bei uns die Fenster. Dann fallen meistens die Bomben im Allgäu.
Sonntag 17.12.44: Es ist 23 Uhr 15 Min. Wir kommen eben aus dem Keller. Wieder sah ich Flieger in Richtung München fliegen. Wir sehen die suchenden Scheinwerferstrahlen am Nachthimmel. Über das Bräuhaus hinweg ist alles so hell, als wäre jetzt Sonnenaufgang: Gelbe und rote Blitze. Flakbeschuss. Dazwischen bummerts von Bombeneinschlag. Die Bewohner beobachten vor den Haustüren! Seit über einer halben Stund fliegen die feindlichen Bomberverbände über uns hinweg. Plötzlich spüre ich einen Luftdruck im Gesicht. Das ganze Haus erzittert – in unserer Nähe muss eine Bombe gefallen sein – es sei ein Flugzeug abgestürzt, hieß es dann. Landsberg schießt grün – Abflug? Die Bomberverbände geraten wieder in heftiges Flakfeuer und suchen im Tiefflug zu entfliehen. Kommen auch über unser Haus. Sternklar ist die Nacht, wir sehen die Schatten enteilender Flieger. 12.30 Entwarnung. Das häufige Sirenengeheul schreckt das Herz und macht so nervös. Es war ein Angriff auf Memmingen – alles rot – wir meinen, es brenne der Flugplatz. - Am Vormittag Alarm. Auch unsere Jäger haben es wichtig. Ich traf einen holl. Matrosen. Dort sei alles unter Wasser gesetzt. Der Engländer komme nicht mehr vorwärts und könne keine Panzer einsetzen. Ein Witz ist im Umlauf: Wenn man krank ist, sieht man gern den Nachbarn kommen! – Winterschlacht im Westen.
19. Dez. 44: Lt. Radiomeldung waren die gestrigen Angriffe nicht auf Memmingen, sondern Ulm und München gerichtet. München bös zugerichtet – auch das Deutsche Museum sei getroffen. Ganz nahe davon wohnt mein Onkel Max in der Rabelstraße. Vormittags vor 10 Alarm bis Mittag, gegen 20 Uhr Vollalarm. Kinder eilen auf die Wiesen. Sie sammeln Lametta.

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Letztes Aufbäumen – Gegenangriff seit 16. überraschend an der Westfront. Auf den Straßen besprechen kleine Gruppen das Ereignis. Gleich hat man wieder Hoffnung. Man sagt, Amerika wolle ganz Westeuropa dem Bolschewismus ausliefern. Ein anderes Gerücht, der amerikanische Jude Morgentau wolle aus Deutschland eine Schafödung oder Kartoffelland machen. - Das wäre Rache! Neue politische Witze: Auf Weihnachten gibt es 4 Pfund Fleischzulage pro Kopf: 1 Pfund vom Bock, der im Westen geschossen wurde, das andere Pfund vom Schwein, das Hitler am 20.6. hatte, das dritte von dem Bären, den uns Göring mit seiner Luftabwehr aufgebunden hatte und das 4. Pfund von jenen Eseln, die noch an den Endsieg glaubten. - Unterschied zwischen Knochen und Volkssturm? Der erste ist für den Hund, der zweite für die Katz(e)! - Was bringt wohl der nächste Tag?
20. Dezember 44: Es weihnachtet. Raureif prächtig! Glatteis. Mein Büble entdeckt seinen warmen Atem und sagt: „Bei mir kommt Rauch heraus.“ Ich baue den Kindern ein Lebkuchenhaus. 1 Mal Alarm. Westoffensive ginge voran. 100 000 Gefangene? Gegensätze England – Russland wegen der Kämpfe in Griechenland. England unterstützt dort den Exkönig, Amerika will den Erzbischof, Moskau den Kommunisten.
21. Dezember 44: Engländer demonstrieren gegen Churchill. Jetzt fliegen Feindverbände von Italien her über Bayern.
24. Dezember 44: 14 Uhr erste Entwarnung. Man ist es um diese Zeit bald gewöhnt, gestört zu werden. Seit der Offensive ist es doch etwas ruhiger geworden. Tiefflieger terrorisieren die Bevölkerung besonders im Rheinland. Zugfahren ist sehr gefährlich geworden. Sehr kalt. VS hat dienstfrei. Trotzdem keine Weihnachtsstimmung. Heiliger Abend! Dazu Alarm – Entwarnung – Alarm. Sirenen, Sirenen – Nerven, Nerven! Kohlenmangel – kaltes Zimmer.
Weihnachtstag 44: Kalt! Rote Nasen! Große Luftschlachten! 87 Abschüsse, V1 und V2 beschießen  immer noch England. Das Bier ist aus Molke gemacht – gefärbtes Wasser – man bleibt vollkommen nüchtern. Man bleibt lieber zuhause. ½ ltr. 30 & [Pfennig]. Ohne Preisstopp wäre Wucher! Man mag sich nicht mehr unterhalten, weil man nie weiß; Denunzianten nehmen zu. Man spielt Karten und sonst als Trumpf nichts.
Stephanstag 44: Natürlich Alarm bis Silvester 44: Tiefflieger tauchen immer öfter auf. Sie hätten beim Bahnhof Grönenbach Bauersleute beschossen. Bei Schoren 3 Bomben abgeworfen (Notwurf). Silvester – 365 sorgenvolle Tage. Es schneit – kein Alarm – Goebbels und Hitler werden sprechen. Aber sie wissen keinen Trost.

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Das Jahr 1945
Das erste Wort im neuen Jahr sprach Adolf Hitler über den Rundfunk. Er sehe mit Zuversicht den schweren Kämpfen entgegen und setze sein Vertrauen auf die Kraft des Volkes. – Kalte Winternacht. Man denkt an die Soldaten aller Fronten. Mutti und Karli besuchen einen unbekannten Verwundeten im Lazarett zum Hirschwirt. Seitdem ist neben der Kirche aus Ziegelsteinen ein großes Rotkreuz ausgelegt.
2. Januar 45: beginnt wie die alten aufhörten. Wieder Feindflüge, Alarme, Sorgen, Kämpfe, Not. Ulm wird angegriffen, Flakfeuer über Augsburg. Russe vor Budapest – brennende Städte – immer mehr Ruinen!
3. Januar 45: Gestern Nürnberg bombardiert. Der Radiosprecher sagt: „Achtung, Achtung, schwere Kämpfe – feindliche Kampfverbände am Anflug auf West- und SW-Deutschland. Die Hälfte der Frauen laufen jetzt in Skihosen herum. Die Frauen müssen heute ja auch überall den Mann ersetzen – und sie tun es musterhaft. Hier ist eine Schraubenfabrik in der Kaserne [von Jakob Fallscheer]; Martin macht Panzerteile, im Postsaal kleine Geschütze oder Maschinengewehre. Alles ist für die Rüstung eingespannt.
5. Januar 45: VS-Appell in der Sonne! Die Kohlen gehen aus! Unsere Schulkohlen kamen ins Altersheim. – Nachrichtendienst nichtssagend. – Das ist immer so, wenns was zu verschweigen gibt. Westofs.[Westoffensive] scheint festgefahren zu sein. Großangriff der Alliierten auch in Italien. Luftangriffe gehen haupts. gegen unseren Nachschub. Viele VS-Männer haben sich zum Arzt gemeldet – er kommt den Männern entgegen, zum Ärger des Battl.-Führers. Es gab nie mehr Männer mit Herzfehler. Auf höhere Anordnung hat man den VS in vier Aufgebote eingeteilt. Ich kam zum ersten; Ausbildungszeit bis Mitte März. In der Absentenliste fand ich auch Namen, die kraft ihrer bäuerlichen Lieferungsmöglichkeiten überhaupt nicht eingerückt waren. Man sagt: „Butter und Schmalz, verhalts!“
7. Januar 45: Die Engländer haben uns den ganzen Abend verpatzt. Nach 20 Uhr rief der Kuckuck – ich schaltete Laibach ein: Feindverbände im Anflug auf Bayern – schon heult die Sirene! In Richtung Ulm blitzt es grün auf, bald in allen Richtungen auch rot. Motorengebrumm kommt immer näher. Eine schwere Explosion nahm mir das Fenster aus der Hand. Das Haus zitterte. Einige hundert Bomber überflogen Ottobeuren in Richtung München. Wir gingen doch in den Keller. Bald erfolgte der Rückflug des Verbandes. Ins Bett. Nach einer Stunde, neuer Anflug auf München. 11 Uhr – immer noch das Gedröhne der schweren Maschinen. In der Nähe schepperts! Benzin-

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kanister wurden abgeworfen. Die Kinder schlafen wie Engele, während die Todesmaschinen über ihren Betten den Tod in die Städte tragen. Im Radio wird gesungen und musiziert wie mitten im Frieden. Jetzt werden hauptsächlich Bahnhöfe, Lagerhäuser und Bahnschienen, Straßentransporte – kurz der mögliche Nachschub angegriffen. Heute Nacht sind wieder tausende Bomber und Nachtjäger über dem Reichsgebiet, auch über Bayern, das sie sicher bald erobern wollen. Den ganzen Nachmittag musste ich wegen des VS vertrödeln. 23.15 Uhr wieder Anflug von Kaufbeuren her gegen W. Grellrot blitzt es dort auf, dann wieder Leuchtsignale und auch sog. „Christbäume“. Eine tolle wilde böse Nacht. Laibach gibt immer noch Einflüge bekannt – es dauert wohl die ganze Nacht. Denkt an die Mütter und Kinder in den angegriffenen Städten. Die Landbewohner nehmen die Alarme zu harmlos und gleichgültig. Wer jedoch einmal einen Angriff erlebte, ist vorsichtig u. besorgt.
Montag, den 8. Januar 45: Mutter schickt uns um 21 Uhr ins Bett. Sie zählt jetzt die Kohlen! Lothar habe ich einen Uller gemacht mit dem Schloss Grönenbach. Gestern nacht 2 Angriffe auf München. Schwere Schäden in der Innenstadt. Unsere Westtruppen seien in die Maginotlinie wieder eingebrochen. Es wird zur Kleidersammlung aufgerufen. Niemand hat mehr Übriges – kann man doch auch keine Textilien mehr kaufen.
10.-12. Januar 45: Den ganzen Tag Schreibarbeiten wegen VS. Schurrer bracht von Grafenwöhr eine Panzerfaust mit. Jetzt will er die hiesigen Komp. kriegsmäßig aufstellen und im Frühling soll abmarschiert werden!!! Die SA gab gestern nagelneue Mäntel und Hosen aus ihren Beständen für den VS aus. Aus München wird von schrecklichen Szenen berichtet. Auch Ottobeurer haben dort die Nacht überstanden. Hier und in Ollarzried warfen die Flieger wieder Christbäume – hoffentlich nur zur Orientierung. In der Bahnhofstraße hat die Explosion einer Bombe die Dachplatten vom Dach gerissen (Luftdruck), Abwurf vermutlich in Flugplatznähe. – Heute kältester Tag, aber der schönste. Wie schön ist die Natur im Raureif! Blutroter Sonnenaufgang – knirschender Schnee – Wildspuren im Garten. Ein Tag ohne Alarm. Ferienverlängerung bis 1. Februar wegen Kohlenmangel bzw. Einsparung. Irmele weint wegen kalter Hände, Karli weint, weil ihm ein Russenbube eine Ohrfeige gab; er hat ihn ja auch umgefahren. Ich schnitzte für meine Buben 27 Uller. Frontnachrichten besser!
11. Januar 45: 22 Grad unter Null! Die Raben, Elstern u. Häher sind in den Flecken gezogen. Von der Birke stäubt der Schnee. Russenbuben vergraben ihr Fäustle in den Hosentaschen. Die Günz

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ist fast zugefroren. Der schillernde Eisvogel am Silachweg fürchtet um seine Fischchen. Kein Alarm!
12. Januar 45: Das Wasser im Haus ist uns eingefroren. Gut dass ich viele Tannenzapfen habe. Der letzte Eimer Kohlen ist heute geholt worden. Der Kohlenhändler hat Transportschwierigkeiten wegen der Luftangriffe auf die Züge. Westfront in der Abwehr!
13.-15. Januar 45: 25 Grad Kälte! Auf der Günz laufen die Kinder Schlittschuhe. – Ohne Alarm! Russischer Großangriff an der Weichsel und in Ostpreußen. Im Lazarett zu Klosterwald liegen fast lauter Ungarn. Frau Reinl ist dorthin dienstverpflichtet. Am Sonntagabend Alarm. Überm Haus ein großer Pulk. Ich zähle 35 Stück solcher Silbervögel. Schon kommt der nächste Pulk, begleitet von Jägern. Die Hausbewohner stehen vor der Türe. Wir ziehen die Kinder an. Überm Bannwald ziehen sich Streifen senkrecht nach unten – Tiefangriffe? Auch über Memmingen ist ein Pulk Bomber – alle in Richtung Augsburg. Als ich den 11. Pulk mit je 30 und 35 Bombern plus 30 Jagdmaschinen zähle, sehe ich über Memmingen 2 senkrechte Kondensstreifen aufsteigen. Sie kommen rasch hoch. Turbinenjäger? Sie fliegen auf uns zu, setzen sich hinter den über unserem Haus fliegenden Pulk. Schon hören wir 2 Abschüsse von Bordkanonen. Der Verband stiebt auseinander als wäre der Teufel in sie gefahren. Weiter sah ich nichts mehr, denn ich rannte die Wohnung hoch, um Mutter und Kinder in den Keller zu bringen. Bald war der ganze nördliche Horizont ein Wirrwarr von Kondensstreifen. Die Vorentwarnung kam erst um 1.30 Uhr. Schwere Abwehrkämpfe im Westen! Offensive festgefahren! War heute am 15.1. im Ratshaus [Rathaus]. Es fand eine nationalsozialistische Trauung statt, mit Violinsolo, Harmoniumspiel. Bürgermeister und Ortsgrl. [Ortsgruppenleiter] in brauner Uniform – Ansprache des Standesbeamten. Kirchliche Trauung entfällt! Ukraine ist verloren. Hätten sie mit den Russen nicht angefangen, sagt man heute! Alles hat sich gefreut, als der Nichtangriffspakt mit Russland abgeschlossen wurde – alles hat sich geärgert, als man eine neue Front schuf. – Die Bauern müssen bis 1.2.45 alles ihnen nicht zustehende Getreide, Kartoffel und Heu abliefern, andernfalls würden ihnen Hausschlachtungen nicht mehr genehmigt. Auch die Milchkontrolle wird verschärft. Viele Bauern buttern nämlich zuhause und tauschen Butter gegen Textilien und andere Gebrauchsgegenstände. Das sagte mir selbst ein Bauer. In ihren Häusern kann man alles mehrfach finden. Zu den Nichtbauern sagt die Ladnerin: Leider nicht vorrätig – sehen Sie halt wieder einmal vorbei! Eine Beobachtung: Ich holte im hiesigen Geschäft (M) auf meine Raucherkarte Zigaretten. Es gab leider keine. Kurz nach mir kam ein Bauer. Ich beobachtete durch

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das Schaufenster und sah, wie er R6-Zigaretten erhielt. So ist es eben!
16. Januar 45: Über Mittag war ich mit meinem fünfjährigen Büble beim Friseur. Es kam Alarm. Gleich schrie er: „Flieger!“ Und wollte fort. Einer im Braunhemd kam herein und grüßte seiner Aufmachung entsprechend. Der Friseur gab ihm keine Antwort und sprach auch nicht mit ihm. – Vormarsch der Russen! - Die Bomber bewarfen Augsburg und Reutlingen. Es waren 600 Flieger eingesetzt – ich zählte 400. Bei der Omnibushaltestelle bei Moosbach fielen 2 Bomben. Kaum sieht man noch eigene Flieger. Sie sollen keinen Sprit mehr bekommen. Im Ungerhauser Wald stehen neueste Modelle und können nicht geflogen werden.
17. - 20. Januar 45: Es stöbert! - Abgetragene Kleider ins Rathaus getragen. – Alle Schnell- und Eilzüge werden eingestellt; nur noch kriegswichtige Fahrten sind genehmigt. – 2 Stunden Alarm (20.1.). In Schlesien ist der Volkssturm eingesetzt, Buben sind dabei!
Sonntag, 21. Januar 45: ½ m Neuschnee kam über Nacht dazu. – Schlechte Nachrichten – Amerikanischer Großangriff – heute öfters Alarm – eine V2 habe in England 700 Häuser zerstört. VS-Männer sammeln zum Volksopfer! – Wer sich an fremdem Gut vergreift, wird mit dem Tode bestraft. In diesem Kriege kommen die Bauern am besten weg. Viele sind zuhause, sie haben ihr Essen – keiner hungert und friert, sie machen die besten Geschäfte; es gibt aber auch hilfsbereite ohne Eigennutz! – Keiner traut dem Wort des anderen. Das Spitzeltum und die Angst verbiegen den Charakter!! Schon ein harmloser, von anderen nicht ver[be]griffener Witz kann den Spötter zum Steinklopfer im KZ machen. In einem benachbarten Ort ist ein Ortsgruppenleiter, der jeden und alles zur Anzeige bringt [vermutl. Hölzle aus Böglins für die Gemeinde Haitzen]. In Böhen wurde ein angesehener Bürger wegen eines Gasthauswitzes, den er weiter erzählte, verhaftet. Er hat sich im Memminger Gefängnis erhängt. Das hat vielen die Augen geöffnet. Ollarzried ist der einzige Ort, der in letzter Zeit 7 Mann zum Schanzen nach Westen schickte – sag: Schicken ließ! Üblich waren normalerweise, auch in großen Orten, 3 - 4 Mann. Wer nicht 100% erschien oder sonst ein Haar in Ortsgruppenleiters Suppe fallen ließ, musste weg. Nach ihrer Rückkehr gab es Krach im Orte – Folge: Aus den Schanzern wurden Soldaten!
22. Januar 45: „Jetzt das Herz fest in Händen halten!“ lautet die NS-Propaganda. Die Russen vor Oppeln. Sie kommen mit zehnfacher Übermacht. Man ist mutlos. Heute hörte ich sagen: Wir gehen alle miteinander noch betteln. Neue Russenpanzer seien selbst gegen die Panzerfaust immun. Man ärgert sich über die nichtssagenden Wehrmachtsberichte; darum hört man Feindsender!

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Churchill habe die Deutschen zur bedingungslosen Kapitulation aufgefordert – England würde eine Deportation (nach Russland) der deutschen Bevölkerung – so heißt es seit langer Zeit – nicht zulassen. Auch der psychologische Krieg läuft Hochtouren. Man weiß nicht mehr, wer besser lügt. Unser Volk verblutet an den Fronten und in den eigenen Städten. Aus unserem Land machen sie Ruinen. Selbst die Natur scheint mit der Hölle verbündet zu sein – das Schneegestöber braust und heult übers Land, meterhoch sind die Wächten und Schneemauern beiderseits der Straßen. Die Züge bleiben stecken – kommen mit stundenlanger Verspätung an – überall Kohlenmangel, doch ist die Kälte gebrochen. Der Kohlenhändler verteilt ungerecht – gibt dem Günstling mehr, dafür dem anderen weniger. Gerechtigkeit und Ehrlichkeit muss man mit Lupen suchen gehen. Ein hiesiger Evakuierter soll aus Polen einen ganzen Waggon Waren „verschoben“ haben; er lebe jetzt besser als vor dem Kriege! Es zeigt sich, dass der Anständige immer zu kurz kommt. Rauchwaren ausverkauft, steht an den Läden! Mein Arzt sagt, er sei ohne Holz und Kohlen! Von einem Bauern habe er nun einen Sack Brennholz bekommen.
23. Januar 45: Flucht im Osten. Tausende Mütter mit ihren Kindern waten durch tiefen Schnee, hasten mühsam durch den Schneesturm, Schutz- und Hilfesuchende vor dem nachrückenden Feinde. Unbeschreiblich sind Leid und Elend. Sie sterben im Schnee – Kinder suchen ihre Mütter – sie werden überrollt und als Gefangene zurückgetrieben. – Wer Blut sät, wird Blut ernten! Wer richtet, wird gerichtet werden.
Donnerstag, den 25.1.45: Verkehrsstörungen – Einschränkungen im Bahn- und Postverkehr. Man kann ohne Sondergenehmigung nur noch 75 km weit fahren. Briefe kann man nur noch im Ortsverkehr und zur Nachbarstadt senden. Auch die Bahn hat Kohlenmangel, die Bäckereien können ihren Kohlenbedarf nicht mehr decken und müssen schließen. Die Russen sind im Oberschlesischen Kohlengebiet eingedrungen – unsere letzte Reserve für Industrie und Verkehr ist verloren. Nun droht alles zusammenzubrechen. Auch im eigenen Land beginnt die Flucht der Frauen u. Kinder. Männer werden zurückgehalten. Am Ende wird einer den anderen nicht mehr finden. In ganz Schwaben kratzt man die alten Karabiner 98 zusammen um im Osten den VS ausrüsten zu können. Bei dieser Gelegenheit verlor der Ottobeurer VS die paar Karabiner. Der vernünftige Kompanieführer sagt lächelnd: „Umso besser!“ Der Wehrmachtsbericht meldet: Russen vor Breslau, Posen, Bromberg, 1400 Panzer abgeschossen. Jetzt geht die letzte Hoffnung beim Letzten verloren. Selbst der Ortgruppenleiter hat ein langes Gesicht bekommen, auch er hat aufgegeben.

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Die beste Laune in Ottobeuren haben derzeit die ausländischen Arbeiter, die Polen, Serben, Ukrainerinnen – sie sind über alle politischen und militärischen Vorgänge besser orientiert als wir Einheimischen – sie haben ja auch Radiogeräte. In den Wirtsstuben ist es noch stiller geworden und des Käswasserbiers ist man überdrüssig. Die Kartenspieler setzen sehr hoch ein – man weiß wie man den Wert unserer Scheine einschätzen wird, wenn alles verloren ist. Die Alten wissens von der ersten Inflation. Sie wird eine Nachfolgerin bekommen. – Einer verlor 50 Mark – er lachte dazu, als wären es 50 & [Pfennig] gewesen. Die Polen sollen noch höher spielen! 12.30 Uhr Alarm. Ich sehe größere Verbände. Aber das Radio meldete kurz darauf: Über dem Reichsgebiet keine Kampfverbände! - Die haben sicher unsere eigenen gemeint! In Italien Unruhen und Pockenepidemie – Waffenstillstand in Griechenland. Degol [De Gaulle] tritt auf! Japan verliert eine Insel nach der anderen, trotz Selbstaufopferung u. Todesmut. Truppen aller Herren Länder kämpfen wie im ersten Weltkrieg gegen uns Deutsche. Auch der U-Bootkrieg scheint verloren zu gehen. Die ganze Welt ist ein Hexenkessel. Darin wird getötet, gemordet, geblutet, gejammert, zertrümmert, zerschmettert und verbrannt, was brennt, gebrochen, was zu brechen ist.
Freitag, den 26.1.45: Endlich Nachricht vom Schwager in der Pfalz. Er ist daheim, weil er in Russland beide Füße erfroren hat – abgenommen! 30 m vor dem Wohnblock ging eine schwere Bombe in Neustadt nieder. Häuser sind ganz. Er schickt seine 3 Kinder ins Allgäu – wegen der vielen Alarme. Goebbels attackiert die Engländer damit, dass die Russen kaum am Rhein stehen bleiben würden und eben ganz Europa bolschewistisch würde; die Engländer sollten im schwersten Kampfe um das Schicksal Europas uns doch nicht in die Arme fallen.
Den 27. Januar 45: Wiederaufnahme des Unterrichts in Volksschulen ist bis 1. April verschoben worden – Kohlenmangel. Der Kohlenhändler sagt, man brauche nicht mehr nachzufragen. Züge!! Geflüchtete Oberschlesier erzählen, dass auf der Flucht viele Kinder erfroren u. gestorben seien. Man habe sie aus den Zugfenstern werfen müssen – bekanntlich hat der Viehwagen, in denen die Frauen waren, keine oder vergitterte Fenster. Arges Flüchtlingselend in Ost und West! Hauptwaffe ist derzeit die Panzerfaust. Sie besteht aus einem Rohr, einem groben Visier und einem Abzug. Im Kopf ein Sprengsatz, auf ihm ein Gummisauger, der sich am Panzer festsaugt. Im Bruchteil einer Sekunde ist die Panzerplatte durchschmolzen – die Gase im Panzer entzünden sich und zerreißen das Fahrzeug. In Dirlewang zielte ein VS-Mann auf ein Haus mit der Panzerfaust. Es wurde zerrissen!

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Die Propaganda macht der Bevölkerung Angst. Sie würde bei einer Niederlage gepeinigt, missbraucht, verschleppt – die ganze Bevölkerung Bayerns soll nach Sibirien verschleppt werden u. a. mehr! Unter den russischen Truppen in Rumänien seien Epidmien ausgebrochen – ebenso in Italien. Was ist wahr? Zweck solcher Botschaften?
Sonntag, 28. Jan. 1945: Heute ist Karl der Große. Auch sein Reich wurde zertrümmert. Nun kommt das Großdeutsche Reich Hitlers daran. Karl der Große kämpfte gegen das Heidentum – und heute umgekehrt das Christentum unter dem neuen Heilszeichen, welches das Kreuz ersetzen sollte. – Die allgemeine Briefsperre ist wieder aufgehoben.
Montag, den 29.1.45: Immer noch Schneefall! Immer weniger Schornsteine rauchen. Im Flecken sagt man: „Kauft Salz, es wird Mangelware!“ – Die Käser haben nur noch einige Tage Vorrat – es wird jetzt eingehamstert wo es geht. Eine Geschäftsfrau sagt, dass ein Bauer bei ihr zentnerweise Salz geholt habe. Darum wird es Mangelware! Eine Schachtel Streichholz bekommt man nur aus Gnade. Mir gehen die Rasierklingen aus – werde kaum neue auftreiben. Kürzlich wurde die HJ erfasst. Wer nicht erschien, zahlte 150 M Strafe. Überall Zwang!
30. Januar 45: Mutter war in Kempten beim Arzt. Die Züge sind ungeheizt, zerrissene Fenster mit Pappe vernagelt. Züge überfüllt, Stehplatz zwischen den Sitzreihen! Neue Kältewelle und Schneesturm. Kaum ist unsere kleine Küche warm zu bekommen. Heute ist der 12. Jahrestag der Machtübernahme Hitlers. Was zum Troste wird er sagen? Er sagt: „Wir werden die Waffen solange führen, bis am Ende der Sieg unsere Anstrengungen krönt! – der Ansturm im Osten wird gemeistert werden.“ Nachts Alarm, mittags wieder Alarm. Die Tageszeitung erscheint heute als einziges, doppelseitig bedrucktes Blatt. Früher verbrauchte der „Völkische Beobachter“ täglich eine Are Holz eines 20 - 30-jährigen Bestandes. Raubbau treibt der „Reichsforst- und Jägermeister“ Hermann Göring im deutschen Wald. 30 Jahre seien voraus geschlagen worden. Die Natur wird diese Lücke lange nicht aufholen können. Auch die Holzgaserautos verbrauchen einen ganzen schönen Teil Holz.
31. Januar 1945: Föhn hat sich eingestellt. Von den Dächern tropft das Wasser, die Wälder sind schwarz geworden! Und jetzt beginnt der Regen – in den tiefen Schnee! Vor dem Rathaus stehen viele Bauern mit ihren Pferden. Die besten müssen abgeliefert werden. PS als Ersatz für Benzin! Ich höre auf die Reden der Bauern: Man sollte den Krieg beenden, man spricht gegen die kürzliche Führerrede, der zum letzten Widerstand auffordert. – Nach der Volksmeinung wird nicht gefragt. Einer allein hat recht! Das ist die Diktatur! Heute Abend VS-Dienst und Vortrag eines Warthegaus-

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Flüchtlings. Sonst hört man nur Klagen und Jammern.
Donnerstag, den 1. Febr. 45: Lichtmeß! Glatteis auf den Straßen. Wer schlechtes Schuhwerk hat, bleibt im Hause – das sind viele! Russische Panzerspitze vor Frankfurt/Oder! 70 km vor Berlin – Danzig bedroht. Alle Ostpreußen unter Waffen. In Breslau hat man den 2. Bürgermeister auf dem Marktplatz erschossen durch Standrecht der VS-Männer. Im Radio hieß es: „Wer den Tod in Ehren fürchtet, findet ihn durch Schande“. Die Stadt wird immer noch gehalten. Im Westen kommen die Gegner zum Rhein heran. Unter der Bevölkerung soll der Typhus ausgebrochen sein – in den Ostgebieten und Berlin sei Fleckfieber. Zweckmeldungen? Beim heutigen Voralarm blieb fast 10 Min. lang die Sirene hängen. Vor dem VS sprach der SS-Oberscharführer Schütz über die Panzeraufklärung. Der erst 23-Jährige ist heute noch begeistert und voller Zuversicht! In Memmingen werden aus den Schulen Lazarette. Die Schüler sollen in die Wirtshäuser umziehen. Kürzlich sind in Memmingen mehrere 1000 Verwundete ausgeladen worden; auch 1000 Evakuierte hat die Stadt aufzunehmen. Die Kleinstädte sind alle überfüllt von Menschen. Welche Katastrophe, wenn auch hier die Bomben fallen! Auch hier fehlt es schon an den notwendigsten Nahrungsmitteln. Die Geschäfte werden nicht mehr beliefert. Den Bäckern fehlt die Hefe. So bekommen die verwöhnten Essener Frauen, die sich bei den Schwaben nicht besonders beliebt zu machen wussten, ihre frischen Brötchen nicht mehr, und das ist sehr schlimm! Meinem Tagebuch ist ein Zeitungsbild von Generaloberst der Waffen-SS Sepp Dietrich, als Brillantenträger beigeklebt. Er war einst Hütejunge in Hawangen – sie wissen ein Lied über ihn zu singen.
Samstag, den 3.2.1945: Meine Kinder bekamen den Blasiussegen. Einige Männer hörte ich ganz grob über die Fortsetzung des Krieges schimpfen. Es hieß, dass Martin Bormann, der Einsager Hitlers, bereits an der Schweizer Grenze ein Landgut bezogen habe. Den Propagandaminister Josef Goebbels nennt man in Schwaben auf schwäbisch den „Gosche Josel, oder Gosche Sepp“. So macht man sich langsam Luft – und die meisten zeigen offen ihre wahre Gesinnung. Man betastet sich nicht mehr so eingehend wie zwei sich begegnende Ameisen: bist du Feind oder Freund?
Sonntag, den 4.2.45: Ich drehe den Radioknopf langsam durch alle Stationen – überall, in allen Sprachen Propaganda, Hetze, Lüge. Aufforderung zum Widerstand und Massenmord. - Am 23. Januar haben viele Leute seltsame Mondveränderungen beobachtet. Außen der farbige Mondhof – innen aber eine klare weiße Scheibe. Der Radiozeitspiegel erklärte die Beobachtung als seltene Lichtbrechung in Hagelkörnerschichten. Ich habe nichts gesehen. Aber jetzt

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siegt der Aberglaube. - Im Ratskeller sagt die Wirtin: Wir haben keinen Wein mehr, aber 1000 Liter Weinmarken, die uns niemand abnimmt – nicht einmal Apfelsaft kann ich ausschenken! - Der Hirschwirt erhielt statt die nötigen 1200 dz nur 120 dz Gerste für das ganze Jahr. Es wird einen durstigen Sommer geben. Man bekommt Hunger auf das momentane Gebräu – es genügt schon der normale Hunger. – Nachts wieder Sirenengeheul, länger als notwendig – sie bleibt immer noch hängen! Die in unserem Viertel zerstörten Telefonanlagen sind seit einem Vierteljahr noch nicht repariert. Die Drahtrolle hängt immer noch am Gartenzaun und der umgelegte Mast im Straßengraben, wie ihn der Sturm gelegt hat. Vom Memminger Flugplatz steigen tgl. mit großem Gepolter Turbos auf. Wenn sie im Tiefflug über unsere Dächer jagen, zischt es wie eine niederfahrende Granate – man hat das Gefühl, als müsste man sich bücken. Es sollen Rammflugzeuge sein, die fdl. Fliegern die Tragflächen durchschneiden. Was doch alles erzählt wird! – Heute vor 2 Jahren kam mein Gestellungsbefehl nach Ollarzried, wo ich seit 1 Jahr Kriegsaushilfe hatte – trotz meines Herzfehlers! Am 14.4. nach Karlsbad. Frankreich stehe vor einer Hungerkatastrophe – wir nicht auch? Wieder Sturm. Je kritischer die Lage, desto mehr kursieren die politischen Witze: „Hitler, Göring u. Goebbels standen vor einem Obstladen und bekamen Lust nach Früchten. Goebbels versucht als erster ohne Marken einzukaufen, bekommt aber nichts. Nun versucht es Göring, mit gleichem Misserfolg. Auch Hitler will es nicht gelingen, bis er fragt, ob man ihn denn nicht kenne? Nein, sagte die Obsthändlerin. Hitler sagte, er sei der Befreier Deutschlands. Daraufhin springt die Frau aus dem Laden, ruft ihren Mann und sagt: „Mann, komm doch, der Stalin ist da!“ – Regenwetter – fleckige Wiese – Kinder im Zimmer, sie haben schlechtes Schuhwerk. – An unbekanntem Orte treffen sich Stalin, Roosevelt und Churchill. – Als Ersatz für den ausfallenden Unterricht soll ich nun Schulappelle ansetzen – wöchentlich 2 - 3 Mal, Hausaufgaben besprechen und durchsehen.
Dienstag, den 6.2.45: Heute traf ich einen „Goldfasan“, d. i. ein alter Kämpfer mit goldenem Abzeichen. Er ist in München als Polizist eingesetzt, besonders nach Terrorangriffen – Herstellung der Ruhe und Ordnung. Nach ihm stehen in München wenige Häuser noch unbeschädigt. Am furchtbarsten war der letzte Angriff: Tausende von Menschen lagen noch unter den Trümmern – man habe keine ordentlichen Bunker und Keller mehr. An allen Ecken seien kommunistische Aufrufe angeschlagen! Auch seine Kaserne sei zerstört.

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Mein Schulkamerad Josef, auch bei der Hilfspolizei, ist verwundet worden; er verlor seine Schreinerei. In unserem Ort ist gegenwärtig ein Ritterkreuzträger. Er soll erzählt haben, dass unter der russischen Armee viele deutsche kriegsgefangene Soldaten für die Russen kämpften. Sie sollen dem Freikorps des deutschen Generals Seydlitz angehören, der mit ihnen und den Russen Deutschland von Hitler und Konsorten befreien möchte. Die Umkehrung haben wir in Deutschland mit dem russischen General Lassow [Wlassow]. Er hat unter den gefangenen Russen in Deutschland eine ganze Armee aufgestellt, um Russland vom Kommunismus und Stalinismus zu befreien: Toll ist die Welt geworden. Hüben nichts – drüben ists auch nichts! Unsere Propaganda peitscht auf: „Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende“. Das ist durchaus nicht die Volksmeinung, man rechnet und hofft auf die Menschlichkeit der Sieger. Ein VS-Zugführer sollte zu einem mehrtägigen Lehrgang nach Überlingen – er weigerte sich, denn er habe Wichtigeres zu tun. Ob es dabei bleibt?
Mittwoch, 7. Februar 45: In unserem Flecken sieht man kein Lächeln mehr. Die Männer sind gedankenabwesend. Jeder erwartet vom anderen ein Wort der Beruhigung, das keiner finden kann. Die Gaststätten bleiben leer. Die Gedanken sind bei den kämpfenden Soldaten, bei den fliehenden Frauen, bei den Kindern. Es ist uns alles Licht weggenommen! Greuelnachrichten der Russen in Ostdeutschland – rote Pressetitel über Mord, Plünderung und Vergewaltigung. – Günz hat Hochwasser. Am Mittwoch alle Läden geschlossen – an anderen Tagen gibt es nichts! Im ganzen Reiche werden alle nicht zugelassenen Autos, Zugmaschinen u. Motorräder beschlagnahmt – abliefern!
Freitag, den 9.2.45: Heute war wiederholt Alarm. Abwürfe zwischen Memmingen und Ulm, vermutlich Weißenhorn, wo ein großes Benzinlager sei. Abends VS-Dienst im Schulhaus. Handgranatenlehre! Heute erster Schulappell. Die Buben kamen gerne u. holten sich Hausaufgaben. Jetzt kennt jeder die Bedeutung der Kohle! In einer Schulklasse hat der HJ-Führer Kreuze und Heiligenbilder entfernt und anstelle die Hakenkreuzfahne gesetzt. Er ist noch lange nicht reif. Unser Ortsgr.-Leiter hat wieder Hoffnung. Er sieht mit den VS eine Millionenarmee nach Osten stürmen. Der hat Phantasie! Großangriff der Kanadier bei Nimwegen [holl.: Nijmegen]. Die Entscheidung naht!
Montag, den 12.2.1945: Gestern sang der Männerchor im Lazarett – gekennzeichnet mit einem großen Roten Kreuz auf dem Dach. Wir sangen Volkslieder. Vom Soldatenlied haben ja doch alle genug. Viele Verwundete! Stimmung flau. Auch Ritterkreuzträger Briegel war eine Zeitlang anwesend. Schulappell – nachts Alarm – alles ohne Hoffnung, der Ogrl. ausgenommen – die Oder ist an vielen Stellen überschritten.

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Die Schwarzmeerkonferenz dauert noch an. Angeblich fordert Stalin die Oder-Neiße als neue Reichsgrenze, die Aufteilung Deutschlands und Besetzung auf mehrere Jahrzehnte. – Gehässige Propaganda beiderseits. Presseschlager: Churchill mit Kosakenmütze – Einrichtung von Standgerichten (16.2.). Kämpfen, arbeiten, opfern! Wilhelm Steiner von Wolferts gefallen. -
14.2.45: Nachts ½ 2 Uhr Vollalarm! Über eine Stunde überflogen die fdl. Geschwader unser Gebiet in Richtung NW-Dresden? Tagsüber löste ein Alarm den anderen ab. Ich war in Ollarzried. Auch dort ist die Stimmung auf dem 0-Punkt. Man weiß Bescheid von Auslandsendern, Soldatensendern – die zu hören scharf bestraft wird. Das Volk möchte die reine Wahrheit wissen und könnte sie besser ertragen als Umschreibungen und Berichte von falschen Siegen. Bis zur völligen Niederlage gibt man höchstens noch einige Monate Zeit. Besonders empört ist man über den rücksichtslosen Einsatz unserer Jugend, die von der Schulbank weg in die Ausbildungslager geholt werden. Man empört sich über die 16jähr. [16-Jährigen in der?] HJ, während die Ärzte kein Benzin mehr zugewiesen bekommen. Unser Arzt fährt wieder wie einst mit Pferdegespann.
17. Februar 45: Ob ich dieses Tagebuch weiterführen soll? Wird es am Ende nicht ein Jammerbuch, es ist auch so schwer neutral und gerecht zu schreiben – man möchte doch lieber siegen als verlieren und sieht keine Möglichkeit dazu. Nach Goebbels Propaganda landen wir ohnedies bald in Sibirien, falls wir nicht noch mehr Opfer auf uns nehmen wollen. Die Russen geben uns nur den Genickschuss – ehe wir uns ergeben, greifen wir zum letzten Mittel – andere meinen, die eigene Führung ließe das ganze Volk vergasen. Jede freie Meinungsäußerung über Kriegsziele, Niederlage und Angriffe auf Partei und Führung werden mit dem Tode bestraft. Man sollte doch nicht das ganze Land zerstören und nicht unseren letzten Jungen töten lassen. Das ist die Meinung ernster Männer. Nicht so wie im Lied der HJ: Und wenn alles in Scherben geht – oder wenn die Mauern fallen, bauen wir andere wieder auf. … Jetzt haben wir Scherben und haben geborstene Mauern! Jetzt haben wir hinter allen Fronten und in den Städten Standgerichte, die jeden aufknüpfen lassen, der vom Frieden spricht, der nicht tapfer genug ist, der eine Stadt nicht verteidigen will. Wer wundert sich, dass nach 6 Jahren auch die Soldaten kriegsmüde werden bei solcher Übermacht der Gegner. Es soll jetzt viele Überläufer geben. Ein Bauer sagt: „S'erschte Gwenne ghört de Henne! [Das erste Gewinnen gehört den Hennen.] Der Engländer sagt: „Die Deutschen siegen sich zu Tode.“ Wie unsere Führung die Staatsoberhäupter anderer Völker beschimpfen, verspotten ist für mich beschämend – überhaupt ungebildet, unanständig. Man hat immer

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Anstoß daran genommen, auch einfache Bauern u. Arbeiter. Man munkelt, dass so viele Parteileute nahe der Schweizer Grenze seien, statt an der Front. Sind das nicht schlechte Prediger! - Am Freitag  war es mit der Fliegerei ganz toll. 12 Uhr Alarm. Zahlreiche schnelle Kampfflieger kommen von Süden her – direkt auf Memmingen zu. Eiligst muss die Familie in den Keller. Bis ich wieder komme, haben sie auf unseren Ort beigedreht – sie schießen mit Bordkanonen – kein Memminger Jäger zu sehen! Gegen Süden zog einer im Tiefflug, eine Rauchfahne hinter sich. Ein anderer Verband kreist mehrmals um Ottobeuren, schwärmt am Bannwald aus zu einer langgezogenen Front. Mir stockte das Herz! Ich dachte, jetzt kommen wir daran. Gottlob fielen keine Bomben, aber in Frechenrieden fielen 10 Bomben in das sumpfige Gebiet. Solche Aufregung dauerte bis ½ 4 Uhr. Die Kinder hatten nachher Freude; sie sammelten das abgeworfene Silberpapier. - Morgen wird die 2. VS-Komp. ärztlich von Dr. Briegel untersucht. Er hat Anweisung, die Kranken gesund zu schreiben – er ist trotzdem großzügig. Das erste Aufgebot soll nächstens in Memmingen kaserniert werden. Das wird eine Freude für die Männer sein!! Man will ausbilden am MG, am Granatwerfer u. dgl., hat aber keine Waffen dazu. Das ist gut so, denn sonst stürben von jenen, die keinen Krieg wollten, immer noch mehr. Weil die Alliierten nach 1918 den Deutschen alle Arbeitsmöglichkeiten wegnahmen und sie zum Hungern verurteilt hatten, war es Hitler möglich, das Volk auf seine Seite zu bringen und den 2. Weltkrieg zu beginnen. Mein Schwager, mit amputierten Vorderfüßen soll mit seinen Krücken zum VS gehen!! Der Memminger Stabsarzt lässt seine Verwundeten 3 Tage einsperren, weil sie ohne seine Erlaubnis ins Kino gingen – das alles zur Hebung der Stimmung und des Kampfgeistes.
Sonntag, den 18. Februar 45: Von 10 - 12 Uhr VS-Dienst, statt Gottesdienst! Geländemarsch nach Eggisried mit Marschkompass. Im Mohrensaal Untersuchung der 4. Komp. – sie besteht aus Bauern. Ärzte klagen über den schlechten körperlichen Zustand. Nicht Nahrungsmangel – sie sind überarbeitet. – Japaner greifen todesmutig an – trotzdem landen die Amerikaner auf der Hauptinsel Japans. Unsere U-Boote scheinen durch das engl. Radar ausgeschaltet zu werden. Amerikanische Geleitzüge gehen über Murmansk nach Russland. Dort sind die U-Boote haupts. tätig und versenken reichen Nachschub. Ohne Radar hätten die Alliierten die Seeschlachten verloren. Luftangriffe auf unseren Nachschub. Bahnlinie, Bahnhöfe und Lager. – Morgen beginnt der Unterricht an der Volksschule im Kreis Memmingen. Meine Buben müssen im ungeheizten Raume sitzen.

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20.2.45: VS-Untersuchung der 2. Komp. Im Mohrensaal. Von 103 Männern waren nur wenige gesund. Auffallend ist die große Zahl der Herzfehler und die völlig abgemagerten Bauern. Ich wurde wegen meines Herzmuskelfehlers, wegen der Herzklappen und Störungen im Kreislauf nicht kv geschrieben. Lieber hatten alle einen körp. Fehler! Man sah es jedem an. – Vielen ist es jetzt im Braunhemd sehr heiß geworden. Seltener wird der Hitlergruß! Die Partei hält keine Versammlungen mehr – die Stühle blieben wohl leer. Im Lager Dachau sei eine pestartige böse Krankheit ausgebrochen – sagt mir die Schulhausmeisterin. Sie weiß es von ihrem Schwager, der dort Wachmann ist. Zur Zeit Daueralarme – es wird recht lästig. Immer näher fallen die Bomben. – 49 Staaten haben bisher uns den Krieg erklärt. Wie sie alle uns doch lieben!
21.2.45: Neuschnee. Im Schulzimmer nur 5 Grad C. – Von 105 VS-Männern sind 31 mit Herzfehler und 41 mit erheblichem Kropf gesegnet! Nur 10 Mann sind gesund – aber uk [unabkömmlich] für die Rüstung gestellt. Betrüblicher Gesundheitszustand! Bei der Jugend besser. Die Buben möchten gerne lernen, werden aber immer wieder von der HJ oder vom eigenen landwirtschaftlichen Betrieb davon abgehalten, dann wieder vom ewigen Alarm. Von der Erziehungsanstalt musste ich heute 2 Schüler der 8. Klasse verabschieden. Sie fahren ins zerstörte Frankfurt, wissen jedoch nichts von ihren Eltern, ob ihr Haus noch steht, ob Mutter noch lebt – sie fahren ohne Begleitung, sie dauern mich. Ob sie je ankommen werden? Gestern Luftangriff auf unser Nürnberg, das sie übel zugerichtet haben. Schwere Schäden in der schönen Stadt. - Die Murmansk-Konvois der Amerikaner müssen immer noch Federn lassen – kürzlich 2 Kreuzer, 2 Zerstörer bis zu 10 Handelsschiffe mit 57000 T. Amerikaner im Westen kommen unter großen Verlusten nur langsam vorwärts. Die hätten gleich zu Anfang oder auch anfangs 1914 kommen sollen – dann hätten sie sich einmal das geholt, was sie für jegliche Einmischung in Europa u. anderswo erlauben. Sie glauben sich überall auf der Welt einmischen zu dürfen und den Richter zu spielen. Sie hätten soviele eigene Probleme zu lösen. Ihre Technik ist großartig und nur deswegen gewinnen sie mit ihren Materialschlachten! Eben kamen noch folgende Meldungen: Deutschland soll von Engländern, Amerikanern und Russen 50 Jahre lang besetzt werden oder bis zum nächsten Jahrhundert. – Wenn sie das sagen, wird der Widerstand wachsen – oder ist‘s wieder Aufputschung? In Rumänien sei Flecktyphus. Die Propaganda überschlägt sich vor Lügen. Sie weiß nicht mehr, was sie gestern sagte.
24.2.45: Jetzt hat uns als 50. Staat auch die Türkei den Krieg erklärt. Wer hat sie unter Druck gesetzt? Auch Schweden hetzt schon gegen uns. Die Treibjagd auf uns ist ja bald vollendet!

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Gestern Abend hörten wir über eine Stunde lang ein Bombardement von Westen her. Es soll Pforzheim zerstört worden sein. In Memmingen habe man eine Frau verhaftet, weil sie ausgesagt haben soll, sie wisse aus Flugblättern, dass die Stadt am 16.2.45 dem Erdboden gleichgemacht werden soll. Gefährlich sind Panikmache und die Verbreitung solcher Gerüchte.
Sonntag, den 25.2.45: Heute ½ 11 Uhr Alarm. Alle Kirchenbesucher verließen die Basilika lt. Alarmvorschrift! Ein riesiger Luftschutzkeller ist unter der Basilika, d. h. das ganze Kloster ist unterkellert, 450 m lang! Die Feindflieger kamen aber erst gegen Mittag – mehrere hundert von Italien her einfliegend – aufgelöst in sog. Wellen zu je 36 Stück. Sie flogen in geringer Höhe über den Bannwald. Bei jedem Pulk war ein einzelfliegender schwerer Bomber, umschwärmt von kleinen, schnellen Jägern. Trägt der eine überschwere Luftmine oder sitzt darin ein Kommandant? Ein einzelner Flieger bog nach Memmingen ab; plötzlich warf er etwas ab – ich meinte zuerst eine Bombe, die da senkrecht nach unten fiel – keine Detonation! Eine Rauchbombe? Kurz darauf schwenkte der ganze Verband auf Memmingen zu. Ich ging kurz zu den anderen in den Keller – hörte dort starke Detonationen in nächster Nähe. Wenn der Flugplatz etwas abbekam, erfährt man weiter nichts. – Die Flieger zogen weiter nach Westen. Der Alarm war um 14.30 Uhr beendet. Bei Alarm sieht man hier immer viele Neugierige unter den Türen und am Fenster stehen. Nach einem miterlebten Angriff tun sie das nicht mehr. Die Memminger Jäger lassen sich nicht sehen. Wir bleiben so von Notbombenabwürfen verschont. An wichtigen Straßenkreuzungen stehen die Luftschutzposten; sie haben immer Mühe, die unerfahrenen, deshalb leichtsinnigen Menschen von der Straße fern zu halten. Zu fürchten sind die Tiefflieger und die begleitenden Jagdmaschinen. Man weiß weder Tag noch Stunde!! Heute Essers Aufruf zum Durchhalten – am Ende stehe der Sieg.
Den 26.2.45: Die Buben erzählen mir von den gestrigen Luftangriffen; 800 Flieger seien es gewesen, viele doppelrumpfige. Einem Bo[mber]sei eine Tragfläche weggebrochen – ist abgestürzt. Ein deutscher Turbo sei auch zu sehen gewesen! Sie beschossen in Memmingerberg drei stehende Flugzeuge, 2 seien zerstört, andere beschädigt – trotz der Vierlingsflak! Tiefflieger nur 8 m über dem Boden. Schwere Angriffe auf Ulm, München, Aschaffenburg. Ich traf einen Kameraden, der von Berlin kam: In die Stadt dürfe kein Soldat. Transporte stauen sich auf allen Bahnhöfen – von Tieffliegern immer wieder angegriffen – Frontleitstellen wissen sich keinen Rat mehr – die Bahnhöfe Nürnberg – Würzburg – Treuchtlingen – München – Ulm seien dem Erdboden gleichgemacht, die Bahnanlagen auf weiten Strecken zerstört.

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Nun Großangriff auf Berlin. An der Westfront schwerste Kämpfe! Kleinst-U-Boote versenken Schiffe in der Scheldemündung u. an d. Küste Englands. Traf heute noch 2 Optimisten, die jetzt mit dem Einsatz einer V3 noch Mut machen wollen – auch die Luftwaffe werde demnächst damit ausgerüstet. Mit Wunderwaffen u. Märchen will man zum Durchhalten ermuntern! Nun hat auch Ägypten noch den Krieg erklärt. Bei der Neuordnung der Welt haben die Neutralen nicht mitzureden, sagt der Engländer. Deswegen also! Heute 12.45 Uhr folgender Bericht zur Lage: Die Ukraine ist im offenen Aufruhr gegen die Sowjets – in Paris Hungerdemonstrationen von 30000 Menschen. In Kanada desertieren Truppen, Kämpfe mit der Polizei! In Amerika streiken die Arbeiter – offene Revolten in Italien, feindselige Stimmung gegen die Alliierten! – Nur bei uns ist alles in Butter! Die hiesige Mädchenschule soll demnächst als Lazarett eingerichtet werden. In Memmingen sind bereits alle Schulen mit Verwundeten belegt. Ich halte tgl. nur 2 Std. Schulappell – die ungeheizten Schulräume sind zu kalt und ungesund!
Das Kemptener Bahnhofsviertel sei zerstört. 21 Uhr u. 3. Alarm.
27. Februar 45: Die Stare sind da! Ein wunderbarer Frühlingstag. Die Menschen leben wie Sperlinge, immer in Todesgefahr, immer aufmerksam auf Geräusche horchend, immer fluchtbereit! Der erste Voralarm schon um 9 Uhr. Die Schüler müssen auf dem schnellsten Wege nach Hause und bei Entwarnung wieder kommen. Welche Aufregung, welche Zumutungen an die Kinder. Nach ihrer Rückkehr um ½ 10 Uhr gingen wir gleich in den Wald und hörten dort eine Stunde später den 2. Voralarm, der bis 12 währte. Im Norden Detonationen. 12.30 Vollalarm. Ich ging mit den Kindern in den Bannwald unter eine schützende Buche. Mein Kleiner erkundigte sich über die Bomben, ob sie auch einen Baum abreißen könnten und ob man tot sei, wenn eine herunterfällt. Warum ich nicht mit meinem Gewehr auf den bösen Flieger schieße u. noch viele, viele andere warum? Warum? Inzwischen kamen bei 500 Feindmaschinen, glänzende Silbervögel angeflogen. In Richtung Ollarzried waren Bordkanonen zu hören, ebenso bei Sontheim. Wie Trommelfeuer klangs vom Lechfeld her. Bombenwurf und Flakabwehr bei Augsburg, Memmingen. Über eine Stunde wird das Günztal überflogen. Erst gegen 15 Uhr können wir bei Vorentwarnung aus dem Walde. Wir trafen Mutti strickend im Garten an. Sie nimmt die Feindflüge von der leichten Seite! - Augsburg sei abermals angegriffen worden – vom Augsburger Sender sei die Bevölkerung zum Löschen aufgerufen worden. Himmler, der SS-Führer, verlege seinen Sitz samt seiner Wache nach Bad Wörishofen. In der Umgebung würden schon Quartiere gemacht. Man schimpft schwer und fürchtet so noch mehr um die Sicherheit.

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In Memmingen gab es beim letzten Angriff 1 Toten und 2 Schwerverletzte. Der Immenstädter Bahnhof zerstört, in Kempten das Bahnhofsviertel und Altstadt sowie die Höhe des Cambodunums – dort 20 Familien obdachlos! – Generalleutnant Dittmar, dem man mehr als anderen Vertrauen entgegenbringt, meint, die Lage im Osten sei gefestigt und beruhigend. Musste er? - Kämpfe schon bei Straßburg – schwerste Verluste beiderseits! Königsberger Küstenstraße wieder frei! Japaner in schwerste Kämpfe verwickelt.
Bei Kempten hätte man einzelne Fallschirmspringer gefangen – sind vermutlich Notabsprünge von beschädigten Maschinen. Im Bodenseeraum werden feindliche Luftlandungen erwartet. Die Presse veröffentlichte eine Totentafel der beim Terrorangriff vom 25. ds. gefallenen „Volksgenossen“ - ich zähle 180.
28. Februar 1945: Ein sonniger, aber unruhiger Tag. Bis Mitternacht wechseln Vorwarnung-Entwarnung-Alarme ab. Nachmittags arger Angriff auf Kempten – Friedrichshafen. Es donnerte wie ein starkes Gewitter. Wir gingen auf eine Stunde in den nahen Bannwald. Um 19 Uhr sprach unerwartet Goebbels zur politischen Lage. Inhalt: Siegen oder ehrenvoller Untergang – er klagt über die unheimliche feindliche Luftwaffe und ihre Angriffe – demnächst soll der V2-Beschuss auf England verstärkt werden (obwohl bereits die Rampen zerstört). – Man beurteilt die Ansprache: Es brennt ihm auf den Nägeln – nicht viel Neues. Man baut jetzt auf die Kraft des Volkes, nicht mehr auf alle die Geheimwaffen – der Großteil des Volkes hat innerlich schon kapituliert! - Starke Lebensmitteleinschränkung d. i. Kürzung der Rationen, die ohnedies kaum zum Leben reichen.

Donnerstag, den 1. März 1945: Nebel liegt überm trauernden Land. Trotzdem keine Stunde ohne Alarm. Nachmittags starke Verbände überm Günztal. Sie kommen von Ulm, Ingolstadt, Augsburg, das sie angegriffen hatten. –
2. März 45: Kalt! Sturm, Schneegestöber – Alarm. Gehen zur Fastenpredigt – wird aber wegen Alarm unterbrochen – ich eile in den Kindergarten, um mein Büble zu holen. Nach 10 Minuten Entwarnung – tagsüber Wiederholungen der Sirenenmusik. Politische Lage täglich schlimmer – zunehmende Kämpfe gegen Übermacht – schwerste Luftangriffe. Aufbau einer Ostfront unmöglich geworden; trotzdem wird zum Durchhalten aufgerufen. Sie opfern das ganze Volk!
3. März 45: Schneefall! Artillerie beschießt bereits Köln – Alliierte vor Düsseldorf-Krefeld – Russen in Pommern!
Sonntag, den 4. März 45: Es schneit und stöbert. 10 Uhr Alarm! Bombardiert werden Memmingen, Mindelheim, Wörishofen, Buchloe – Augsburg? Als die Detonationen immer näher kamen, schnell in den Keller. Die Flieger waren, wie sich herausstellte, in Ulm, Weißenhorn, Augsburg –

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Lechfeld – zerstörten die Bahnlinien Sontheim-Buchloe-Augsburg. Volkssturm wurde eingesetzt – dauerte 3 Tage. Ulm sei zu 90% zerstört.
7. März 45: Es ist wieder Winter geworden. Im Schulsaal 3 Grad Celsius. Es ist darin nicht länger als 2 Std. auszuhalten. Ich bekomme immer mehr Oberschüler von Memmingen zurück. Auch dort keine Schulverhältnisse mehr! Die Jungen stehlen aus abgestellten Flugzeugen (Memmingen), was ihnen in die Finger kommt. Eine Mutter hielt aus Angst die gestohlene Munition (zurück) versteckt – miserable Flugplatzbewachung. HJ hat abermals im Schulsaal Kreuz und Bilder entfernt. Ich habe mich beim Bürgermeister und Ortsgruppenleiter beschwert – mich dabei wahrscheinlich selbst geschädigt – deswegen dem HJ-Burschen persönlich die Kappe gewaschen. – Die VS-Komp.-Führer haben jetzt den hiesigen VS nach Aufgebot I, II, IV neu aufgestellt. Zu I gehören 60 Mann, zu II etwas mehr; IV 148 Mann. Lustig für mich: Jeder Kompanieführer wollte IV. Aufgebot übernehmen. Jeder weiß weshalb! Ich wurde als Komp.-Feldwebel vom IV. zum I. kommandiert – ich habe ja auch die beste Gesundheit!!! Das Wehrmeldeamt, welches meinen Wehrpass u. Gesundheitsbuch durch einen Arzt überprüfen ließ, schrieb mich vom bedingt kv jetzt av (d. i. nur „arbeitsdienstfähig“) und trug als Körperfehler U 49. Habe demnach vor dem Barras längere Zeit Ruhe. Ein gutgesinnter Schreiber im WA hat nur laut gedacht! - Hernach sprach man über die Lage. Es hieß, dass neue Waffen eingesetzt würden – dabei könne man auf die Bevölkerung der bereits besetzten Gebiete keine Rücksicht mehr nehmen. – Im Nachbarort wurde Jagd auf drei Kosaken in deutscher Uniform gemacht und gestellt. Aber es waren Angehörige der deutschen Wehrmacht, welche ihre Einheit verloren hatten. Unser Bürgermeister [Josef Hasel] gab zum Besten: „Ich war im Herbst in Lindau beim Obsteinkauf. Die Bäuerin schrieb die Rechnung und fragte dann: Wo haben Sie den Stoff gelassen? Der anwesende Bauer erklärte ihr: Das ist doch der Bürgermeister von Ottobeuren, nicht von Kaufbeuren! – Der ebenfalls anwesende Bgm. Hölzle von Haitzen erzählte: Ich kam in ein Bauernhaus. Die Frau stand vor dem Butterfass und butterte, was streng verboten war. Als ich in den Flur trat, eilte die Bäuerin mit dem Fass in die Küche und sagte laut, dass ichs hörte: Er hauts no it gseha (gesehen). – Militärische Nachrichten sind hoffnungslos. Amerikaner hätten auch schweizer Städte bombardiert! Die Alliierten sind nur noch 60 km vor dem Rhein. Straßenkämpfe in Köln – Russen an der Ostseenähe. – Mangel an Kochsalz!! Starke Kürzung der Lebensmittelrationen. Der Hunger kommt auf uns zu.
Den 9. März 45: Ich sprach einen Mann, der viel in die Kreisleitung kommt. Man sprach dort über die Lage. Einer wollte von General

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Jodl wissen, dass Hitler immer noch zuversichtlich sei (wird ihm falsch berichtet – oder ist er, wie man munkelt: nicht mehr ganz da!!) Andere Gerüchte: Letzte deutsche Verteidigungsbastion sei Süddeutschland und die Alpen. In diesen Gebieten würden bereits Befestigungsanlagen, Verpflegungslager und Waffenlager angelegt. Da die Waffen-SS in unserer Nähe bereits Quartiere macht, dürften die Gerüchte stimmen. Der Herr wolle solches Vorhaben verhüten – nur kein jahrelanger Partisanen- oder Werwolfkrieg! Westwall an vielen Stellen durchbrochen, Alliierte bei Bonn! Deutsche Truppen östlich des Rheins. – Wir wissen nicht, was in der Welt eigentlich vorgeht, was man mit uns vorhat, wie man das Reich zerreißen wird, was wahr und unwahr ist. Jeder sagt: Auf uns wartet Schlimmes, das Schlimmste, das Schrecklichste. Manche sagen sogar, Hitler würde gar das eigene Volk vergasen, als es dem Feinde überlassen. Dabei erinnert man sich an Hitlers Worte: Die Feinde würden höchstens ein schlafendes Deutschland antreffen. Das sind schon Worte eines Irren! – Gestern sagte ein Mann zu mir: „Die längste Zeit haben wir unseren Kopf getragen; aber vielleicht wachen wir eines Tages nicht mehr auf.“ So machtlos, so recht- und hilflos ist unser Volk geworden, dass es selbst diesen beabsichtigten Volksmord nicht verhindern könnte. Mehr als ein Jahrzehnt vermisst man die persönliche Freiheit.

Sonntag, den 11.3.45: Es ist wieder Winter geworden. Gutes Schuhzeug fehlt. Die Schuster bekommen kein Leder und müssen ihre Arbeit bald einstellen. Im Klosterspeisesaal Pionierkurs des Volkssturmes; Instruktion über die Anlage von Panzersperren. Im Klosterbräustüble, bei Käswasserbier erzählt man jetzt offen politische Witze: „Die Großen der Welt machen Konzert. Hitler spielt auf der Violine: Ich siege, ich siege! Roosevelt bläst in den Buordon: an Dreck, an Dreck, – Mussolini Handharmonika jammert: Hätt i nit mitgetan, hätt i nit mitgetan!“ – Geklagt wird über die Verkehrsverhältnisse. Wegen Kohlenmangel bleiben Züge selbst auf der Strecke stehen – andere heizen bereits mit Holz – in Türkheim blieb ein ungeheizter Verwundetenzug stehen, bis ein Personenzug seinen Kohlenrest abgab. Alle Orte sind mit Flüchtlingen überfüllt. Man weiß sie kaum mehr unterzubringen. Nun soll auch unsere Knabenschule Lazarett werden. Gestern waren der hiesige HJ-Standortführer und die BdM-Führerin bei mir, weil ich der HJ die Schulsaalbenützung ohne Erlaubnis untersagte und er das Kreuz immer abnahm. Es gab eine ernste Aussprache, die der junge HJ-Bursche nach dem Kriege mit mir bereinigen wolle. Zur Zeit weniger Alarm – sicher wegen der Großschlacht im Westen. Von Kleve bis Andernach stehen die Alliierten vor dem Rhein – bei Remagen sind die Amerikaner über den Rhein gekommen und bauen bereits den Stützpunkt aus.

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Den 12. März 45: Man hat keine Ruhe mehr. Man denkt zurück an die Tage ungezwungener Fröhlichkeit, man denkt an die kämpfenden, sterbenden Männer und Frauen, man ängstigt sich vor der ungewissen Zukunft. Angebliche Gräueltaten im Osten sollen den Widerstand verstärken – man fürchtet das russische Sibirien, die Arbeitslager, die Ketten an den Füßen, die Schläge mit den Peitschen. Diese Schrecken sind mit dem Namen „Sowjets“ verbunden. Was wird die Nachwelt über uns sagen wegen Coventry? Was über einen Feind, der sich brüstet, in einer einzigen Nacht 1000 Bomben auf die Frauen und Kinder Essens geworfen zu haben? Was wird sie über jene Engländer berichten, die auf deutsche SS-Soldaten an Kanonen gebunden ein Übungsschießen mit Pistolen veranstalteten (erzählt von einem Soldaten, der bei Dünkirchen dabei war!) Ist da ein Volk besser als das andere? Aber sie wollen kultiviert sein. Morgen wird die Mädchenschule zum Lazarett. - Feindliche Aufklärer im Raume München, Augsburg, Buchloe, Mindelheim, Immenstadt – trotzdem Radiomeldung: Über dem Reichsgebiet keine Kampfverbände. Luftterror besonders stark in Nord- und Nordwestdeutschland. Berlin wird seit 20 Tagen jede Nacht angegriffen. – 21 Uhr Alarm. Flieger über uns! Ein Benzinkanister poltert herab – MG-Feuer auf den Oberen Flecken! Eine Lehre für die Verdunklungssünder. Himmler gehe nicht nach Wörishofen, sondern in die Bregenzer Gegend. Allerlei tolle Gerüchte! Sicher wird ja sein, dass die Goldfasanen sich zuerst in Sicherheit bringen werden.

16. März 45: Gerüchte gehen um! Von Ohr zu Ohr: Der Reichstag sei zusammengetreten – Hitler werde von Himmler bewacht, beide im Bergwerk! Auch Göring stehe unter Aufsicht. Meine Münchner Tante, die überraschend kam, weil sie „ausgebombt ist“ und nun in Markt Rettenbach wohnt. In München wird gesagt: Rommel ist nicht gestorben – im Sarge, den man durch München fuhr, lag ein anderer; lag der Führer. - Das Attentat vom 20. Juli sei nur ein Bluff. – General Dietl sei „weggeräumt“ worden. Die Parteibonzen würden verachtet. Wir Münchner warten nur noch auf die Engländer – uns kommen sie lieber heute als morgen! Die ganze Macht hätte Himmler in den Händen und der sei ein Teufel und ein großer Stimmimitator, er ahme Hitlers Stimme jederzeit nach. Weiß Ferdl, der beliebte Münchner Komiker, sagte, als Heß nach England flog: Das war „heßlich“ von ihm, wenn aber Himmler ginge, das wäre „himmlisch“! - Der englische Sender soll gesagt haben: Die Reichsregierung wollte über ihren Gesandten in Schweden Friedensverhandlungen

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aufnehmen. Urheber sei Ribbentrop – aber Hitler und Himmler solle man an der Macht lassen. Schlage England ab, würden dem Bolschewismus Tür und Tor geöffnet. Natürlich lehnten die Engländer ab. Dann brachte die Münchner oder Berliner Presse, dass alles von den Engländern erfunden sei. - Ein Mann kam aus Sachsen. Als er mir vom Elend der Frauen und Kinder auf den Bahnhöfen und in den Städten berichtete, standen ihm die Tränen in den Augen. Als er ging, grüßte er mit „Heil Hitler!“ und verzog sein Gesicht, als hätte er in eine Zwiebel gebissen. Er war der Battl.-Adj. des VS und ich sein Comp.-Spieß. Oft denke ich über unser Schicksal nach. Was wäre, wenn wir siegten? Käme das versprochene Paradies? Den Triumph feierte allein die SS und die in den modernen „Ordensschulen“ [wie in Sonthofen] dressierten Diktatoren und Absolutisten. Es hieße Kampf der Kirche und den Gläubigen, Unterdrückung, Knechtung, Entrechtung, Vermassung zum Herden- und Herrenmenschen und nichts als Uniformen. Der Mann müsste mehrere Frauen nehmen; jede Frau, die weniger als 4 Kinder hat, müsste zum SS-Geburtenregler. Alle Söldner müssten ihren Besitz an Großbauern geben und in einer Art Kolchose mitarbeiten oder an den neuen Reichsgrenzen in Polen und in der Ukraine sich niederlassen. Unsere Jugend bliebe in staatlicher Hand und früh von den Eltern weggenommen, die nicht mehr miterziehen dürften. Einschlägige Gesetze sind vorbereitet. Auch unsere Nachbarstaaten wissen das noch besser als wir – und darum kämpfen sie bis zum Letzten, bis zu unserer Kapitulation. Denn ganz Europa würde das gleiche Los mit uns teilen müssen. – Eben war lange Alarm. Man hört die Bomber. Detonationen in Richtung Augsburg und Nürnberg. Sieht aus wie fernes Wetterleuchten. Nun soll auch mein Knabenschulhaus am Marktplatz Lazarett werden. Eine Kommission: Landrat, Bezirksarzt und Bürgermeister besichtigten das uralte Gebäude (die ehemalige Peterskirche). Kempten soll Lazarettstadt werden. – Am Sonntag ist wieder VS. Neuaufstellung der Kompanie nach Aufgebot. Sonst geschieht nicht viel. Man hat keine Waffen, keine Lust und Freud. Man sagt: wir können dem Feind nicht schaden – wir wollen auch nicht unser Eigentum selbst durch Widerstand zerstören lassen. Die Not würde ja noch größer – ist alles sinnlos geworden! Man erwartet eben vom Siege nicht mehr als von einer Niederlage. Daher diese Hoffnungslosigkeit und Gleichgültigkeit. Hunger und Ellenbogenrecht macht sich bemerkbar.

Sonntag, den 18.3.45: Berlin hatte den schwersten Luftangriff zu bestehen. 2000 Bomben seien gefallen, auch 10t Luftminen. Eisenhauer meldet jetzt im voraus die zu bombardierenden Städte – damit sich die Zivilbevölkerung in Sicherheit bringen kann. Von den eigenen Stadtbefehlshabern wird die männlich Bevölkerung

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zurückgehalten (Brandwachen, Löschzüge…). Standgerichte erhängen höhere Offiziere!! Das wird Stimmung machen! Es gibt jetzt sog. NS-Führungsoffiziere bei der Armee. Sie sind den ehemaligen russischen Kommissaren gleichzusetzen. Der Krieg erreicht jetzt seinen Höhepunkt an allen Fronten. Unsere Luftflotte kann nichts mehr ausrichten oder wegen Benzinmangel nicht mehr aufsteigen. Um nach Kempten zu kommen, muss meine Frau bereits am Abend nach Lachen laufen, übernachten und dann von dort aus den Frühzug Ulm-Kempten zu erreichen. Dazu Angst vor Luft- und Tieffliegerangriffen. – Die Mehrzahl der Bevölkerung hört jetzt den ausländischen Soldatensender und sagt es frei heraus.
20. März 45: An der Klostermauer wird die 200 Jahre alte Kastanie gefällt. Sie ist zum Teil morsch und bei Sturm gefährlich. So alt wird die Ottobeurer Hitlereiche, die ja wiederholt angesägt bzw. neu gepflanzt wurde, nicht werden. Kommissar Schütz sagte mir, dass im Dorfe Egg an der Günz Kriminalbeamte tätig seien, um die Aussagen der Bauern über das Abhören feindlicher Sender zu überwachen. Er meinte, diese Kriminalen könnte man nützlicher an der Front einsetzen. Es werden jetzt viele Uk [unabkömmlich] -Gestellte der Rüstungsindustrie frei, wegen Materialmangel. Aber die retten den Sieg nicht mehr! Man sagt, dass die Amerikaner und ihre Neger mit der Bevölkerung nicht besser umgingen als die Russen. Im Westen fliehen jetzt Hunderttausende aus den Kampfzonen und die es bald werden, wie z. B. Ludwigshafen-Mannheim.
22. März 45: Es grünt im Garten und auf den Wiesen – nicht in der Politik. In hiesiger Pfarrei sind im ersten Vierteljahr mehr Menschen gestorben als sonst im ganzen Jahr. In der Filgis-Kiesgrube zerquetschte es den Arbeiter Brechter. Täglich mehrmals Alarm. Von heute Mittag bis Abends überflogen 8 Jäger im Tiefflug unseren Ort, sie flogen knapp über die Bannwald-Tannengipfel hinweg, um immer wieder einen Angriff auf den Flugplatz anzusetzen. Ich hörte die Bordkanonen. Sie schießen auf Flugzeuge und Hallen. In Hawangen brenne ein Bauernhof und der Wald. Die hiesige Motorspritze hatte Bereitschaft. Die Fremdarbeiter zogen in Scharen zum Bannwald und beobachteten vom Grottenweg aus die Angriffe. – Abwehrkämpfe in Neustadt-Pfalz gegen Amerikaner. In Königsberg sei die Pest ausgebrochen. Schlechte Lebensmittellage in der Pfalz, in den besetzten Gebieten und auch in England –  Versorgungskrisen heißt man die moderne Hungersnot. Wieder reicht man schriftliche Prophezeiungen herum – eine davon will das Kriegsende am 24. April = Georgitag wissen.

25. März 45: Tiefflieger schießen jetzt auf Personen und Fahrzeuge. In Hawangen wurde eine Frau dabei schwer verletzt – ein Haus brannte. Heute VS-Dienst mit Kleinkaliberschießen.

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Der Komp.-Führer sagte, dass der VS jeden Tag mit der Abberufung zu rechnen habe, jedoch nicht zum Waffeneinsatz, sondern zum Schanzen. Es sollen an der Iller Befestigungen angelegt werden. Großangriff! Die Alliierten wollen über den Rhein – Luftlandetruppen werden eingesetzt – der Feind eilt! In Bossarts wird mir gesagt: In Niederdorf ist ein Berliner eingetroffen. Er sei im Auftrage der R.Rechierung [Reichsregierung] auf der Durchreise zur Schweiz, um an Verhandlungen teilzunehmen. Mehr habe man nicht aus ihm herausbringen können! – Wahrscheinlich ein flüchtiger Bonze! Beim gegenw.-mil. [gegenwärtigen militärischen] Stand der Lage ist so etwas undenkbar! – Kürzlich wurden die VS-Komp.-Führer in der Mindelheimer Burg 4 Tage lang instruiert – wie sie am besten ihre VS-Männer einzusetzen haben; es habe miserable Stimmung geherrscht. Gauleiter Waal [Karl Wahl] habe Lichtbilder gezeigt, eine baldige „Offensive Ost“, neuer Einsatz der U-Boot- und Luftflotte in Aussicht gestellt! Die Hauptkräfte aber sollen zum letzten Schlag aufbewahrt werden!!! und erst zum Einsatz kommen, wenn der Feind sehr geschwächt sei. Und das bei 1 : 50 Gegner!

Gründonnerstag, den 29.3.45: Die Gänseblümchen stehen in den sattgrünen Wiesen wie kleine Sonnen. Aber die Kartage bringen unserem Volke immer mehr Tränen und unsagbares Leid. Flüchtlinge, Frauen, Kinder auf den Straßen, sie ziehen von Ort zu Ort, hungernd, hilfesuchend, wohnungslos, heimatlos! In breiter Front haben die Alliierten den Rhein nun überschritten – er fährt mit Schwimmpanzern über den Fluss – 200 km weit und tief sind ihre Einbrüche. Ihre Panzerspitzen seien vor Bamberg, Würzburg und Nürnberg. Im Osten sind sie vor den Toren Wiens. Alles droht in Chaos überzugehen. Die letzten Bande der Ordnung sind zerrissen. Nun zeigen sich auch offen die alten Gegensätze zwischen Militär und Partei, SS und Partei, Goldfasanen fliehen und versuchen die österr. oder schweizer Grenzen zu erreichen. Die letzte Führerhoffnung ist der waffenlose Volkssturm und die HJ-Buben. Man schickt Männer und Jugend noch ganz unnötigerweise in den Tod. Statt die Konsequenzen zu ziehen, will die pol. Führung das ganze Volk mit in den Abgrund nehmen. Es gab im Deutschen Reiche manchen Sturm seit seinem Bestehen – aber nie eine größere Katastrophe. Dreimal musste ich diese Woche abends wegen des VS weg. Man versucht den VS einsatzbereit zu organisieren – ein Alarmplan sollte erstellt werden. Battl.-Führer Karl Schurrer sagte in seiner Ansprache: „Diejenigen feigen Hunde, die da nicht mitmachen wollen, sollten von ihren eigenen Frauen nicht mehr angeschaut werden.“ Aber er selbst ist erheblich feige und setzte sich jederzeit mit allen Mitteln gegen eine Einberufung zur Wehr.
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Auch am Weißen Sonntag, an dem die Väter mit ihren Kommunikanten zur Kirche wollen, wurde vom Battl.-Volkssturmdienst angesetzt – der Kreisleiter werde sprechen. Ich beantragte Befreiung der betroffenen Väter vom Dienst. Da bin ich aber böse abgeblitzt. Wir werden sehen. Ich werde als Komp.-Feldw. jedenfalls keinen Absenten melden. Sie sind immer noch nicht zur Vernunft gekommen und lassen nicht mit sich sprechen. – Neustadt an d. H. [an der Haardt; seit 1950: a. d. W. = an der Weinstraße] in Feindeshand.
Karfreitag, den 30. März 45: „In ihrer Trübsal werden sie am Morgen zu mir sich aufmachen und sagen: Kommt, lasst uns zum Herrn zurückkehren, er hat uns gezüchtigt...“ Alarm, auch am Karfreitag – sie alle würfeln um den Mantel!
Dienstag nach Ostern (3.4.45): Ich war über die Feiertage als Organist in Ollarzried – bekam ein Festessen wie in Friedenszeiten. In der Osternacht weckten mich Bordkanonen. Tiefflieger jagten über Ollarzried und Ottobeuren. Ich war sehr aufgeregt! Sie hatten den Zug auf der Strecke Kempten - Memmingen angegriffen. Sie wissen, dass militärische Transporte nachts fahren. – Jetzt sagt man: Noch einige Wochen, dann ist alles vorbei – wenn es nur rasch geht – wenn wir die Hälfte Vieh hergeben müssen, sind wir zufrieden! – Immer mehr Evakuierte kommen in unseren Raum – das gibt eine Hungersnot! Jetzt soll die Geheimorganisation „Werwolf“ - ein Partisanentum – die Lage retten. Die Bürgermeister von Köln und Aachen seien von „dieser Feme“ erschossen worden. Das ganze Volk verurteilt die Werwolfaufrufe, unterstützt von der Regierung. – Heute wurde die hiesige Knabenschule geräumt. Bereits am Abend sollen 100 Mann kommen – Stroh ist aufgeschüttet worden. Arme Verwundete! Die Mädchenschule ist als Hilfskrankenhaus vorgesehen. Bis zur Verwirklichung gehen auch meine Buben dorthin zum Unterricht. Die angebliche neue Wunderwaffe seien „Nurflügel-Flugzeuge“, die auf den Autobahnen starten können und die fdl. Luftherrschaft brechen werden.
Donnerstag, 5. April 45: Gestern Nachmittag waren Luftkämpfe über Ottobeuren und Memmingen. Es hat bös geknattert – auch die Memminger Flak schoss aus allen Rohren. Zahlreiche Sprengwolken – 2 Flugzeuge wurden abgeschossen. Fast den ganzen Tag Alarm. Dauernd sind einzelne Tiefflieger da, die den Verkehr beunruhigen. Nun wird jeder mit der Todesstrafe bedroht, der öffentlich den Krieg verloren gibt bzw. Feindberichte abhört und weitergibt. In der Umgebung werden Panzersperren angelegt. Man lacht, weil sie zwecklos sind. Englisch-amerikanische Panzerspitzen haben Stuttgart-Würzburg-Osnabrück erreicht. Süddeutschland wird vom Norden getrennt. Die Russen vor Wien. Ende April wird alles vorüber sein.

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Goebbels Propaganda erwartet Krach zwischen Amerika, England und Russland! – Aber doch nicht jetzt, vielleicht erst beim Verteilen. Russland hat nun den Nichtangriffspakt mit Japan gekündigt, nachdem die Amerikaner die Kastanien aus dem Feuer geholt haben. Die Russen haben auch etwas zu holen. Siehe den Wert von Pakten und Verträgen – Wieviel ist das Wort eines Diplomaten und Staatmannes heute noch wert? – Die umliegenden Dörfer sind mit Evakuierten vollgestopft – täglich kommen neue dazu. Nun hat man uns auch die Mädchenschule weggenommen. Wir müssen in Wirtshaussälen Unterricht geben.
Samstag, 7.4.45: Heute früh 6 Uhr weckte mich der Komp.-Führer. Für die 1. Volkssturmkompanie wurde Alarm gegeben. Ich musste 2 Melder verständigen. Um 13.30 sei anzutreten. Aber es kam über Mittag Vollalarm. Die Männer sollten im Benninger Wald eine Panzersperre bauen. Der Komp.-Führer sagte: „Über die Bedeutung brauchen wir nicht zu reden – aber wir erfüllen unseren Befehl!“ Mir sagte der KF., dass der Batl.-Führer Schurrer die Panzersperre am Kaffe [Café] Fergg (Rathauskaffee am Marktplatz) mitten im Ort errichten wollte. Es sei ihm jedoch gelungen, ihm dieses Vorhaben auszureden. Der Kompanieführer Peter Rinderle ist eben ein kluger, vernünftiger Mann – ein Realist, wie man ihn zur Zeit am nötigsten braucht. Es wird sich ohne Zwang kein Ottobeurer bereit finden, den Flecken mit der berühmten Basilika zu verteidigen. Gottseidank fehlen die Waffen. Feindliche Panzerspitzen seien bei Ulm gesichtet worden. In den 8 Tagen könnte es wirklich soweit sein! Laut Soldatensender sei unsere Front bereits in der Auflösung begriffen. Die Zahl der deutschen Gefangenen wachse stündlich. Trotz aller Gerüchte und Greuelnachrichten und Propaganda verhält sich bei uns die Bevölkerung erfreulich ruhig und ernst. Man rechnet, dass zu uns die Amerikaner kommen und erwartet von ihnen immerhin mehr Humanität als vom Russen.
Weißer Sonntag, 8.4.45: Auch heute muss an der Benninger Straßensperre von der 1. VS.-Komp. gearbeitet werden. Viele haben verständlicherweise gemurrt. Der Komp.-Führer gab den Vätern von Kommunionkindern frei. Ich fuhr nach Böhen zur Kommunionfeier des kleinen Otto. Wieder einmal ein Festessen! Sonst war dicke Luft! Den ganzen Tag Alarm, Tiefflieger und schnelle Kampfverbände über uns.
Montag, den 9.4.45: Für meine 8. Klasse habe ich noch keinen Saal aufgetrieben – deshalb Unterricht im Bannwald. Beide Schulhäuser sind vollgestopft mit Flüchtlingen und Verwundeten. Heute wechselte ein Alarm mit dem anderen. Neues Zeichen für akute Gefahr.
                
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Nachmittag erscheinen die ersten Wellen feindlicher Bomber. Sie kommen hauptsächlich von Westen her. Kurs Ost: Landsberg, München, Augsburg. Ich zähle 32 Verbände zu je 10-12 Flugzeugen. Insgesamt bei 500 Bomber. Fremdartig waren die Bomber mit den schwarzen Tragflächen. Auch Flieger mit rotem Leitwerk waren dabei – letztere seien französische. Der letzte Verband warf über Stadt und Flugplatz Memmingen Brandbomben, dann Bomben. Es sah aus, als würden Flugzeuge abstürzen. Alles brannte lichterloh – auch Phosphorkanister seien abgeworfen worden – anschließend heftige Tieffliegerangriffe fdl. Jäger auf den Flugplatz (gegen Flakabwehr!). Die Vierlingsflak hat wohl einen Abschuss zu verbuchen, wie ich beobachten konnte. Alle Zuschauer!! waren voller Aufregung – in den letzten Minuten suchten sie doch noch die Keller auf. Die gleichen Rauchpilze sah ich in Richtung Landsberg, München. Nach dem Angriff rannten die Kinder nach den Silberstreifen in Wiesen und Gärten. In Memmingen wird erwogen, ob man die Stadt verteidigen soll. Die Städter seien dagegen. Unser Bürgermeister ist auch gegen eine Ortsverteidigung. Nun ist auch bei den letzten Optimisten die Hoffnung weggeschwommen. Engländer und Amerikaner stehen vor der Weser, auch bei Hannover und Bremen, bei Crailsheim und Nürnberg. Der Stuttgarter Sender ist besetzt, die Stadt umgangen; der Russe in Wien eingedrungen, Kämpfe im Stadtzentrum. Viele Bonzen flüchten ins Gebirge. Die „Maulhelden“ suchen ihr kostbares Leben zu retten – verlangen aber von anderen den Kampf bis zum Tode. Auf Befehl des „Führers“ soll jetzt die Union von Partei und Gemeindeamt wieder getrennt werden. Früher haben sie die tüchtigen Bürgermeister entfernt. Soeben Radiopropaganda! Sie lautet: „Wir werden siegen!“ Man ist sprachlos! Große Seeschlachten um Japan. Eine Frau grüßte in unserem Rathaus den Bürgermeister mit „Heil Hitler!“, ein Zuhörer sagt: „So, das au no. Du hast wohl no it gnue!“ Alles lachte – der Bürgermeister verdrückte sich. Auf der Straße sieht man den Handgruß nicht mehr – die Jungen ausgenommen. –
Dienstag, den 10.4.45: Mit den Buben machte ich heute einen Schulausflug zum Theinselberg. In Memmingen brennt es noch an verschiedenen Punkten. Im Flugplatz sind Gebäude und Flugzeuge ausgebrannt. Unser Chorregent Hermann Köbele an der Westfront gefallen. Er meisterte hervorragend die Riepp-Orgeln der Basilika. Der Mann hinterlässt 6 Kinder, das kleinste ¼ Jahr alt.
Aus den letzten Zeitungsmeldungen: „Sowjetisch-anglo-amerikanische Abmachungen über Massendeportationen aus den besetzten Gebieten – Auslieferung aller arbeitenden Deutschen – Krisenstimmung in England – Racheplan des Juden Lubin (Deutschland zu verwüsten).

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Zäher Widerstand südöstl. von Würzburg.“ – Einem Tieffliegerangriff erlag unser Schulhausmeister Kathan – bei Landsberg. Der Mann konnte wegen seines Kehlkopfleidens schon seit Jahren kein lautes Wort mehr sprechen – er wurde trotzdem zur SS eingezogen; hinterlässt 2 Buben, 2 Mädchen und ein Ungeborenes; auch Rapp sei gefallen. Wieder sind Aufklärer in unserem Raum.
Mittwoch, 11. April 45: Heute Mittag akute Luftgefahr und Mutti in Kempten! Viele Verbände überflogen Ottobeuren. Die vielen begleitenden Jäger schreiben das Himmelsblau voll mit weißen Kondensstreifen. Zuerst sah es aus, als wollten sie Ottobeuren und Memmingen angreifen – flogen dann Kurs München, das wieder einmal einen furchtbaren Großangriff erleben musste. In Mitleidenschaft gezogen wurden Ingolstadt und Regensburg. Wir waren im Keller. Es wird erzählt, dass von Chorregent Köbele auch der älteste Sohn gefallen sei. – Mein neuer Unterrichtsraum ist das HJ-Heim in der alten Kaserne. Der Religionslehrer nahm die Buben mit in den Klostergarten. Er erzählte mir die nette Episode im Religionsunterricht Pater Karls. Er sprach über die Propheten. Ein Junge fragt, ob es heutzutage auch noch solche Männer gäbe. Er verneinte. Ruft nun ein zweiter Junge dazwischen protestierend: „Jau, die gaits schon no. Bei ais im Obere Flecke hand d‘Leut scho vorigs Jauhr gsait, dass d'r Krieg verlore ischt!“ Eine Begebenheit aus der 1. Klasse. An Hitlers Geburtstag sollten sie erzählen, was sie von diesem Mann, der heute Geburtstag hat, wissen. Ein Knirps antwortet: „Mei Großvatter sait, der g'hört scho lang verschosse.“ Da war die Lehrerin in großer Verlegenheit und meinte: „Du passt doch nie auf. So hat der Großvater doch nicht gesagt!“ – Ein sicher verlogenes Gerücht, nachdem der Batl.-F. gesagt haben soll, Ottobeuren müsse ein zweites Monte Cassino werden. So fanatisch ist er nicht – er will sich nicht mitopfern. – Es ist bereits eine Gegenströmung organisiert, die alles daransetzen wird, dass Ottobeuren nicht verteidigt wird – notfalls mit Gewalt, sagt man! Gefährlich wird dem Ort das LBAL (Lehrerbildungsanstaltlager) im Kloster, lauter 16 - 20-jährige fanatische Burschen und ebensolche Lehrer. Aber noch liegen für sie die Waffen nicht bereit. Mehr konnte ich aus dem Batl.-Führer (Schurrer) nicht herausbringen. Kurz darauf traf ich den Komp.-F. … Peter und machte ihm Vorhaltungen wegen der Ortsverteidigung. Er beruhigte mich. Eine Verteidigung käme nur an der Panzersperre im Benninger Wald, keineswegs im Orte in Frage. Außerdem sei Ottobeuren in seinem Entschlusse nicht mehr frei, da in seinem Rücken, d. i. der Raum Mindelheim, Dirlewang, Truppen konzentriert würden. Nach Ottobeuren solle eine Flakbatterie kommen. Von maßgebender Seite wird mir gesagt: Die zur Verteidigung notwendigen

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notwendigen Panzerfäuste bereits eingetroffen seien – aber wo?

Donnerstag, den 12. April 45: Ein aufregender Tag! ½ 11 Uhr akute Luftgefahr! Tiefflieger im Raume Kempten-Oberstdorf. Das ganze Haus erzittert – Bomben fallen. Schwere Detonationen – wo denn? Wir eilen in den Keller, der uns kaum schützen würde. Immer wieder wird das ganze Haus erschüttert, als drohte es einzufallen. Ich vermute Abwürfe bei Grönenbach oder Dietmannsried – oder gar Böhen. Ich sprang nochmals nach oben, ließ die Rollladen herunter und öffnete die Fenster, damit sie der Luftdruck ganz lasse. Unterdessen jagten Tiefflieger übers Haus, große Verbände ziehen nach Westen. Diesesmal sind die Ottobeurer besser in ihre Keller gelaufen. Am Konohofer Berg umfasste ein Ausländer ganz verzweifelt eine Alleelinde – andere legten sich richtig in den Graben – ein Fuhrwerk jagte querfeldein dem Walde zu – andere suchten Schutz unter Bäumen. Das hat bis nach 12 Uhr gedauert. Es gab dafür die schlechtesten Kässpätzle meines Lebens. - Mit Schurer kam ich ins Gespräch. Er traut mir nicht! Er sagte nur: Wenn Ottobeuren einmal unter Beschuss liegt, grabe er auf dem Konohof ein Loch. Ich meinte: Dann wäre es wohl zu spät – und soweit sollte man es ja auch nicht kommen lassen. Die Antwort gibt der heutige OKW (Oberkommando der Wehrmacht) -Bericht, wonach alle Städte bis zum letzten Mann und bis zum letzten Haus verteidigt werden müssen. Militär-, Zivil- und Verwaltungspersonal, welche dagegen handeln oder andere davon abbringen wollen, werden mit dem Tode bedroht. Unterzeichner sind Himmler, Bormann und Keitl. Also ein Parteimann, ein Zivilist und ein General! Jedoch sind wir auf keinen der Genannten vereidigt und ihnen im Innersten auch nicht verpflichtet, wenn ihre Befehle Völkermord bedeuten. Man fragt sich, weshalb hat Hitler nicht unterschrieben? Steht er unter Kuratel? Den Kommandanten und Ritterkreuzträger von Königsberg hat man in Abwesenheit zum Tode verurteilt – er sei ein Feigling. Auch in der Luftwaffe soll es spuken – Erschießungen – Verhaftungen!! Die Russen drücken nach Westen gegen Bayern. Französische Truppen im Schwarzwald. - Die Panzersperre im Benninger Wald ist bald fertig. Man arbeitet nicht mit „Hochdruck“. Beiderseits der Straße auf dem Hang sind die Schützenlöcher zum Abschießen der Panzerfäuste. In solchen Fällen zertrümmern ein paar Bomben die ganze Anlage – außerdem können Panzer auch durch den Wald fahren! Heute arbeiten die Studenten des LBA Lagers. Wenn die VS-Männer hierher zur Verteidigung gestellt werden, werden viele wie bei den 7 Schwaben „abseits gehen müssen“. Langsam rückt auch der Hunger in den Flecken. Brot wird nicht mehr voraus ausgegeben. Soldaten

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schreiben Abschiedsbriefe nach Hause! Viele wissen nicht mehr, wo ihre Frauen und Kinder sind. Es ist ja der ganze Verkehr zusammengebrochen.

Freitag, den 13.4.45: Der USA-Präsident ist unerwartet an Gehirnblutung gestorben – kurz vor dem von ihm erhofften Siege. Deswegen keine Änderung der Kriegslage zu erhoffen! Es wird erzählt, dass um Ottobeuren SS-Truppen zusammengezogen würden. Es sollen die Endkämpfe in Süddeutschland stattfinden. Im heutigen Zeitgeschehen wurde die Prophezeiung vom Birkenbaum erwähnt. Sie stamme von einem Schäfer, der vor 100 Jahren lebte. In seiner Vision sah er eine große Schlacht in der Nähe des Birkenbaumes, wie die Soldaten, angetan mit Kreuzen, die Feinde in die Lippe trieben. Der Heerführer in langem Mantel. Nach der Schlacht folgte ein langer Friede.
Sonntag, den 15.4.45: Tiefflieger schon am hellen Morgen über Ottobeuren. Ab Mittag wechseln die Alarmsignale bis spät in die Nacht. Einmal kommen die Bomber näher, dann hört man sie wieder entfernter. Bombardiert wurde vormittags Ulm und die Donaugegend, gegen 22 Uhr akuter Alarm – Jäger über unserem Raum. Im NO ist es taghell von Brandbomben – schwere Detonationen zu hören. Ist es Augsburg-Lechfeld-Landsberg? Feindvorstöße demnach aus dem Stuttgarter Raum entlang der Autobahn nach Ulm-Augsburg-München. Jetzt sind die Bahnen dem Gegner dienlich geworden. –  Gestern den ganzen Nachmittag Schreibstubenarbeit beim Kompf. Er teilte das 1. Aufgebot zur Verteidigung der Benninger Sperre ein und zwar: 16 Mann als Sperrkommando, 12 Mann als Spähtrupps und eine Anzahl in die angelegten Deckungslöcher zum Abfeuern der Panzerfäuste – die Todeskandidaten. Die Löcher sind knapp 10 m von der Straße entfernt. Die Panzerschreckmänner werden kaum abfeuern! Die Sperre selbst ist dem Feinde sofort sehr früh sichtbar – also keine Falle für ihn. An der rechten Seite bräuchten die Panzer nur das Jungholz zu überwalzen. So geschickt ist sie angelegt. Man spottet darüber: Die Panzersperren seien stärker als der Westwall – würde im Ernstfall kaum verteidigt – oder es gäbe hier ein kurzes Trauerspiel. Der Schreck aus Dirlewang ist noch in allen Gliedern. Dort forderte eine einzige PF [Panzerfaust?] das Leben von 2 Soldaten, 2 VS-Männer, das Kind des Wirtes und das Haus desselben – ferner zahlreiche Verletzte – man sieht durch das ganze Haus! Heute Nachmittag saßen während eins Großalarms etliche Franzosen und Serben am Bänkchen vor unserem Hause. Sie besprachen einen Fluchtplan und erwähnten die Orte Grönenbach-Iller.. u.a. Von dorther sollen Franzosen

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kommen. Man hört auch, dass Soldaten aus Lazaretten einfach weglaufen, um nach Hause zu kommen.
16. April 45: Wegen Frühalarm beginnt der Unterricht erst um 10 Uhr. Ich brachte aber kaum 1 Stunde heraus. Radionachricht: Papen und andere führende Persönlichkeiten seien von den Engländern gefangen worden. Nach vorgefunenen Berichten und Akten der Gestapo (i. Geheime Staatspolizei) sei Hitler unter Beobachtung = Aufsicht Himmlers (sagt der Engländer) – was aber längst die Runde machte. Deutschlands gefürchtetster Mann ist Himmler, unbeliebt beim Volk und beim Militär. Er hat schon 1944 den Hitlergruß bei der Armee eingeführt. Das hätte er besser bleiben lassen. Man hört die ersten Berichte über das Leben in Konzentrationslagern. Über solche Greueltaten, Morde stehen einem die Haare zu Berge. Wenn das so ist, muss freilich feindl. Rache befürchtet werden. Das deutsche Volk ist mit den „Nietzsche“-Plänen etlicher Bonzen mit Rassenwahn und Herrentum und Konzentrationslagern nicht einverstanden. Ihre Ideen sind solche Opfer nicht wert. Wenn man nachher nur nicht von einer Diktatur unter eine andere fällt, oder wie man sagt: Vom Regen unter das Trauf kommt. – Heute gegen 19 Uhr Luftangriff auf Kempten. Bei uns in Ottobeuren zitterte das ganze Haus (Felsleitung!). Ungefähr 15 Wellen griffen an, die letzte flog in Richtung Memmingen ab. Im Süden ein hoher Rauchpilz; vermutlich brennt ein Benzintanklager. Ich bekam einen Kempter Brief zu lesen. Darin wird vom letzten Angriff berichtet. Die Fabriken in Lindenösch-Nähe seien alle zerstört, Kasernen und Militärdepots zu 70%, viele Soldaten, die eben verladen werden sollten, lägen in schlechten Kellern verschüttet. - Mein Hausarzt hat fast keine Medikamente mehr; es fehlt vorwiegend an Seren. Im Ungerhauser Wald seien viele Flugzeuge abgestellt worden. Ein SS-Batl. zog nachts durch den Ort gegen Binnwang an der Iller. Man ist sehr beunruhigt wegen der befohlenen Ortsverteidigung. –  Vom Norden sind wir jetzt abgeschnitten. Die Amerikaner stehen in Nürnberg, Hof, kurz vor der tschechischen Grenze. Die Russen marschieren der Donau entlang gegen Linz. Bald ist alles zu Ende. Soldaten der Ostfront suchen in englische oder amerikanische Kriegsgefangenschaft zu kommen. Der Russe aber schreibt: „Ihr werdet ja doch an uns ausgeliefert werden – wir brauchen viele Arbeitskräfte zum Aufbau unserer Städte und Industrien!“
17.4.45: Nun beginnen die letzten Schlachten. Im Osten Großangriff in breiter Front – es seien Millionenheere. Hitler ruft zum äußersten Widerstand auf. Ihm scheint die Lage nicht klar zu sein. Drei Hauptfronten im Osten, Westen und Süden. – Ganze Nacht Alarm. Man

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bleibt trotzdem im Bett. Aber beim Großalarm gegen 4 Uhr gings heraus aus den Federn! Flieger Kurs Landsberg. Heute kein Unterricht wegen Daueralarm. VS 1. Aufgebot heute Abend antreten! Es soll ein Marschbataillon ohne Waffen aufgestellt werden. Viel Vergnügen! Der Hopferbacher VS soll mit 60 Gewehren ausgerüstet sein. Gegenwärtig sterben viele Leute. Eine Frau plötzlich an Starrkrampf, ein Mann an Herzschlag. Der Jahresdurchschnitt der Verstorbenen ist bis April bereits überschritten. Schurrer gesteht mir heute, dass er den Ort doch nicht zu verteidigen beabsichtige.

Mittwoch, den 18. April 45: Heute den ganzen Tag im Wechsel: Voralarm – Kleinalarm – Vollalarm – akute Luftgefahr! Unterricht fiel ganz aus. Auch in der Nacht ist es ebenso unruhig. Nachmittags überflogen bei 200 Bomber in NS-Kurs unser Gebiet. Im Flecken und Kasernenhof geht es wie im Tollhaus zu. Auto folgt auf Auto – selbst in Friedenszeit sah ich nie so viele Autos. Die Opelwerke laden hier Material ab – niemand weiß was, aber alles schimpft. Selbst Büroräume haben sie eingerichtet in der Kaserne und den Schulsaal darin haben sie für sich genommen. Drunten im Markt stehen reihenweise die Rotkreuzautos. Das Generalkommando des Deutschen Roten Kreuzes soll im Hirschlazarett seinen Sitz genommen haben. Man hat die Schwerverwundeten aus dem 3. Stock heraus und die Herren Offiziere hineingelegt. Das ist Barras. Es sind hier nun folgende Lazarette und Krankenhäuser: Klosterwald (Mittelschule), Hotel Hirschwirt am Marktplatz, Gasthaus zur Sonne, daneben Knabenschule, Mädchenschule, das Bezirkskrankenhaus. – Gestern kam zu mir ein Mann und besprach mit mir die Lage, falls der Feind kommt – und er wird kommen. Es ist alles bereit und so gerichtet, dass der Ort unter keinen Umständen verteidigt werden kann, wenigstens was die örtlichen Leiter betrifft. Auch das erwähnte Lager im Kloster wird in Schach gehalten. Von gewisser Seite, die ich kenne, sind auch Beziehungen zur amerik. Gesandtschaft in der Schweiz aufgenommen – bestimmte Kennworte mit ihr vereinbart und die Behandlung des Ortes von allen Seiten her besprochen. – Das beruhigt! – Gefährlich werden allen diesen Plänen die umliegenden Truppen. Es würden Verbindungen aufgenommen zum Landesamt für Denkmalspflege (für Basilika und Kloster) – zum schwäbischen Heimatdienst – zu Gauleiter Wahl und zu einem maßgebenden General. Es soll auch verhindert werden, dass halb Deutschland hier in Ottobeuren Zuflucht sucht. Einst seien sie vor den Klöstern geflüchtet – jetzt suchen sie Zuflucht darin. – Jemand kommt vom Bodenseegebiet. Es sei unglaublich, was man auf den Anfahrtsstrecken PKW fahren sehe nach Lindau,

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Oberstdorf, Walsertal – ein Asyl für verkleidete „Braunauer“. Sie suchten mit gefälschten Pässen als entlassene Parteigänger, als Flüchtlinge von KZ, als verfolgte Offiziere die Grenze zu überschreiten.  Immer mehr wird jetzt bekannt, was in den KZ vor sich gegangen ist. Ein Schandfleck für ein Kulturvolk. – Über 2 Millionen Kriegsgefangene haben die Engländer seit der Invasion gemacht – ihnen ist wenigstens das Leben geblieben. – Seit dem 20. Juli 44 klappt es bei den Offizieren nicht mehr. Wenn man mit Generälen so umgeht und sie an Fleischerhaken aufhängt, macht man sich keine Freunde! Die Generäle haben doch einen anderen Ehrbegriff wie die Goldfasanen. – Der Kampf wird nur noch unter dem Druck der Standgerichte fortgeführt. Abends hatte ich Singprobe – Vorbereitung zum Heldengottesdienst – Requiem für Chorregent Köbele. Die Männer führten arge Klage über die Lage und das unvernünftige sture Verhalten der Partei und der SS. Gestern Abend wurde von 17 Tieffliegern der Memminger Marktplatz beschossen. Das ist natürlich auch Terror. Wie der Teufel fegten sie über den Erdboden hinweg und schossen was raus ging bis Ottobeuren.
[Am 18.04.1945 erschien zum letzten Male der „Allgäuer Beobachter“.]

19. April 45: Abermals Tieffliegerangriffe auf Memmingen von 4 Flugzeugen. Am Nachmittag begleiteten sie einen größeren Verband nach München. Auf dem Rückflug umkreisten sie den Memminger Flugplatz, setzten dann südlich davon zum Angriff an; ich konnte sie beobachten. Es folgte eine wilde Schießerei, auch von der dortigen Flak. Beim 2. Anflug vom Bannwald her pfiff eine Kugel dicht an meinem Kopf vorbei – die Garbe zerfetzte Teile des westlichen Klostertrakts. Auch andere Gebäude bekamen Treffer ab. Zweck? Eine Maschine flog einen Angriff auf Ottobeuren, wahrscheinlich um die zahlreichen Lastautos in der Klosterallee und am Marktplatz zu treffen. Ein Jäger sei von der Flak abgeschossen worden. – Abends sprach  Dr. Goebbels zu „Führers“ Geburtstag – im allgem. nichts Neues als vom Durchhalten und man würde siegen. Man spricht darüber nicht mehr! Leerlauf der Propaganda.
20. April 1945  - also Führers Geburtstag. Einst war alles beflaggt, Aufmärsche mit Musik, große Reden – auch er selbst ließ sich nicht hören. – Heute Nachmittag schwerer Luftangriff auf Memmingen von 17 Verbänden zu je 6-10 Flugzeugen. Sie kamen von Süden, direkt über Ottobeuren in geringer Höhe. Es hat bös gekracht! Eine mächtige Rauchsäule stieg auf, blieb über der Stadt. Gaskessel? Über unserem Hause am Grottenweg ein Luftkampf. Turbinenjäger hängten sich an den letzten Verband.

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Auch der Verband gibt Feuer. Aus einem Bomber fährt ein mächtiger Feuerstrahl – ich denke, jetzt brennt er gleich; jedoch er flog langsam weiter. Feindliche Jäger verfolgten die 3 deutschen, konnten aber deren Tempo nicht erreichen. Die Turbos griffen immer wieder an und störten so den Bomberverband an seinem Angriffsplan – sicher wollten sie den Bahnhof treffen – ging fast alles daneben.  Am Abend wusste mans besser: Total zerstört war der Güterbahnhof, die Gasanstalt, die Dreikönigs- und Frauenmühle, der Getreidesilo, das Kaufhaus Eisele, Café Rieger u. a. mehr. Hauptsächlich das Gebiet links der Bahnlinie war betroffen bis zum Marktplatz hinunter. Auf dem Güterbahnhof sei ein Truppentransportzug gestanden, der schon auf der Fahrt nach Memmingen von feindlichen Jägern verfolgt worden sei. Der Transportführer habe die Mannschaft nicht aussteigen lassen. Der Zug wurde auf dem Bahnhof zertrümmert. Man spricht von 500 toten Soldaten und vielen Schwerverletzten, die nun nach Ottobeuren ins Mädchenschulhaus kommen sollen. Auch die Familie Eisele sei getötet worden. Abends kamen ausgebombte Memminger mit ihrer letzten Habe nach hier, um Unterkunft zu suchen. Den ganzen Tag über standen dichte, graue Rauchwolken über der Stadt. –  Gestern war den ganzen Tag über Alarm. Als ich um 23 Uhr ins Bett wollte, kam wieder Vollalarm. Kurz darauf schrillte die Hausglocke. Der ganze Volkssturm wurde alarmiert zum Katastropheneinsatz nach Memmingen. Um ½ 4 Uhr hieß es antreten mit Pickel und Schaufel, Fahrrad, 1 Tag Verpflegung sei mitzunehmen. Bei den Luftkämpfen wurden wieder verschiedene Hausdächer beschädigt. – Nachmittag traf ich meinen Kollegen Otto Wiedemann [17.09.1895 - 07.01.1968], der als Hauptmann u. Major schon jahrelang in Finnland, zuletzt in Nordnorwegen war. Er kam mit größten Schwierigkeiten über den einzig offenen Weg von Norden nach Süden. Seit gestern verkehren auf den Fernstrecken bei Tage keine Züge mehr. Wiedemann erzählte von schrecklichen Erlebnissen – das Vorgehen der Russen sei furchtbar – sie hätten den Norwegern die Kinder verschleppt und mit Kanonen in die Schutzräume der Bevölkerung geschossen. Er berichtet aber auch über die pol. und militärischen Fehler, die auf unserer Seite gemacht würden. Er hat sogar noch etwas Hoffnung über einen günstigen Ausgang – was ich bei ihm nie erwartet hätte. Grund: Im Osten seien so starke deutsche Truppenmassen konzentriert, dass man in der Lage sei, in die Offensive hineinzustoßen. Auch in der Tschechei sei alles voller Truppen, weshalb es dort auch keinen Aufstand gebe. Dass wir gegen die fdl. Luftflotte nicht mehr ankämpfen können, gab er zu. – Panzervorstöße bereits gegen Ingolstadt – Richtung München – Berchtesgaden – im Norden auf Hamburg und Bremen. Unsere letzten Kriegsschiffe schwer beschädigt – versenkt.

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Die Feindsender melden von Meuterei an der Marne, von 2 Mill. deutschen Gefangenen, Zusammenbruch jeder geordneten Führung. Die fdl. Luftflotte lässt der Bevölkerung Tag und Nacht keine Ruhe mehr. Viele gute Generale sind gefangen, erhängt, erschossen, vergiftet! Alles flieht ins Allgäu. Hier in Ottobeuren bewegen sich Menschen wie in einer Stadt. Unsere Basilika ist wohl der einzige, unbeschädigte Tempel des Herrn im zerfallenden „Großdeutschen Reiche“ Adolf Hitlers.
Den 21. April 1945: Heute war kein Unterricht möglich – Daueralarm! Die überrege Fliegertätigkeit und die Angriffe schneller Kampfverbände bereiten wahrscheinlich dem von Nürnberg her anrückenden Amerikanern das Feld im Donautal – und dann kommt er zu uns. Die Donaustädte und ihr Verkehrsnetz seien arg mitgenommen. Augsburg meldet eben wieder Tieffliegerangriffe. Über unser Haus fliegt ein angeschossenes Flugzeug – hat nur noch einen Motor. Frau Höfelmayer von Wolfertschwenden erzählt mir, dass auch zwischen Ittelsburg und Wolfertschwenden Bomben im Notwurf gefallen seien. Ein fdl. Bomber stürzte bei Haitzen ab (Zell). – Die Hauptstraße Memmingen – Kempten sei voll von fliehenden Bonzen. Man ist darüber sehr erbost – kann aber auch ihre „Angst der guten Taten“ begreifen. – Hier erzählt man sich, dass sich das einst so gute Einvernehmen zwischen Bürgermeister und dem Batl.-F. verschlechtert habe. Rückzugstaktik?
In Memmingen schaut es schrecklich aus. 3000 Volkssturmmänner waren auf dem vollkommen zerfetzten Güterbahnhof eingesetzt. Man vermutet eine neue Bombenart. Man sieht Bombentrichter mit 15 m Durchmesser. Ungezählte Tote, zerfetzt, verstümmelt. Alles sei in großer Aufregung und Wut gegen die Urheber des Krieges, die ihn nun nicht beenden wollten.
Sonntag, den 22.4.45: Witterungsumschlag – kalt – raue Winde – Regen – Aprilwetter. Wie werden die Neger frieren! – Tieffliegerangriff in aller Frühe auf den Memminger Flugplatz – angeblich auf den noch unzerstörten Bahnhof. Ein Teil des hiesigen VS arbeitet noch in Memmingen – mussten in volle Deckung gehen. Viele seien weggelaufen! Tiefflieger lassen nicht arbeiten. – Russen vor Berlin – sie bekommen bald Verbindung mit den Amerikanern bei Dresden. Amerikaner in Richtung Eger-Karlsbad. Diese Weltkulturstadt ist in letzter Zeit mehrmals bombardiert worden, Bahnhof und Bahnanlagen – nicht die Stadt, in der bisher die Ritterkreuzträger und Bonzen saßen u. nach ihnen die Bonzen der Russen sitzen werden. Auch die Bahnanlagen von Zwiesel sind bombardiert. Ein anderer Panzerkeil rückt von Nürnberg nach Regensburg – Crailsheim überholt – jetzt in Nördlingen.

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Panzerspitzen seien auch bei Geislingen – Ulm gesichtet worden.     Französische Degoltruppen [De Gaulle-Truppen] haben Freiburg und den Bodensee erreicht. Noch 8-10 Tage und es wird entschieden sein, ob Ottobeuren tatsächlich verteidigt werden muss. Die weißen Fahnen für die 2 Kirchtürme seien schon genäht. Wenn nicht ein verkappter Superpatriot mit Pistolen auf die Amerikaner schießt, dürfte hier nicht viel passieren! – Radio Luxemburg meldet schreckliche Geschehnisse aus den KZ. Jetzt wird das deutsche Volk auch hinter diesen schwarzen, geheimnisvollen Vorhang sehen können. Man kann es nicht fassen und kann es nicht glauben, dass mittelalterliche Folter hier nicht nur eine Wiederholung, sondern vielmehr eine satanische Steigerung erfuhren. Welche Menschen es gibt! Hätte man das doch früher gewusst! Solch ein Staat darf andere nicht beherrschen!

Montag, den 23.4.45: Welcher Schrecken! Nachts 2 Uhr schrillt die Hausklingel! VS-Alarm ist durchgegeben – antreten ½ 6 Uhr – mehrere Tage Verpflegung seien mitzubringen (als ob man die schon hätte!). Feindliche Panzer sollen sich Memmingen nähern – ein Spähwagen sei gegen 4 Uhr bei der Kirche gesichtet worden. Ist wahrscheinlich eine Verwechslung mit den vielen deutschen Kriegsfahrzeugen! Zur festgesetzten Zeit waren etwa die Hälfte der VS-Männer erschienen. Ich dachte immer: Hoffentlich bleiben sie weg. Aber um sieben Uhr waren fast alle da. Wir bleiben alarmbereit beim Komp.-F. in der Sonne. Man machte Witze über die enorme Bewaffnung der Kompanie: 6 Panzerfäuste und 120 andere Männerfäuste; Kampfstimmung 0. Manche Männer waren sehr traurig. Einige Frauen und Bräute setzten sich weinend zu ihren Männern. Ich habe bald erfahren, dass wir im Benninger Wald die Sperre besetzen sollten. Ich hatte einige Vertraute in meinem Spähtrupp und verabredete im Ernstfalle auf weitem Umwege zur Sperre zu gehen. Ein Späher sitzt im Filgishof auf dem Berg und gibt zum Kirchturm Zeichen – dort oben geht dann die weiße Fahne hoch – ein anderer hält mit Gewalt den Lagerleiter im Kloster in Schach. So war alles vorbereitet, einesteils um die waffenlosen Volkssturmmänner, andernteils um den Ort samt Basilika zu retten. – Ich besprach mein Vorhaben mit dem Kompaniechef Rinderle – er war auch meiner Ansicht und verweigerte die Abnahme der Panzerfäuste; damit war schon viel gerettet. Die Stimmung der Männer wurde bald besser. Einer spendierte Schnaps. Eine Abordnung fuhr nach Memmingen, um die Auflösung des VS zu erreichen – natürlich zwecklos; jedoch genügt von jetzt ab ein Sperrkommando, das die Sperre im Benninger Wald zu schließen hatte. Die anderen gingen nach Hause und blieben in Alarmbereitschaft – Hasel ist gegen jede Ortsverteidigung.

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Im Laufe des Tages durchfuhren pausenlos hunderte Gespanne und Kolonnen, motorisierte und bespannte, Fußtruppen u. a. was wir nie gesehen, unseren Marktflecken Ottobeuren. Kein schattiger Baum, der heute nicht Wichtiges zu verdecken gehabt hätte – vor allem Rotkreuzautos. Das ganze Bild der geschlagenen Armee. Ich dachte an Napoleons Russlandfeldzug: „Mit Mann und Ross und Wagen hat sie der Herr geschlagen!“ Ein trauriger Anblick! Fast keine Fliegertätigkeit! Ruhe vor dem Sturm? Wilde Gerüchte: Marokkaner würden die Besatzung sein – Panikstimmung unter den Frauen! Niemand arbeitet – alles steht an den Straßen – jeder versucht noch zu hamstern! Ein Tag, wie ich ihn noch nie erlebte – und wie er auf die Nerven geht!
Dienstag, 24.4.45: Die Mitternacht jagt den ganzen Ort aus den Betten. Ist denn ein Erdbeben? Es schaukelt das Bett – fällt das Haus am Ende noch ein? Schwere Detonationen in nächster Nähe! Turmhohe Blitze verraten die Sprengungen im Memminger Flugplatz. Pioniere jagen in die Luft, was einst mit Millionen und Fleiß zu unserem Schutze gebaut worden war. Die Sprengungen, überstark, währen bis zum Morgen. – Immer mehr Truppen ziehen durch Ottobeuren. Hinein, hinaus – sichtlich alles kopflos, überhastet, - führungslos! Viele Soldaten sind waffenlos; Ausreißer verstecken sich im nahen Bannwald – überall können die wenigen Feldgendarmen nicht sein. Auch zahlreiche russische Lassov-Truppen [Wlassow-Truppen] sind im Ort und im Durchzug. - Im Kloster wurde das Bekleidungslager für die Zivilbevölkerung freigegeben. Das war für mich das furchtbarste Erlebnis meines Lebens. Ich habe nicht gewusst, dass die Menschen so sein können, so habgierig, so voller Raffgier und Bosheit. Ich war erschüttert und sehe seitdem misstrauisch meine Mitmenschen prüfend an. Niemand brachte in den plündernden Haufen – Frauen und Männer und Buben – Ordnung hinein. Einer bestahl auf der Stelle den anderen, jeder nahm dem anderen das bessere Stück Wäsche, Hemd, Decke. Von Anstand keine Rede mehr. Ich schloss vor einer Frau das große Gangfenster, die eben durchschlüpfen wollte. Obwohl sie mich kannte, begann sie ein fluchendes, unflätiges Geschrei, das ich nicht länger anhörte und auch unerwidert ließ. Ich sah einen Ottobeurer Bürger mit einem Handwagen vollbeladen mit neuen Wolldecken wegfahren; Bauern kamen mit Heuwagen in den Klosterhof zum Aufladen!! Ein Feldgendarm schoss auf den Bauern Neß von Stefansried, weil er einen Heuwagen voll Kleidungsstücke abfahren wollte. Es gab soviel Streit und Schlägerei – ist nicht zu beschreiben. Des ekelhaften Treibens ging ich von dannen, ohne – bis ein Mann mir ein paar wollene Unterhemden in den Arm legte. Unglaublich, was alles gelagert war. Unglaublicher, dass sichtbar

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Gebildete am ungebildetsten benahmen. Es war mir eine Genugtuung, dass auch die ausländischen (Fremdarbeiter) fleißig zugreifen konnten und von niemandem weggewiesen wurden. - Sie habens lange verdient. – Immer neue Gerüchte! Mit Bayern sei Waffenstillstand abgeschlossen worden. Um 12.15 Uhr sei eine wichtige Sondermeldung zu erwarten; der Bürgermeister sei abgesetzt – auf Memmingen erfolge ein Großangriff der Luftwaffe – man hätte einen Funkspruch aufgefangen. – So und anders geht es den ganzen Tag weiter – am Abend ist dann alles eine Lüge. Es wird auch schrecklich gestohlen. Bis jetzt fehlen 18 Fahrräder, dem Obermüller 2 Pferde, dem anderen eine Zugmaschine usw. Die Soldaten organisieren sich ihre Fluchtmöglichkeiten als Knecht, Bauer … – Immer noch Tiefflieger überm Memminger Flugplatz – über der Ottobeurer Flakbatterie am Friedhof – Schelmeheide; über den Sontheimer Truppenansammlungen.
Nachmittags war ich im Bannwald. Erfuhr von einem Mann, wie seinerzeit die Ottobeurer Jugend (Pfarrjugend) behandelt wurde, die eine Hitlereiche umgesägt haben soll. Sie wurden mit Lastwagen ins Memminger Gefängnis (ist das alte Ottobeurer Haus der ehem. Reichsabtei) geholt. – Am Abend kam der Komp.-Chef Rinderle mit der Botschaft, dass nun auch auf dem Konenhof [Konohof] südl. Ottobeuren eine Panzersperre gebaut werden müsse. Befehl stamme vom hiesigen Kampfkommandanten Major Gatz (Militär!!). Obwohl der VS-Komp.-Chef Rinderle sich dagegen wehrte, wurde ihm mit dem Standgericht gedroht – er musste also! Also gehen wir morgen gegen unseren Willen und gegen unsere bessere Erkenntnis zum Schippen mit dem stillen Vorhaben: Immer nur langsam voran! Für morgen wird der Einmarsch der Amerikaner erwartet. Ob die Sache mit der Flagge noch klappen wird?
Montag, den 25.4.45: Ein Tag Schanzen auf dem Konenhof – nur die tiefen Gräben sind fertig. Abends wird der Bau ganz eingestellt. Wir lagen meistens am Hang und ließen uns sonnen. Immer wieder kamen schwitzende Zivilisten mit vollbepacktem Rucksack schnaufend den Berg herauf. Bonzen auf der Flucht! Immer noch mehr Truppen! Das bedeutet Gefahr für den Ort. Die Rotkreuzdivision zieht leider ab. Kommt demnach bald der Amerikaner. – Ich sehe Truppen, müde, abgekämpft, hungrig. Wir hatten einen im Quartier. Die Soldaten wollen Schluss machen – es sei alles zwecklos; auch Buben, denen der Karabiner bis zu den Fußknöcheln reichte, waren dabei. Kinder in den Krieg hetzen! Man macht sich seine Gedanken. Der Kampfkommandant Gatz ließ für heute (26.4.) Mittag den Volkssturm alarmieren, in der Absicht, ihn einzusetzen, obwohl er ohne Waffen ist. Wir sollten auf dem Guggenberg eingesetzt und mit der

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Truppe zurückgenommen werden. Seine Losung: Ottobeuren wird mit allen Mitteln verteidigt! Er ist ein SS-Mann. Die Basilika ist ihm sicher ein Dorn im Auge. Aber die Männer waren klüger. Statt 60 traten nur 10 an; die anderen waren unauffindbar. Noch drohte über jedem das Standgericht. Da kam die Rettung. Am Bräuhaus erschienen etliche SS-Männer, bedrohten unsere Landwachposten am Lebensmittellager mit der Pistole und forderten die Herausgabe einer Wagenladung Butter. Dies wurde dem Major gemeldet. Der stellte nun 10 anwesende VS-Männer als Wachverstärkung zur Verfügung. Damit war wenigstens der VS gerettet von Kampfeinsatz und Standgericht. Wachhabender war Peter Rinderle (Kompf. VS). Er teilte den Ort in 4 Bezirke und ließ jeden Bezirk die ganze Nacht hindurch von 2 Posten begehen. Im Laufe des Abends war zur Gewissheit geworden, dass Kommandant Gatz von seinem Vorhaben, Ottobeuren zu verteidigen, nicht abzubringen war. Mit verhandelten der Bürgermeister Hasel, der Stabchef des Lazaretts, der Ritterkreuzträger Briegel (Bruder des hiesigen Arztes) – aber alles war vergebens. Die Gefahr wuchs mit jeder Stunde, da Memmingen sich bereits um 13 Uhr kampflos ergeben hatte. Davon erfuhren die Ottobeurer. Die Frauen forderten ihre Männer auf, den Stab des Gatz im Kaffee Högg auszuheben, d. h. gefangenzusetzen. Aber seine SS-Männer standen fest zu ihm. Das Vorhaben musste deswegen unterbleiben. Während der langen, unruhigen Nacht ging ich mehrmals heim und versuchte die Frauen und Kinder in den besseren Klosterkeller zu führen. Im Hauskeller waren die notwendigsten Lebensmittel und Kleidungsstücke untergebracht – auch eine Liegestatt. Hundert Frauen und Kinder eilten mit ihren wichtigen Habseligkeiten in den Klosterkeller. Das war vielleicht ein Anblick. Ich blieb bei der Wache im Bräuhausstüble. Dort erreichte uns eine Meldung nach der anderen. In der Sorge um unseren Ort ließen wir die Truppenbewegungen der SS heimlich beobachten und stellten fest, dass sich die Gatz-Truppen langsam zurückzogen – aber ein ganzes Bataillon anderer Truppen im Anmarsch war – ebenso Artillerie. Bald hieß es, der Major sei selbst ebenfalls abgezogen, unbekannt wohin. – Man konnte ihm nicht trauen. Von der Günz herauf kam gegen Mitternacht eine 30 Mann starke Kampftruppe mit Panzerfäusten. Der Bürgermeister stellte ihnen ein Auto zur Verfügung und ließ sie schleunigst aus unserem Gebiete fahren. Als um 4 Uhr früh im Norden eine Brandröte aufstieg, wollte ich nochmal schnell zum Grottenweg nach Hause sehen – die Frauen sollten doch zum Klosterkeller eilen. Die Lage war sehr bedrohlich. Auf dem Weg zum Grottenweg setzte plötzlich Artilleriebeschuss
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von der Schelmenheide her ein. Das Geschoss fuhr über meinen Kopf in Richtung Filgishof vor dem Benninger Wald. Ich drückte mich hinter einen Schutthaufen. Noch mehrere Granaten nahmen denselben Weg. Vermutlich sahen die Soldaten anrückende Feindpanzer. Mutti und die Kinder schliefen ruhig im Keller u. wussten nichts von der Gefahr. Bald erfuhren wir: Amerikanische Späh- und Aufklärungstruppen mit Auto und MG stünden an den Straßenkreuzungen von Hawangen her – beim Filgishof. Sie haben also den Benninger Wald mit seiner Sperre umfahren. An diese Kreuzung schoss das Geschütz der Schelmenheide. Der Spähtrupp zog sich wieder zurück – wegen der Beschießung? Dann war es lange Zeit stille. Plötzlich erschienen meine beiden Turmwachen mit der Meldung, sie hätten im Auftrage des Ritterkreuzträgers Briegel beide Turmfahnen aufgezogen. Das war ausgerechnet zu einer Zeit, als mir der Kompanieführer Rinderle die Stellvertretung übertragen hatte – er wollte schnell zu seiner Familie sehen. Was tun? Truppen lagen noch im und um den Ort, in Guggenberg, in der Schelmenheide, eine Abtlg. SS mit Panzerfäusten in der nahen Blaiche (Stadel). Letztere sah ich selbst bei Dämmerung hineinschleichen, Truppen am Bannwaldrand. Wenn Major Gatz die Fahnen sieht – es war Vollmondnacht – lässt er den Ort zusammenschießen und sein Standgericht arbeiten. Ich gab also Gegenbefehl – die weißen Fahnen sofort zu entfernen, wenn ihnen das Leben lieb sei. Nach einer Viertelstunde waren sie verschwunden – Bruder Christoph hat es eingesehen! Gut, dass solange eine Dunkelwolke die Türme verdeckt hatte. Mein Kompf. Rinderle gab mir recht. Wir hatten nämlich mehr die eigene Wehrmacht als die Amerikaner zu fürchten. Wenn jetzt noch jemand Ottobeuren schont, ist es der „Ammi“. Hoffentlich macht niemand eine Dummheit! Keine Bombe, Artilleriebeschuss von feindlicher Seite. Als der Tag anbrach, sahen wir die ganze Gefahr. Aus einem Klosterhofschuppen kamen zahlreiche Soldaten mit Panzerfäusten zum Bannwald gegangen. Überall waren Soldaten! Meine Sorge stieg ins Unermessliche. Unser Haus lag in der Schusslinie der Schelmenheide-Artillerie. Was alles auf dem Guggenberg war, ahnte ich nicht. Endlich eine Wendung! In letzter Minute wurde ein anderer Kampfkommandant in diesem Abschnitt eingesetzt. Bei ihm fand die Ortsbehörde mehr Verständnis. Er versprach den Ort selbst aus den bevorstehenden Kämpfen herauszuhalten und sich aus der Umgebung zurückzuziehen, allerdings kämpfend. Das erfuhr ich auch erst später.

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Freitag, den 27. April 1945: Amerikanische Truppen rücken in Ottobeuren ein.
Der Vormittag war beängstigend ruhig. Die Spannung wuchs immer mehr. Jeden Augenblick könnten Flieger oder ein Artillerieeinsatz erfolgen. Gegen 10 Uhr hört man Gefechtslärm im Benninger Wald, im nahen Bannwald und drüben bei Wolferts. MG knatterten, Panzerrollen und schwere Detonationen; dann und wann ein Rauchpilz überm Wald. Einzelne Verwundete sehe ich zurückgehen, weitere Truppen ziehen vom Bannwald zum Kalten Brunnen – südl. Ottobeuren. Die Hauptkämpfe ziehen sich über „Jammer-Elend-und-Not“, d. i. von Wolferts nach Leupolz. Gegen ½ 12 Uhr sehe ich von meinem etwas abgelegenen Grottenweg aus Frauen und Kinder rennen, rufend: Ungefähr 60 Amerikaner stünden vor dem Kloster und kämen die Allee entlang. Die ausländischen Fremdarbeiter sammelten sich in Hochstimmung auf der Straße. Man kann sich ihre Freude vorstellen! – Für sie ist das die Stunde der Befreiung. Nach wenigen Minuten umfuhren einige amerikanische Autos den Ort. Erstmals in meinem Leben sah ich ihre Panzer und ihre Ausrüstung – gutgenährte, kräftige, junge und frohe Burschen. Merkwürdigerweise hat niemand Angst vor ihnen – vielmehr freut man sich, dass nun alles vorüber sei!? Man freut sich, dass keine Franzosen einmarschieren. Aus allen Fenstern weiße Fahnen – jetzt auch vom Turme. Seit 10 Uhr kapitulierte Ottobeuren. Mit Gottes Hilfe ist alles soweit glücklich vorübergegangen. Nicht ein Schuss fiel, nicht ein Haus ist im Ort zerstört. – Über die Vorgänge im Ort, am Marktplatz und Rathaus bin ich noch nicht informiert. Heraußen am stillen Grottenweg hörten wir weder Aufrufe der Gemeinde noch den Befehl zum sofortigen Abliefern aller Waffen und Fotoapparate. Ich hatte 2 Plattenapparate und eine Retina; letztere lag unterm Dachbalken. Mein Kleinkalibergewehr zerlegt in der Hausgrube, meine Doppellaufflinte in einem weit entfernten Felsstadel [Feldstadel?]. Wir hatten die Rollladen heruntergelassen. Beim Küchenfenster befestigte ich eben die weiße Fahne. Ein Ammi, der mit schussbereitem Gewehr die Straße entlang ging, während ein zweiter ein Telefonkabel auf die Stange legte, ließ mich nicht aus seinen Augen – so vorsichtig! An derselben Straßenkreuzung sah ich am Tage zuvor einen Soldaten stehen, der sich gefangen geben lassen wollte. Zum Pech waren Deutsche im Lastwagen – sie lachten ihn aus und fuhren weiter. Natürlich kreisten Flieger über dem schönen Flecken.
Nachmittags ging der Zauber erst los. Amerikanische Pak [Panzerabwehrkanonen] und andere Geschütze fuhren am Kloster, bei meinem Haus und anderen

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Stellen auf und nahmen die Artilleriestellungen der Deutschen in der Schelmenheide und auf dem Guggenberg unter Feuer. Natürlich hatten alle Ottobeurer Hausarrest bekommen. Ich beobachtete die Schießerei aus meinem Fenster. Ein Schuss vor, der zweite hinter und der 3. Schuss traf Eggers Haus [in Guggenberg], das sofort brannte. Es war ein Neubau. Im Hause seien SS gewesen. Auf dem Kirchturm waren amerik. Beobachter, dazu ein Aufklärer in der Luft. Die Schießereien dauerten den ganzen Nachmittag. In der Darlehenskasse beobachtete der Direktor derselben [Michael Fink] auf der Straße mit seinem Feldstecher den Guggenberger Brand. Er wurde sofort verhaftet und weggebracht.
Ich sah auch wie gefangene Deutsche eingebracht wurden. Viele ergaben sich wohl selbst. Eine amerikanische Schützenkette schlich hinterm Gebüsch die Günz entlang gegen Eldern zu, vermutlich sollten sie die SS aus der Schelmenheide vertreiben, die immer noch schoss. Ich hörte einen Artillerieschuss gegen die Ammi abfeuern. Der ganze Zug legte sich ins Gras und erhob sich erst nach einer Viertelstunde, aber sehr, sehr vorsichtig. Soviel Mut habe ich ihnen nicht zugetraut! Ein schweres amerik. Geschütz schoss von Wolferts her zur Schelmenheide. Ein anderes, ähnlich einer Flakkanone, stand auf dem Hügel beim Forsthaus, über unserer Haustüre. Ich stand an der Hausecke und bemerkte das Geschütz erst, als es schoss. Der Krach fuhr mir ordentlich in die Glieder. Die Kanoniere lachten über mich. Auch feine Herren in Zivil standen bei ihnen. Eine Zeitlang mussten wir uns doch im Keller aufhalten – es hat arg gescheppert – auch hatte man die Tiefflieger zu fürchten. Das war eine eindrucksvolle ernsthafte „Wochenschau“. Meine Sorge war ein eventueller Gegenstoß unserer Truppen. Es wurde gesagt, auf dem Guggenberg wäre deutsche Artillerie in Stellung gegangen. Die Amerikaner seien aber ½ Stunde zu früh gekommen.
Gegen 17 Uhr sah ich einige Nachbarn das Haus räumen. Quartiermacher gingen um. Neue Sorgen. Eben sprach ich darüber mit Frau Reinl, als auch schon der amerik. Quartiermacher unter der Haustüre stand und auf Deutsch fragte: „Wer wohnt in diesem Hause?“ Ich nannte ihm 4 Familien. Nach einigem Zögern spricht er: „Ich brauche das Haus.“ Auf die Uhr zeigend: „Bis dahin (¼ Stunde) musst du fort sein.“ Da ging uns der Dampf ein. Ich rannte zu meiner Hausfrau Wiesheu in der Brauerei und bekam auch gleich ein Zimmer zugewiesen. Gute Nachbarn vom Bräuhaus halfen mir das Notwendigste zusammenraffen und wegtransportieren.

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In zwanzig Minuten lässt sich nicht viel einpacken. Aber das Notwendigste an Kleidung musste mit, wussten wir doch nicht, wielange wir ausquartiert bleiben, weil der Amerikaner nicht unter einem Dache mit den Deutschen wohnen oder schlafen darf. Ich nahm ohne Auswahl alle Kleider aus dem Schrank und legte sie auf den Tisch u. Anderes dazu, knüpfte die Tischtuchzipfel und ein großer Packen wurde ins Freie getragen. Dort vor der Gartentüre füllten wir Irmgards Kinderbettstelle mit den Habseligkeiten. Mutter trug eben noch die beiden geschnitzten Kreuze hinaus, als auch schon 12 Amerikaner anrückten und uns neugierig zusahen. Unterdessen stand unser kleiner Karli vor der Haustüre, aufgelöst in Tränen – bei der Besatzung teils Mitleid erregend. Irmgard spielte noch im Keller mit ihrer Puppe. Inzwischen kam uns Mathieß zu Hilfe. Er und Fuchshuber trugen die Bettstelle und Mutter die Kinder ins neue Quartier, einem Zimmer im Altteil der Kaserne. Die Zeit war nun ganz oder etwas darüber abgelaufen. Man rief mir das Stop zu; trotzdem eilte ich noch in den Keller, um den einzigen Brotlaib mitzunehmen. Ich nahm den Weg durchs Kellerfenster zur Gartentüre, um zu verschwinden. Einer rief mir zu, das Brot wegzulegen – ich tat, als hörte ich nicht; nun wollte er mir das Brot entreißen. Ich rief, dass es den Kindern gehöre. Ein anderer Ammi rief dem vermutlichen Polen-Amerikaner zu, mir das Brot zu lassen. Darüber wohl verärgert, fragte mich der Soldat, ob ich eine Waffe habe. „Du Pistole haben?“ Ich stellte mich dumm. Aber schon tasteten mich 2 von oben bis unten ab und zogen aus meiner Innentasche der Joppe die Gaspistole, die ich kurz zuvor noch zu mir gesteckt hatte. Kaum hatten sie die Pistole gesehen, wurde sie dem Kapitän – vermutl. einem Feldwebel – übergeben. Plötzlich fühlte ich mich an beiden Armen untergefasst und ab gings mit mir. Schon beim Nachbarn Fuchshuber angelangt, rief der Kapitän nach, mich frei zu lassen. Sie taten es ungern, folgten aber. Er hatte, wie ich beim Abtransport sah, die Pistole leer geschossen und das ungefährliche Ding erkannt. Das war eine bedenkliche Sache! Bei Todesstrafe war verboten Waffen zu tragen oder zu besitzen – jedoch die Bekanntmachung war am Grottenweg nicht durchgesagt worden. Ich wäre sicher mit vielen anderen zu einem Internierungslager abgefahren worden. Während dieses Vorganges fuhren bereits Rotkreuzautos in die benachbarte Wiese. Aus meiner Wohnung hörte ich Klavierspiel. Ich eilte zu meiner Familie in das Kasernenzimmer. Familie Reinl, die mit uns im Hause wohnten, blieben auch in der Kaserne unsere Nachbarn. In der Nacht begann es zu regnen. Ohne zu essen legten wir uns in den

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Kleidern schlafen; ich in der Absicht mich lange nicht mehr sehen zu lassen. Frau Wiesheu, unsere Hausfrau, gab uns den Rat, möglichst unsichtbar zu bleiben, wegen der vielen Ausländer, die ebenfalls in nächster Nähe ihre Wohnungen hatten.

28.-30. April 1945: Tagelang kam ich nicht mehr aus dem Zimmer. Es war eine freiwillige Gefangenschaft; dazu kalt und unfreundlich im überfüllten Raum. Mutters Kochstelle war eine alte Heizplatte. Sie spült mit Geduld, am Boden kniend, das wenige Geschirr, das wir noch mitnehmen konnten. Ausgangszeiten am 1. Tag von 7 - 9 Uhr und von 15 - 17 Uhr, ist dann aber verlängert worden von ½ 7 Uhr bis 19 Uhr. Am nächsten Tag gab der amerikanische Ortskommandant, der im Hirschhotel residierte, die Erlaubnis aus den beschlagnahmten Wohnungen den Rest der Habe zu holen; jedoch die Häuser gab er nicht frei, weil sie von nachrückenden Truppen ev. benötigt werden. – Einmal hieß es, der Kommandant hätte den Ausländern erlaubt, alle Ottobeurer Wohnungen zu plündern und herauszuholen, was ihnen gefiel. Wir verbarrikadierten in dieser Nacht auch die Zimmertüre und ließen uns nicht sehen. In der Brauhausküche unten bedrohte ein Ammi die Wirtin (Frau Wiesheu) mit der Pistole, weil kein Schnaps vorhanden war; man hat ihn zuvor verräumt – weil die Schwarzen im Rausch besonders gefährlich seien. Man kam aus den Aufregungen kaum heraus. Die vielen Ausländer waren natürlich seit dem Einmarsch der Truppen frei. Sie wurden von der Feldküche herausgefüttert, teils zogen sie plündernd durchs Land, viele bewaffneten sich und nahmen sich, was ihnen gefiel: Fahrräder, Radios, Photos, Trommelrevolver, Anzüge, Kleider … Am Ost- und Westeingang zur Kaserne saß je ein amerik. Wachposten auf dem Stuhl; weil es kalt war, zu seinen Füßen ein Feuer und die Waffe lässig am Gartenzaun. Die Polinnen gingen nachts mit den Amerikanern und nahmen an Orgien in den deutschen Wohnungen teil. Dort fanden sie auch Schmuck und schönere Kleidungsstücke. – In den riesigen Kellern des Bräuhauses war auch ein Butterlager. In jeder Kiste 1 Zentner. Das Lager wurde vor dem Eintreffen der Amerikaner teilweise geleert und 1 Kiste um 50 M verkauft, zuerst sogar verschenkt. Die Polenfrauen hatten schon lange zuvor mit diesem billigen Fett gekocht. Ich fand in meinem Werkraum (Flugmodellbau der Schulklasse) der Kaserne zwischen den Stäben versteckt einen großen Ballen Butter. Sie hatten demnach einen Schlüssel in meinen Raum – ich sagte nichts und hieß die angrenzend wohnende Frau das Fett zu holen. Sie hatte Angst.

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Später sah ich sie wieder im Kasernenhof. Am letzten Kriegstag fürs Günztal. Der Kasernenhof war voller Leute, auch viele Ausländer. Man beobachtete einen Flieger, der vom Friedhof aus beschossen wurde. Plötzlich legte der [Flieger] MG-Feuer in den Hof. Ich eilte unter die Bögen. Neben mir war die Frau und zitterte, wie ichs noch nie gesehen hatte. Ich gab ihr eine Zigarette. Wir standen vor meinem Werkraum – mit dem schönen Werkzeug spielten bald die Polenkinder. Einige Tage vorher waren von der Kaserne bis zum Grottenweg und bis zum Bannwald Lassovtruppen [Wlassov-Truppen] mit ihren Pferdegespannen. Sie bekamen Fliegerbeschuss, den ich vom Fenster aus beobachte. Dabei hätte ich beinahe ein Geschoss abbekommen. Die Männer – Asiaten – machten besorgte Gesichter. Einen fragte ich, was er denn nach dem Kriege machen werde. Er sagte: „Ich Afrika und viel schlafen!“

Am 1. Mai 1945 durften wir in unsere Wohnung zurück – hatten aber unter Umständen eine abermalige Ausquartierung mit in Kauf zu nehmen. Das ganze Haus war bös durcheinander gebracht – vom Keller bis zum Dachboden alles durchwühlt; die Gegenstände und Kochgeschirre, Schlüssel von einem Haushalt in den anderen gebracht. Im Keller fehlte mein Diamantfahrrad; damit sah ich kürzlich einen Polen fahren; ferner 1 kleiner und 1 großer Plattenapparat, 2 Feuerzeuge, 1 Barometer, 1 Schmalztopf. Den Eierkübel tief unter den Tannenzapfen haben sie nicht gefunden. Meine große Bücherkiste vor der Wohnungstüre wurde gründlich durchgesehen. Es fehlt u. a. das Buch: Hitler in der Karikatur – ich hatte es zuunterst liegen. Das Schreibtischtürchen ist weggerissen – hat sich einer draufgesetzt. Die Amerikaner hätten viel nehmen können – sie haben es nicht getan. Die paar Andenken seien ihnen samt der ledernen Brieftasche samt Ausweisen vergönnt. Leider war darin eine Quittung der Partei über 25 M Bußgeld, das ich wegen Nichtparteizugehörigkeit anno 1936 in Lachen zu zahlen hatte. – Beim Bäcker Reichenwallner [Ecke Luitpold- / Obere Straße] haben die Polen das ganze Haus total geplündert. Die Frau hat nichts mehr! Ihr Mann war in Ottobeuren Hilfspolizist. In Stefansried [Stephansried] haben die Polen [Serben?] den Bauern Schalk [Josef Schalk, am 28.04.1945] erschossen. Viele fahren mit vollgestopften Säcken Tabak, der ebenfalls aus dem Ottobeurer Lager stammt, hausieren und um zu handeln. Es blühte nun der „Schwarze Markt“. Gegen die Bedrohungen und Plünderungen durch die Ausländer wurde ein Bürger-Ortsschutz gebildet. Sie müssen weiße Armbinden tragen. Als „Abwehrwaffe“ genehmigte der Ortskommandant nur Stöcke – gegen die Trommelrevolver der Polen und Serben. Die Zahl der immer mehr zuströmenden Ausländer (Lager!!) macht auch diese Einrichtung

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fast zwecklos. Es seien zur Zeit bei 300 Ausländer in der benachbarten Kaserne. Sie haben überall, was verständlich ist, ihre Arbeitsplätze verlassen. Der eine und andere nahm aber auch seinen Dienstherrn gegen Plünderung und Angriffe in Schutz. Sie waren für humane Behandlung eben doch auch dankbar. In drei Wochen sollen sie abtransportiert werden – zunächst in große Lager – dann in ihre Heimat.

2. Mai 1945: Es schneit und ist kalt. Wir haben kein Radio mehr, kein Licht im Haus, keine Zeitung – abgeschnitten von der Um- und Außenwelt. Man weiß und erfährt nichts von Verwandten, von den benachbarten Orten, ja selbst vom eigenen Ort nicht. Die Obsthalbstämme der Eldernstraße sind teils abgeschossen – in Hofs hätten die Amerikaner einen Bauern vor sich hergeschoben, als Kugelfang beim Passieren des Weilers! Es wird soviel erzählt, dass man weder alles merken, noch notieren kann. Man sagt: Himmler habe die Kapitulation angeboten – Göring habe abgedankt – Hitler sei gefallen – vermutlich auch Goebbels nahm Abschied von seinem Tausendjährigen Reich nach 13 Jahren. Mit Mann und Ross und Wagen hat sie der Herr geschlagen.

– Die letzten Tage wurden die Lebensmittel ohne Marken und sogar Vollmilch abgegeben. Von der Gemeinde konnten je 4 Personen um 100 M eine Kiste Schmalz kaufen. Seit 1. Mai gibt die hiesige Marktgemeinde eigene Lebensmittelkarten mit dem Gemeindestempel heraus. Es wird auch weiterhin Vollmilch ausgegeben. Die Versorgung wäre so besser als vorher – wird kaum so bleiben! Die Ausländer erhalten mehr zugeteilt. Man fürchtet weitere Plünderungen und Gewaltakte. Der Ortskommandant hat nun auf Plünderung die Todesstrafe angesagt. Ob das hilft? Der Kommandant wird sehr gelobt. Unser neuer Bürgermeister ist der Sägewerksbesitzer Hans Schaber, sein Beistand Claessens bei Micheler, auch Sönning ist viel im Rathaus. Beim Einmarsch hätten die Amerikaner gleich nach dem Hans Schaber gefragt und ihn zum Bürgermeister bestimmt. Die Amerikaner haben sich immer im Nachbarort genau orientieren lassen. – Der Altbürgermeister des Dritten Reiches, Josef Hasel, dürfe sein Haus nicht mehr verlassen und würde bewacht. Die SS hat ihn am Tage des Einmarsches verhaftet und wollte ihn bei Eldern dem Standgericht zuführen – sei jedoch wieder frei gelassen worden, weil er nachweisen konnte, dass nicht er kapituliert hätte. Eine Stunde vor die amerikanischen Panzer einfuhren, war eine Bürgerabordnung den Amerikanern mit der weißen Kapitulations-Fahne entgegengegangen. Gleichzeitig kam in voller Aufregung unser Battl.-Führer zu mir und sagte: „Soweit sind wir jetzt gekommen, dass wir

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vor der eigenen Wehrmacht fliehen müssen.“ Er erzählte mir auch, dass Hasel in Haft sei, er glaube, dass auch er gesucht werde (von der SS). Ich solle ihm ein Versteck oder den Weg zum Amerikaner zeigen. Von der Memminger Straße her hörte man seit längerer Zeit Panzer fahren. Aber im nahen Bannwald steckten immer noch einzelne Truppen der Wehrmacht. Ich ging mit ihm bis zum Forsthaus und erklärte ihm die Lage – er war ganz durcheinander! Er wollte sich selbst den Amerikanern stellen oder sich im Bannwald erschießen. Als ich wenig später im Walde einen Pistolenschuss hörte, bin ich sehr erschrocken und dachte an meinen Kollegen, der nun so in Not war. Er hat sich aber nichts angetan und soll sich beim Gärtner Plersch als Arbeiter angeboten haben. Ein trauriges Ende nach soviel blindem Eifer! Viele Fragen stehen jetzt offen: Was geschieht mit dem Geld? Bleibst du im Beruf? Wie steht es mit dem Verdienst, wer wird regieren? Es gehen soviel besorgniserregende Gerüchte um, von der Verhaftung aller Parteileute, der SA, der SS u. a. Organisationen. Wird aus unserem Vaterland tatsächlich eine Schafweide und Kartoffelland gemacht?
Donnerstag, den 3. Mai 45: Bei den Rückzugskämpfen unserer Wehrmacht sind in der Umgebung etliche Höfe abgebrannt. So der schöne Hof „beim Oberbaur“von  Konrad Schweighardt in Niederdorf, die 2 Großhöfe Osterrieder und Schön in Untermoosbach (Lachen) sind durch Artilleriebeschuss schwer beschädigt. Den Aymüllerstadel traf eine Brandbombe. Im Kalten Brunnen, der Waldabteilung beim Böglinser Hof, wurden die Leichen des hiesigen LBA-Lagerleiters [Lüdke vom Lehrerbildungsanstalt aus Xanten, die im Kloster untergebracht war] und seiner Ehefrau gefunden. Als fanatische Hitleranhänger fanden sie als Ausweg nur den Selbstmord. Ihren beiden Kindern sollen sie einen Abschiedsbrief hinterlassen haben. Im Bräustüble haben amerik. Wachposten 6 Pistolenschüsse abgegeben, um die Frau Wiesheu zu erschrecken. Sie haben eine merkwürdige Schießerei in der Nacht! Die amerik. Besatzung ist größtenteils wieder abgerückt. Es sollen nur 10-15 Mann, ehemalige kriegsgefangene Franzosen an ihre Stelle treten! Man fände sich mit der Lage besser ab, kämen nicht immer noch mehr Ausländer in den Ort. Sie leisten sich viele Übergriffe. Seit gestern kommen immer mehr Zivilisten in unmöglichen Aufzügen den Konohof herab. Es sind verkleidete Soldaten auf dem Weg nach Hause. – Heute ist es kalt. Es hat in die blühenden Bäume und Sträucher geschneit. Wegen vermuteter Plünderung durch Ausländer schlief ich mit den Kleidern im Bett. Heute abend sah ich einen Serben mit meinem Fahrrad. Abnehmen wäre gefährlich! – Admiral Dönitz habe zum Widerstand aufgerufen. Im Stadtzentrum von München werde gekämpft.

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Sonntag, den 6. Mai 1945: Unsere ehemaligen Ostarbeiter sorgten wieder einmal reichlich für Aufregung und Sorgen. In der Stadt Memmingen bekamen sie die Erlaubnis 24 Stunden lang zu plündern. Vom hiesigen Ortskommandanten wurde solche Absicht streng abgelehnt. Um aber ihre Wünsche zu befriedigen, wurde gestern und heute eine Kleidung- und Wäschesammlung für die Ostarbeiter durchgeführt. Die amerik. Besatzung ist abgerückt, leider auch der Kommandant. Ich war einmal in der amerik. Kommandantur im Hirsch. Ich brachte zurück, was amerik. Soldaten in meiner Wohnung liegen gelassen hatten: Eine übergroße Taschenlampe, 1 Geldbörse voller kleinen, echt goldenen Halskettenschließen in Ringform; sie dürften aus einem Goldschmiedladen stammen.
Bei den amerik. Truppen um Stuttgart befinden sich meine 2 Kousins [Cousins], die Schwestersöhne meiner Mutter – aus St. Antonio in Texas. Ihr Vater ist in Betzisried der Pfarrei Ottobeuren geboren. – Der neue Kommandant, ein Major, befehligt Ottobeuren von Memmingen aus. 10 ehemalige kriegsgefangene Franzosen bilden die einzige Besatzung. Der zivile Ortsschutz wurde wesentlich verstärkt; fast alle Männer sind der Marktgemeinde-Polizei zugeteilt. Sie tragen weiße Armbinden mit dem Zeichen MG-Polizei Nr. … Ich habe Nr. 268. Die Wachen werden einem französischen und einem russischen Posten beigegeben. Ferner wird jede Straße Tag und Nacht von sogenannten Hauswachen beobachtet und die Männer durch besondere Zeichen bei Gefahr alarmiert. In meinem Haus am Grottenweg ist alle drei Tage eine Wache an den Fenstern. Ausgangszeit ist jetzt von 6 Uhr bis 19 Uhr. Dagegen haben die Memminger täglich nur 4 Stunden Ausgang. Die Stadt habe noch keine Lebensmittelmarken ausgegeben. Einige HJ-Buben hätten irgendwo Sprengkörper angebracht – amerik. Soldaten seien dabei ums Leben gekommen. – Ich wurde angegangen, den hiesigen Kirchenchor zu übernehmen – kein Chorregent mehr! Es soll jetzt Waffenstillstand sein! Aber gegen den Osten werde weitergekämpft. In Dänemark seien über 1 Mill. Deutsche Kriegsgefangene. – Gestern kamen von Memmingen her bei [etwa] 20 Kommunisten auf Fahrrädern und hissten auf dem Ottobeurer Rathaus die rote Fahne. Sie sei wieder entfernt. Man habe ihnen 4 Kisten Butter und 1 Ballen Tabak (so groß wie gepresste Heuballen!!) zur Beruhigung gegeben.

Montag, den 7. Mai 45: Ein herrlicher Maitag – alle Bäume stehen in Blüte! Insekten fliegen – Gewitterstimmung nachmittags. Musste heute für 10 Tage die Wachlisten aufstellen. Jetzt sind tagsüber 4, bei Nacht 6 deutsche Wachen eingesetzt – allein im Bräuhausgebiet (wegen der Tabak- und Butterlager) – verstärkt durch russische und serbische Wachen. (Füchse zum Hühnerhirten!) Viele Polen suchen sich jetzt auch

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Privatquartiere. Sie erzählen, dass sie nächste Woche nach Frankreich kommen und dann gegen Russland eingesetzt würden!! Wer möchte das glauben? Viele bekommen es mit der Angst zu tun. – In Sontheim hat deutsches Militär den Mesner erschossen, weil er zu früh die „Weiße Fahne“ hisste. Das wäre hier unserem Bruder Christoph wohl auch passiert, hätte er seine Meldung unterlassen. In Stefansried [Stephansried] terrorisieren die Polen die Bevölkerung so, dass sich niemand mehr aus dem Hause wagt. In Memmingen wird jetzt auf jeden Plünderer geschossen. Dort seien von Ausländern viele Frauen zusammengetrieben und in einem Saal sich zum Ausziehen gezwungen worden. Viele Schändungen seien vorgekommen. In Hetzlinshofen wurden vor den Augen der Eltern die Mädchen Anna und Wally Fischer von den Amerikanern vergewaltigt. Im Goßmannshofer Ziegelstadel habe ein Memminger Geschäftsmann große Mengen Anzüge einmauern lassen – wurde entdeckt und von Deutschen wie auch von Ausländern vollständig ausgeplündert. Die unglaublichsten und unwürdigsten Szenen seien dort vorgekommen. Hier in Ottobeuren wurde eine Offiziersfrau (er im Fliegerhorst Memmingen) vollständig ausgeraubt. Sie wohnte in der Nachbarschaft im Hause des früheren Kunstmalers Haugg. Das Raubgut stamme jedoch größtenteils aus Frankreich. Wie gewonnen, so zerronnen! Ich habe heute etliche sog. „angesehene Ottobeurer Bürger“ mit Serben Tabak handeln sehen. Sie waren vorher 110%ige.
Im Postamt ist am hellen Tage eingebrochen worden. Der Mann war in großer Aufregung – auch wollten mehrere Polen bei ihm Quartier nehmen. Ein Amerikaner habe einem deutschen Wachposten eine Schusswaffe abgenommen. Durch Unklugheiten verscherzt man sich immer wieder notwendige Vorteile. Jetzt haben auch die Memminger Lebensmittelmarken, aber immer nur 4 Std. Ausgang. Große Transportmaschinen überflogen heute Ottobeuren, sie nahmen [Kurs] SO. Ein Pole sagte mir: Abtransport aus dem Konzentrationslager Dachau; das stimmte, aber die Richtung der Flugzeuge nicht. Am Grottenbänkle sprach ich eine polnische Lehrerin, die seit Jahren hierher verschleppt war. Wir sind froh, dass wir den Kindern dieser Frauen öfters Brot geben konnten. Die Frau erzählte mir bittere Dinge. Gerücht: Deutsche Truppen wurden von Italien nach Osten transportiert – als Gefangene oder zum Kämpfen? Man weiß nicht mehr, was zu glauben ist! Hier ist der ganze Marktplatz voller Ausländer – jeder zweite Deutsche trägt die weiße Armbinde. Die Fremdarbeiter üben auf den gestohlenen Fahrrädern, und fallen oft auf die Straße; andere haben es zu Motorrädern gebracht. Mein DKW wurde mir schon 1944 weggenommen von einem Käser, der Butter hatte. Die Radfahrer und Schwarzhändler

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trauen sich gegenseitig nicht. Jeder versucht seine „Beute“ an Butter, Fett, Tabak, Wäsche, Kleider zu verstecken. Ich sehe sie fleißig laufen mit ihren vollgestopften Säcken. Unruhig und gefährlich sind die Nächte. Mit einem Ohr ist man immer draußen! Die Haustüre Tag und Nacht verschlossen; kein Mann will seine Familie allein lassen. Unsicherheit wird noch lange bleiben! Mein Berufskamerad und ehemaliger Battl.-Führer des Ottobeurer Volkssturms ist jetzt tatsächlich Hilfsgärtner bei Plersch geworden – er hat ja auch kaum Hoffnung, je noch einmal in den Beruf zurückzukommen. Wieviel zerbrochene Existenzen, wieviel Not, Elend, Selbstmorde haben die Kriegstreiber auf dem Gewissen!

Dienstag, den 8. Mai 1945: Heute Nachtwache bei mir. Von ½ 10 Uhr - 12 Uhr wache ich; dann ebensolang Studienrat Schlief und bis 5 Uhr mein Nachbar Hermann Gebbert, der früher die Ottobeurer Blaskapelle flott dirigierte; Angestellter beim Finanzamt – entlassen – zuletzt Aufsicht im Ausländerlager der Kaserne. Er behandelte die Leute human und sie verehrten und liebten ihn. – In Brüchlins sei geplündert worden, angeblich, weil eine Schusswaffe im Hause sei. In Wolferts gibt es 2 Mädchen, die mit den Amerikanern gut befreundet sind – sie reiten mit ihnen aus und sitzen hoch zu Ross in Reiters Schoß! Eine andere Ammifreundin ist gestorben – war leberkrank und trank schweren Alkohol. – Unser Ottobeurer Butterlager wird heute nach Memmingen abtransportiert – hoffentlich zieht es nun auch seine Liebhaber mit dorthin! Die Ausländer sollen in Memmingen gesammelt werden. Wieder zahlreiche Transportflieger über Ottobeuren – es sollen auch amerik. Truppen zurückgeflogen werden. Auch Senegal-Neger zogen durch den Ort. Wochenration: pro Person ½ Liter Milch, 2 Pfd. Butter, 2 Pfd. Zucker. – Jetzt kommt auch noch die Geldknappheit. Die Banken sind immer noch geschlossen! – In Kempten sei der nationalsozialistische Bürgermeister Brändle erschossen worden. Er hat vor einigen Jahren auf seine Weise den tüchtigen Oberbürgermeister Dr. Otto Merkt abgesetzt. Vielleicht ist er wieder im Amte oder die Ammi haben ihn mitgenommen. – Goebbels habe sich und seine Familie vergiftet. Man habe die Leichen aufgefunden. Über Hitlers Tod widersprechen sich die Meldungen, seine Leiche sei noch nicht gefunden. Niemand glaubt an seinen Tod! Himmler, von dem man auch nichts mehr hört, habe allein 4 Millionen Polen auf dem Gewissen. Dieser „Satan in Menschengestalt“ habe zuletzt den Befehl gegeben, alle Häftlinge der KZ (Dachau) zu töten.

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Christi-Himmelfahrt, der 10. Mai 45: Ist seit vielen Jahren wieder als Feiertag begangen worden. Der Pfarrer predigt über die verdorbene Jugend – bisher durften solche Themen öffentlich nicht besprochen werden. Herrlicher Maitag! Wir holten unsere Sachen aus dem Notquartier, weil dort Wachen einziehen sollten. Wir mussten den ganzen Abend fahren. Polen haben uns beobachtet. Deswegen Nachtwachen bis 1 Uhr. Rundfunkmeldungen wie ich sie von den Leuten höre: Krieg ist in Europa zu Ende. Deutschland hat kapituliert, auch in Norwegen und gegenüber den Sowjets. Göring mit General Kesselring gefangen. Er erklärt, von Hitler zum Tode verurteilt und verhaftet gewesen zu sein – die Luftwaffe hätte ihn wieder befreit. Er soll nun einem Gericht überstellt werden. Die Russen besetzen Deutschland bis zur Elbe.
Unsere Ottobeurer Polen und Russen wollen nicht gern oder überhaupt nicht in ihre Heimat zurück. Viele möchten lieber hier weiter arbeiten. Nach dem Siegesrausch und ihren Raub- und Rachezügen folgt die nüchterne Überlegung: Was wird uns in der Heimat erwarten? Man kennt sie jetzt in ihren doch ordentlichen Anzügen kaum von den anderen Bürgern weg. Kriegerische Verwicklungen zwischen Anglo-Amerika mit Russland berichten vor allem die Ausländer – sie sind besser über die politischen Vorgänge orientiert. Die Russen sollen sich aus Polen zurückziehen. Man klagt, dass die Amerikaner deutsche Kriegsgefangene den Russen tatsächlich ausliefern. Man wollte diese frühere Nachricht nicht glauben. Mit Politik wollen unsere Männer nichts mehr zu tun haben – wenigstens vorerst! Kreisleiter und Rechtsanwalt Schwarz (Memmingen) und sein Kumpan Kleinhans hätten sich zuletzt bei Bürgermeister Zinsmeister in Markt Rettenbach aufgehalten und seien mit diesem von den Amerikanern verhaftet worden.

Samstag, 12.5.45: Nicht alles glauben. Gestern hieß es: Über 100 Marokkaner besetzen Ottobeuren. Solche Gerüchte gehen auf die Nerven. Tatsächlich standen sie mit ihren Fahrzeugen auf dem Marktplatz und am Finanzamt [das FA war im Ämtergebäude]. Dort wurden Privatwohnungen geräumt! Wieder wurden Familien ausquartiert. Wir am Ortsrand würden wohl die nächsten sein! Heute früh war am Finanzamt das Sternenbanner gehisst, das Gebäude stark belegt von Amerikanern, die wir nicht zu fürchten brauchten. Täglich ½ 9 Uhr muss ein großer Teil der Wachmänner zum Bräuhaus kommen. Im Bräustüble war Befehlsausgabe. Den Selbstschutz leitet Oberforstmeister Schmid. Der Markt ist jetzt in 6 Wachbezirke eingeteilt. Im Orte ist es jetzt etwas ruhiger geworden – dagegen werden die umliegenden Gehöfte mehr als zuvor übel heimgesucht. Hier wurde ein Hutlager geplündert. Auf dem Schwarzmarkt bringt man alles an und es sind
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soviele Männer noch unbehutet. Sie laufen offen damit herum. Die Geschäftsleute haben doch noch versteckte Lager – Hüte gab es nämlich schon lange nicht mehr! Beim Mohrenwirt ist eine sowjetische Flagge mit Sichel und Hammer gehisst. In Memmingen sei eine Zeitung erschienen mit der Meldung, Hitler sei nach Japan geflohen. Viele hohe Parteifunktionäre seien bereits in alliierten Händen – hoffentlich entwischt ihnen der Himmler nicht. In der Schelmenheide erfolgten heute mehrere Sprengungen – turmhoch stiegen die Rauchpilze aus dem Hochwald. Das ganze Haus erzitterte. Vielleicht wurden im Walde Geschütze gesprengt!

Montag, den 14. Mai 45: Sommerliche Hitze! Treibhausklima! Es wird viel Heu und wenig Vieh geben – bald [da?] es abgeliefert ist. Im Bannwald sahen wir ein zertrümmertes Rotkreuzauto. Auf das Schutzblech war geschrieben: „Nieder mit Hitler!“ Berichte melden, er sei mit einem U-Boot geflohen. Man sagt: Besser sind wir unseren Gegnern ausgeliefert als ihm. Ein Geistlicher sagte zu mir: Es ist eine große Gnade Gottes, dass er diese Teufel dorthin befördert, wohin sie gehören. Gestern mussten hier für 300 Amerikaner Quartiere frei gemacht werden. Zu diesem Zwecke wurden Teile der Abt-Anselm-, Memminger-, Alexander- und Bahnhofstraße geräumt. Der freiwillige Hilfsdienst hat sich beim Umzug der vielen Familien gut bewährt.
Abends 10 Uhr fuhr die motorisierte Kolonne von Hopferbach kommend, hier vor. Es seien Gensungstruppen [Genesungstruppen?], die mehrere Wochen hier bleiben sollen. Man klagt bisher nicht über die Amerikaner. Als ich mit Dr. Greß aus der Kirche trat, kam ein Amerikaner auf uns zu, nahm seinen Stahlhelm ab und zeigte 3 Anhänger oder Auszeichnungen vor, die er in der Basilika weihen lassen wollte. Das hat uns beide gefreut. Man sieht viele Amerikaner bei uns im Gottesdienst. Unser Knabenschulhaus, das immer noch Lazarett ist, soll nun auch geräumt werden. Mit dem Unterricht kann man vor Herbst nicht beginnen – es fehlen auch Lehr- und Lernmittel. Ich gehe nicht gern durch den Markt, weil mich die Schulbuben immer noch mit dem deutschen Gruß grüßen – natürlich aus Gewohnheit. Gestern erhielt ich das 1. Amtsblatt der Militärregierung für den Stadt- und Landbezirk Memmingen – sie hat 4 Sprachendruck. Darin ist zu lesen, dass sämtliche Männer, die irgendwann und irgendwo gedient haben (Heer, Marine, Luftwaffe, SS…) sich beim örtlichen Bürgermeister zu melden hätten – die Nachricht wurde heute auch ausgeschellt und ausgerufen. Bei der Gemeinde wies mich Schönmetzler mit dem Bemerken ab, ich sei doch schon lange entlassen. Mir wars nur recht. Amerik. Entlassungen wurden in Biessenhofen bei Markt Oberdorf durchgeführt. Ich ging nie dorthin.

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Tagesgerücht: Amerikaner und Engländer hätten vom Russen einen Rückzug von 1000 km gefordert sowie die Auslieferung der Kriegsgefangenen. Aus Österreich, das von den Russen besetzt ist: Alle Parteiangehörigen vor 1933 würden erschossen, der Rest verurteilt 5 - 10 Jahre Zwangsarbeit in Russland. In Tirol wurden die Bonzen geschnappt, die unser Land so schnell verließen. Aus der örtlichen „MG-Pilize“ [MG-Polizei? oder Military Police?] mussten auf Verlangen etliche Männer entfernt werden. Auftakt zur geheimen Anklägerei! Laut Aufruf sollten sich die Fremdarbeiter vorerst wieder an ihre alten Arbeitsplätze begeben. Die ehem. kriegsgefangenen Franzosen sind bereits abgewandert. Serben, Polen, Russen und eine Unzahl von Evakuierten sind noch hier. Im nahen Karlins haben die Polen der Wirtstochter Albrecht am hellen Tage das Fahrrad aus der Hand gerissen und sind damit verschwunden. Die Plünderungen bei den Bauern werden häufiger.
Schreinermeister Leinauer sagte zu mir: Ich mache hauptsächlich Särge; letzte Woche waren es 9. Hohe Sterblichkeit. Hunger-Schrecken-Nerven-Angst. Flüchtlingselend katastrophal! Soldaten fragen nach Angehörigen – andere suchen den Weg nach Hause.

16. Mai 1945: Ein Block von Nichtparteileuten soll hier gegründet werden. Triebkraft ein Rechtsanwalt Milz, kein Ottobeurer. Man wolle auf die anderen einen Druck ausüben. Auf ihre Veranlassung hin wurden aus der Wachmannschaft die Männer entfernt. Nicht alle ehrbaren biederen Bürger zeigen sich jetzt ehrbar und bieder, viele sogar völlig grundlos gehässig; andere betätigen sich als Spitzel und wieder andere als Verräter. Ursache wahrscheinlich Postenjägerei, Egoismus, Geltungsbedürfnis – so wird man ein Denunziant. Trotzdem haben die Amerikaner den Ripfl August, früher ein Parteimann, nicht gefunden. – Polen plünderten gestern beim Bürgermeister in Langenberg; sie holen sich aus den Häusern, was ihnen passt und bedrohen die Leute mit der Schusswaffe. Man darf sich mit einem Fahrrad nicht auf der Straße sehen lassen. Heute mussten sich alle ehemaligen PG auf dem Gemeindeamt melden. Ich war seit dem 1.5.1938 Mitglied. Die Regierung verlangte den Beitritt bereits bei meiner Versetzung von Lachen nach Ottobeuren. Gottlob hatte ich keinerlei Funktion übernommen, ja nicht einmal ein Parteibuch besessen. Der Gendarmerie sollen 10 Mann vom Ort zugeteilt werden. Ich sollte über Pfingsten nach Ollarzried als Organist – keine Zusage – kein Fahrrad! Kinder gehen wieder in den Kindergarten zu den Schwestern. – Neue Ausgangszeiten seit gestern von 6 Uhr bis 21 Uhr. Die Amerikaner sagen, sie wollten das deutsche Volk nicht bedrücken. Bei ihnen kommt es auf den Kommandanten an.

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17. Mai 1945: Hier wird nun eine 15-köpfige Ortspolizei, welche der Gendarmerie unterstellt wird, aufgestellt. Der Dienstplan wurde bereits heute besprochen. Die Polen, Russen, Serben sollen bis 20. Mai ihre Waffen abliefern, weil in der Umgebung, besonders auf abgelegenen Einöden, geplündert wird. Besonders schlimm sei es nach dem Abzug der Franzosen nun in Hawangen. Die Franzosen haben noch auf etwas Ordnung gesehen. Von einem Böhener erfuhr ich, dass meiner Schwester 2 Fahrräder entwendet wurden.
18. Mai 45: Im Flecken ist Wassernot. Der erwartete Regen blieb aus. In Grönenbach sei alles ziemlich ruhig verlaufen. Bei Marte und Deiring sei geplündert worden. Hauptlehrer Fink und Holderied seien von den Amerikanern mitgenommen worden. Verschiedene Orte sind von ausländischen Arbeitskräften bereits frei. Hier sammeln sich ebenfalls viele. Der Abtransport soll unmittelbar bevorstehen. Gestern Nacht hätten sie noch den ganzen Bräuhauskeller ausgeplündert. Am hellen Morgen schafften sie das Diebesgut fort. Wie ganz anders ist das Verhalten der fast 400 Amerikaner! Sie zeigen sich immer wieder als große Kinderfreunde – immer wieder werden die Kleinen von ihnen beschenkt und angesprochen – sie mögen wie alle Soldaten der Welt auch die Mädchen ganz gerne und manche Deutsche läuft mit den Schwarzen. In Reuthen will ein sehr sauberes Mädchen mit einem Schwarzen zum anderen Erdteil. Wo bleibt der Verstand! In der Nacht hört man öfters Schießereien auf den Straßen – sie ist halb so schlimm gemeint. Wenn die Ausländer weg sind, bräuchten die Ammi keinen Posten mehr auszustellen. Die Bevölkerung verhält sich ruhig und muss froh sein, dass eine Besatzung hier ist. Unsere russischen Arbeiter sträuben sich heimzufahren – sie sagen: Bis jetzt deutscher Kriegsgefangener, nachher bald amerikanischer Gefangener; sie glauben an eine Auseinandersetzung zwischen beiden Völkern. Die Polen gehen lieber nach Frankreich – auch sie sprechen, sie würden gegen Russland eingesetzt. Viele Serben bleiben in Deutschland. Das Los der Ostbevölkerung ist recht traurig. Sie gehen von einer Knechtschaft unter eine andere. Ob sie ihre Angehörigen im verheerten Land je finden werden? – Japan erträgt zur Zeit die schwersten Luftangriffe – das Volk habe sich in 2 Parteien gespalten. Amerika wird viel zu tun haben, um der Welt den Frieden zu sichern. Hitlers Vorhaben, Europa zu beherrschen, war ebenso ein Unsinn, eine Utopie wie die Mussolinis und schließlich auch Stalins. Hitler schrie immer: „Gebt mir 10 Jahre Zeit und ihr werdet Deutschland nicht wieder erkennen.“ Damit hat er ja recht gehabt – nur Ruinen! Aber auch die Engländer gehören zu den Besiegten!

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Pfingstsonntag, den 20. Mai 1945: Heute Nacht Gewitterregen. Tito stellt Ansprüche auf Triest und das Gebiet bis Klagenfurt. Die Alliierten geben das nicht zu. Ihre Meinung: Titos Gewaltmaßnahmen erinnerten zu sehr an Hitler und Mussolini. In der Polenfrage gab Stalin eine ablehnende Antwort – er will keinen Pufferstaat. Alfred Rosenberg, unser Mythosfabrikant, wurde in einem Flensburger Krankenhaus entdeckt. Jetzt haben sie die Haupträdelsführer bald geschnappt, bis auf Bormann und Eichmann, die Henker der SS; den Hitler wollen die Russen in einem Verbrannten im Hauptquartier gefunden haben. In Bayern bleiben die Einrichtungen der Bauernschaft unter anderem Namen bestehen. Die Militärregierung verbietet vorerst jede Partei- und Blockbildung. Das ist gut – es gäbe Chaos, Revolution – den Rahm schöpften die Kommunisten ab. – Heute wird das Lazarett im Hirschhotel geräumt. Hier sind fast lauter Beinamputierte, bedauernswerte junge Männer. Der ganze Marktplatz stand voller amerik. Lazarettautos. Die Verwundeten werden nach Augsburg verlegt samt dem Personal. – Vor der Basilika stand um ½ 12 Uhr ein bewaffneter Neger. Buben und Mädchen staunten und gafften!

Pfingstmontag, 21. Mai 45: Auf dem Wege zur Kirche erfuhr ich, dass sich heute um ½ 10 Uhr alle Männer über 16 Jahre am Rathaus einzufinden hätten. Bald füllte sich der Marktplatz. Es sind hier mehr Männer, als ich erwartet hatte. Amerikanische Lastwagen beförderten Tische und Stühle zur nahen Maibaumwiese. Ich konnte mir den Vorgang nicht denken. Wir mussten nun zur Maibaumwiese. Sie wurde von bewaffneten Amerikanern abgesperrt. Niemand durfte den Platz verlassen. Auf der Memminger Straße standen fahrbereite Lastwagen. Jetzt ging mir bald ein Licht auf! Abtransport aller verdächtigen, angeschwärzten oder auf Listen stehenden Männer. Auskämmung! In der Wiesenmitte werden Tische aufgestellt; mehrere Offiziere fahren heran und besetzen die Stühle; Schreibpapier auf dem Tisch. Die befohlenen Männer und alle neugierigen Frauen im großen Kreise wie ein Umstand in mehreren Reihen. An jedem Tisch ein Gemeindeangestellter mit den Listen der zu erscheinenden Männer. In zwei Reihen ist Anstellen vor den Tischen. Die Gemeindebeamten kontrollieren und notieren an Hand der Ausweispapiere Name, Beruf, Geburtstdatum und Wohnung. Hernach anstehen beim amerik. Offizier, der die Ausweise kontrolliert und Fragen stellt über Parteizugehörigkeit u. a. Mehr, Lastwagen voller Männer, auch noch Soldaten dabei, die sich nicht ausweisen konnten, ihren Wehrpass oder Soldbuch verloren hatten, wurden nach Memmingen ins Gefängnis abgefahren. Darunter war nun auch mein Berufskamerad,

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der „Gärtner“. Er hatte keinen Ausweis als Soldat, noch als Zivilist. Bei seiner Flucht vor der deutschen Wehrmacht übergab er mir damals seinen Wehrpass mit der Bemerkung seiner Uk-Stellung als wichtiger Parteimann. Als ich aus meinem Hause ausquartiert wurde, übergab ich den für mich recht gefährlichen Pass, der bisher unter einer Krautstande war, der Wirtin vom Bräustüble. Und die unerschrockene Frau warf ihn beim Eintreffen der Amerikaner kurzweg in ihr Herdfeuer. Weg war er. – Heute stand er nun neben mir und fordert seinen WP zurück. Ich erzählte ihm seinen Totalverlust. Er wollte, dass ich mich vormelde und das Missgeschick berichte. Der wachhabende Amerikaner ließ mich nicht in die Wiese: „Du warten können!“ Als ich dran war und beim Offizier saß, er mein Entlassungspapier von Karlsbad 1944 immer wieder studierte, las ich auf seinem Zettel auch den Namen des wehrpasslosen Kollegen. Mein Vormann musste ihn angegeben haben; denn von den 5 Namen war er der letzte. Er galt in Ottobeuren als Bonze und wurde von meinem Vormann, einem pensionierten Pfarrer und Organisten gemeldet. Bei ihm hat der Offizier immer wieder geschrieben – und zwar in Großantiqua, wie unsere ABC-Schützen in den ersten Wochen die Schrift erlernen. Ich habe mich darüber gewundert. Ein Offizier [muss] noch so schreiben! Mein Kollege tat mir leid. Ich sagte von der Passsache nichts mehr – hätte mich wohl selbst hineingerannt, er wurde bei der Namensnennung ohne Verhör sofort zum Lastwagen abgeführt. „Die Letzten werden die Ersten werden!“ Die Amerikaner nahmen beim Verhör auf der Maibaumwiese zuerst die Klosterinsassen und Geistlichen dran, die jahrelang die letzten waren. Ich stand also bis 16 Uhr auf der Wiese, die unser schulischer Spielplatz war, und dankte Gott, dass mein Name nicht auf dem Zettel stand. –
Während dieser Kontrolle durchsuchten zahlreiche Ammis viele Häuser nach Waffen und eventuell versteckten Männern. Die Abwesenheit der Männer zuhause benützten die Polen zum Tabakdiebstahl im Bräuhaus. Sie wurden von amerik. Posten erwischt und abgeführt. Von den nach Memmingen gelieferten Männern kam abends die Hälfte wieder zurück – kurz vor einem sehr heftigen Gewitterregen. Kein Mann durfte vor 18 Uhr den Ort Ottobeuren verlassen. Während der Verhöre kam eine Frau lärmend und schimpfend zum Offizier gerannt: Man hat mich bestohlen: Die Soldaten haben mir den Schmuck gestohlen. Man trieb sie hinaus – der Schmuck blieb bei dem, der ihn genommen hatte.

22. Mai 1945: Abermals müssen viele Häuser geräumt werden: Die Gendarmeriestation, der Bruckgerber, Engelwirt, Gerle und das Schulhaus am Marktplatz. In letzterem räumte ich von 7 - 9 Uhr mit einigen Buben das Lehrmittelzimmer. Ein Ammiposten sagte mir hernach, dass

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wahrscheinlich keine Truppen hineinkämen. Stunden später sah ich die Polen einziehen, die sich möglicherweise darin zu sammeln hatten. Die Sorge, abermals die Wohnung räumen zu müssen, lastet schwer auf uns. Koffer und Kisten sind immer noch verpackt. Die Hauptlast trägt das Kloster. Dort kann man manches unterbringen, nicht nur Menschen und Koffer, auch besondere Anliegen. Dieses Tagebuch lag dort sicher verwahrt vor fremdem Zugriff. Den Essener Frauen wird nachgesagt, sie stünden mit den Soldaten in intimem Verkehr wegen Schokolade und Zigaretten. Ich will es nicht gerne glauben. Politisch ist die Lage nicht gut. Der Friede scheint in weite Ferne gerückt zu sein. Der Luxemburger Sender sagte heute: Hitler und Axmann gehörten zu den reichsten Männern der Welt. Über eine Milliarde Jahreseinkommen. Für uns natürlich nicht nachprüfbar. Die Deutschen hätten noch für 2 Monate Nahrungsmittel – ihr Gesundheitszustand sei gut. - England muss die Rationen herabsetzen – sie bekommen teils weniger als wir. Die Italienarmee wird nach Bayern verlegt und entlassen. Alle Kriegsgefangenen über 50 Jahre, landwirtschaftliche Arbeiter und Angehörige wichtiger Berufe werden vom Amerikaner entlassen. Heute war die Frau des „Gärtnerkollegen“ bei mir. Sie wusste angeblich noch nicht, dass ihr Mann in Einzelhaft genommen wurde bis zur Hauptverhandlung. Sie ist immer noch der Ansicht, er sei wegen fehlenden Passes mitgenommen worden. Es wird gesagt, dass der Hirschwirt sein Gebäude auf 5 Jahre räumen müsse. Nette Aussichten wären das!
23. bis 28. Mai 1945: Immer noch werden Häuser geräumt – andere wieder dürfen in ihre Wohnungen zurück. 3 Lastwagen vollbeladen mit Ausländern sah ich durchfahren. Russen exerzieren in Memmingen – Frankreich hat den Libanon besetzt – Engländer und Franzosen schossen aufeinander. Die Uniformschneiderei Marte in Grönenbach total ausgeplündert. Fadenspulen lagen auf der Bahnhofstraße. Man habe noch zuvor viele Stoffe 1 m um 12 Mark an Zivil verkauft – auch die Nähmaschinen seien weggenommen worden. Ab 24.5. gibt es hier die mit Stöcken bewaffnete Hilfspolizei. Heute Donnerstag, den 24. Mai fuhren die Polen mit großem Abschiedgeheul auf Lastwagen, vollgepackt mit gefüllten Säcken, Koffern und Schachteln. Ich stand auch am Grottenweg und winkte ihnen nach, wie sie uns. Ich hatte Mitleid. Welchem Schicksal fahren sie sie freudig, singend entgegen? In der Kaserne halten sich noch viele Russen mit ihren Familien auf. Angeblich sollen auch sie nächste Woche weggeholt werden. Nachmittags große Überraschung. Mein Schwager Eduard kam bis von Zwiesel hergelaufen, trotz abgenommener Vorderfüße. Zuerst dachte ich an einen Ausländer – so war er verkleidet. So kommen sie heim!!

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Sein Haus in der Pfalz wird ausgeplündert sein. Was er am Leibe trägt, ist seine ganze Habe. – Heute hätten die Amerikaner Bürgermeister Hasel von Ottobeuren und den Bürgermeister von Haitzen, Ulrich Hölzle in Böglins verhaftet und weggefahren. Schurrer sei in ein Lager gekommen; er kam von Memmingen nicht mehr zurück. Von Fink Michael, der am ersten Tage wegen seiner Beobachtungen mit dem Feldstecher verhaftet wurde, ist immer noch nichts bekannt. Wo ist er, was ist mit ihm geschehen. Er hatte bei seiner Verhaftung nur ein leichtes „Sommerjöpple“ getragen – keine Kleidung für kalte Tage. Am Rathaus kann man jetzt eine Zeitung lesen. Im Kreis Mindelheim und Memmingen seien bis jetzt 168 strafbare Fälle vorgekommen – Übertretungen des Ausgehverbots. Bauer Seefelder von Bossarts wurde mit 3 Monaten Gefängnis und 5000 M bestraft. Man hat wieder Wohnungssorgen. Bei den Russen in der Kaserne erschien ein russischer Kommissar in Uniform. Es sind hier etwa 200. Ab 29. Mai gibt es neue Lebensmittelmarken mit herabgesetzten Rationen. – Kleinere SS-Gruppen sollen sich immer noch in den Wäldern der Umgebung herumtreiben. – Der Fronleichnamstag soll wie früher gehalten werden.    

2. und 3. Juni 1945: Ab heute sind sämtliche Verdunklungsvorschriften aufgehoben. Bewaffnete Zusammenstöße in Stuttgart zwischen Franzosen und Amerikanern – wieder eine Ente? Übrigens ist das Gebiet westlich der Iller von den Franzosen besetzt. Sie führen ein strenges Regiment. Man ist unzufrieden. Über die Iller nach Illerbeuren, Steinbach, Legau zu kommen, ist sehr schwierig. An der Iller in Au ist der große Hof Fischer. Ein Franzose kam über die Iller in diesen Hof, begrüßte mit großer Freude den Bauern und bestellte Grüße von seinem Vater, der im 1. Weltkrieg als Gefangener in Fischers Hofe arbeitete. Große Freude in ganz Au, und Festessen! – Im Rheinland sei der Typhus ausgebrochen. Auch in Memmingen und Ulm seien einzelne Fälle. Schwerer Hagelschlag mit faustgroßen Schlossen um und in München – alle Hausdächer sind zerschlagen. Am östl. Bräuhausaufgang stürzten 2 besoffene Russen die steile Böschung hinunter – sie haben schwere Verletzungen. Über die Vorgänge im Konzentrationslager erfährt man jetzt immer mehr.
Heute Sonntag, sagte mir ein ehem. Soldat, dass er in Biessenhofen die oben erwähnten beiden Bürgermeister gesehen habe. Sie sollen demnächst nach Augsburg in ein Lager kommen. Nachmittags traf ich einen Württemberger, der sich in Böhen eine Arbeitsstelle suchte – er will wegen der Franzosen nicht heim. Ein Ausländer habe einen franz. Kommandanten erschossen – deswegen Straßenkämpfe bei Stuttgart. Das Verhältnis der Alliierten zu Degols [De Gaulles-] Frankreich sei nicht gut.
 
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In der Legauer Gegend seien von den Franzosen Neger als Besatzung eingesetzt. Greuliche Berichte kommen von dort. – Unser Knabenschulhaus ist voller Amerikaner. In das Mädchenschulhaus soll eine russische Schule mit 10 - 12 Kindern kommen mit 2 russ. Lehrerinnen. Wollen sie ganz hier bleiben? Heißt es wieder wie anno 1809 von den Franzosen in Berlin: „Nit raus! Wir gehen nicht mehr heraus!“ Die Plünderungen haben noch nicht ganz aufgehört – die Diebstähle nehmen zu. Jetzt sollen größere Haushaltungen Küchengeschirr für die Russenfamilien abliefern. In München wurde heute (3.6.) die Fronleichnamsprozession mit schätzungsweise 20.000 Teilnehmern abgehalten. München zählt gegenwärtig nur 45.000 Einwohner und noch mehr Ausländer. In der „Stadt der Bewegung“ bewegt sich gar viel – die Bevölkerung, der Schwarzmarkt blüht… Die Bauern ernten. Gutes Jahr! Man muss ihnen die Ausgangszeit verlängern. Man darf die 6 km-Zone nicht ohne Sondererlaubnis verlassen! Man ist Gefangener im eigenen Lande. Alles demütigende Bußen, aber auch Vorsichtsmaßnahmen der Besatzungsmacht. Damals auf der Ottobeurer Maibaumwiese ging ein Deutscher in kurzer Lederhose, aus der ein Stilett schaute, vom Platze. Man durfte doch nicht die Wiese verlassen. Aber – sagte er – ich muss doch abseits [pinkeln?]. 2 Amerikaner schlichen ihm nach und zogen ruckartig das Stilett aus der Messertasche. Welche Enttäuschung! Am Messerhorngriff war ein Kamm. Welche Schadenfreude beim Besitzer und bei allen Beobachtern! In Grönenbach hat man Bürgermeister und Kreisbauernführer Math. Wiedenmayer und den Ortsgruppenleiter Schachenmayer ins Lager abgeholt. – Unsere Ortspolizei sammelt Geschirr für die Russen ein.

Samstag, den 9. Juni 45: In ganz Deutschland wird eine sehr reiche Ernte erwartet. Die Russen haben den Böglinserhof südl. von Ottobeuren total geplündert. Sie sind mit Lastauto vorgefahren, nahmen alle Wäsche, Schuhe und Betten mit. Im Keller ließen sie 1700 Liter Most auslaufen. Hofbesitzer und Bgm. Hölzle sitzt in Gefangenschaft. Sicher ein Racheakt. – Alle nicht in Arbeit stehenden Personen müssen sich bis zum 10. Juni wieder einmal im Rathaus melden. Welche Schikanen kommen jetzt wieder? Ich wurde vom Gemeindeamt beauftragt, mit Frl. Gerhäuser (Lehrerin) die Kartoffelkäferbekämpfung durchzuführen. Die Kartoffelstauden sind rot von Larven. Man behauptet seit Jahren, die Feinde hätten sie vom Flugzeug aus abgeworfen. Wir haben mit rund 100 Kindern gleich begonnen. Gestern nahm die Ortspolizei in allen Häusern listenmäßig die Zahl der Personen, Betten und Räume auf. Die 240 hiesigen Russen hätten Privatquartiere gefordert. Man sieht die Männer tgl. zum Exerzieren marschieren. Für wen, gegen wen? Sie selbst

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sagen, der Krieg sei noch lange nicht aus.

10. - 18. Juni 1945: In unseren Wäldern sind bald mehr Ausländer als Bäume. Im Kloster haben sie über 20 Hennen geholt. Merkwürdige Füchse! Bruder Ulrichs Kiesgrube auf dem Konenhof ist abgebrannt. Gestern abends Orgelkonzert für höhere amerik. Offiziere. Es wird gesprochen, dass das Memminger Ausländerlager mit mehreren Tausend Insassen nach hier verlegt werden soll. Hoffentlich bleibts ein Gerücht. In Bayern sei ein Kultusminister ernannt. Heute am 12.6. seien unsere zwei Bürgermeister Schaber und Sönning wegen ihrer Parteizugehörigkeit wieder abgesetzt worden. An seine Stelle trat Glasermeister Alexander Wegmann und Bauer Georg Hebel od. Höbel. Michel Fink ist immer noch verschollen. Wer im Lager ist, darf nicht schreiben. In München findet Schuleinschreibung statt. Alle Lehrer, die in der Partei eine Funktion hatten, seien entlassen worden. Landrat in Mindelheim verhaftet – er soll sein Parteiamt verschwiegen haben. Auf Siggs Acker zahlreiche Kartoffelkäfer gefunden. Eine Nichte von Churchill besichtigte unser Kloster. Dr. Greß spielte ihr die prächtige Riepporgel vor. Anschließend besuchte sie das Russenlager von der Türe aus. Sie ging nicht hinein. Wanzen, Flöhe? Im Kasernenhof die rote Fahne mit Sichel und Hammer. Wieder haben die Besatzungstruppen gewechselt. Bei uns fragte ein Amerikaner nach Zimmer- und Personenzahl. Hoffentlich bleibts bei der Frage. Der Forstmeister und sein Nachbar Waldmann mussten das obere Stockwerk räumen.
Vergangenen Samstag (16.6.45) erhielten alle Beamten und Lehrer im Kreis Memmingen die Fragebogen der Militärregierung ausgehändigt. Es beginnt die Durchsiebung eines ganzen Volkes mittels eines beschämenden Fragebogens. Wer ihn erfunden hat, war kein guter Mensch – der will ein ganzes Volk, das keinen Krieg suchte oder wollte, erniedrigen. Man frägt nicht nur nach Parteizugehörigkeit und Zugehörigkeit zu ihren Untergliederungen, sondern will auch wissen, ob und wen man bei den geheimen Wahlen gewählt habe. Man will wissen, wieviel man Geld hat und jährl. Verdienst, ob man öffentliche Reden für die Partei hielt u. a. Nun wird man bald wissen, ob man ebenfalls in ein Lager abgeholt wird und ob man im Berufe bleiben kann. Seit Kriegsende gab es keine Gehaltszahlung mehr und die Kasse ist gesperrt. Es wird gesagt: Parteizugehörigkeit vor 1933 bedeutet automatischen Ausschluss aus dem Schuldienst und Amt. 1937 und 1938 hat die Partei ihre meisten Mitglieder unter Druck aufgenommen, weil sie Geld brauchten, Geld und immer wieder Geld.

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Es ist eine undankbare Aufgabe, Beamter oder Lehrer zu sein. Man wird vereidigt auf den Staat und hat jeder Regierung die Treue zu bewahren. Bei jedem Wechsel soll man die Gesinnung wechseln und will man nicht, sitzt man auf der Straße. Das ist noch nie dagewesen, dass eine ausländische Macht die meisten Beamten und Lehrer entlässt und jeden nächstbesten Unbekannten ungeprüft auf den freien Posten setzt. – Ausgangszeit ist jetzt (22.6.) von 5 bis 21.30 Uhr. Die Ausländer halten sich nicht daran.

23. - 25. Juni 45: Strenge Woche. Täglich ungewohnte Waldarbeit. Wer Holz haben will, muss es selbst fällen. Ich habe 45 Stücke etwa 15jährige Tannen (mehr sog. Stangenholz) im Kalten Brunnen, zusammen mit Heinz Reinl. Trat in ein Wespennest – 6 liebliche Tierchen impften meinen Nacken! Viele Russen heiraten vor ihrem Abtransport – die meisten zum zweitenmale. Fast alle Russinnen sind schwanger geworden in den Tagen ihrer Freude. Väter werden in der Mehrzahl Amerikaner sein. In der Kaserne geht seit 2 Tagen ein schwunghafter Handel mit Ballentabakblättern. Die Bauern bringen Mehl, Eier, Speck, Geräuchertes gegen einen Sack voll Tabak. Käme zum Bauern ein Deutscher, dann hätte er nichts abzugeben – kein Ei. Anno 1944 bin ich als Soldat in der Karlsbader Gegend auch zu den Bauern „Eierhamstern“ gegangen – aber nie erhielt ich nur 1 einziges Eilein. Der Egoismus und Materialismus sind nicht auszurotten. Übrigens halten die Russen besser zusammen als die Deutschen. – Habe diese Woche über 1000 Kartoffelkäferlarven eingesammelt. Wenn uns erst die Kartoffel noch fehlen würden? Heute kam unser Hausgenosse Reinl bis von Kiel her gelaufen mit einem umgebauten Kinderwagen. – Am Johannitag heftiges Hitzegewitter. Karli brachte uns einen Amerikaner ins Haus. Er wollte seine Wäsche waschen lassen. Wir unterhielten uns mit ihm recht gut eine halbe Stunde lang. Er gab den Kindern Schokolade. Solch Ereignis! – Nun sind wirs drei Holzmacher. Ich erhielt 3,5 Ster.

26. - 30. Juni 45: Kürzlich beobachte ich, wie im Kasernenhof ein russischer Offizier einen Russen mit der Pistole bedrohte. Vermutlich weigerte er sich heimzukehren. Heute kamen die Russen fort. Nur 6 Polen blieben übrig. Amerikanische Lastwagen beförderten die Männer und Frauen nach München. Von dort aus sollen sie in ein Sammellager der Tschechei kommen. Die Männer müssen Militärdienst leisten – ein russ. Hauptmann sagte: Es gibt noch Krieg mit England! (Dahinter steckt die Beherrschung Europas!). Habe eine Frau abgehalten, einem Russen ihren Ehering gegen Tabak einzutauschen. Unser Pfarrer sagte mir heute, falls ich vom Berufe käme, würde mir die Organistenstelle übertragen.

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Peter u. Paulstag ist wieder ein Feiertag! Ich sprach heute mit unserem hochbetagten Abt über Schulfragen und ev. Organistendienst. Im Kloster wird wieder eine Lateinschule errichtet. Eventuell gäbe es auch darin Arbeit für mich. Der Herr Abt Einsiedler bat mich, doch im Schuldienst zu bleiben. Meinen langen Personalbogen erhielt ich zurück – er muss mit Maschine geschrieben sein. Ich glaube, dass die schlimmsten Tage für mich erst kommen werden.

Sonntag, den 1.7.45: Chorprobe in Ollarzried. Die Leute auf dieser luftigen Höhe beklagen sich bitter über das Verhalten der Letten und Estländer. Sie seien vielfach als reiche Parteileute, oft mit goldenem Abzeichen und guten Parteiposten angekommen (evakuiert während des Krieges). Jetzt geben sie an, gewaltsam evakuiert worden zu sein und fordern die üblichen Ausländerrechte. Zuerst wurden sie von den Hitlers aufgepeppelt, jetzt von den Amerikanern. Man muss seine Zeit zu nützen verstehen. In Ollarzried ist der frühere Gemeindediener Bürgermeister geworden und dessen Ehefrau regiere nun das ganze Dorf. Als ich anno 1942 zur Kriegsaushilfe in der Ollarzrieder Schule war, kam der Gemeindediener zu mir und sagte: „Das Schulholz soll ma rei to, es könnt Füß kriege!“
Angeblich werden alle von Osten evakuierten Personen bis 15.8. heimkehren – sie würden sonst das Bürgerrecht verlieren. – Ich war auch im Hause meiner Vorfahren Nr. 25 in Daßberg.

Den 2. - 4. Juli 45: Einzelne Güterzüge fahren wieder. Diesen Winter soll es keine Kohlen geben. Hätte ich doch meine Tannenzapfen, die knietief auf dem Schulhausdachboden liegen und von den Ammis verheizt werden! Der bayer. Landwirtschaftsminister – einen solchen haben wir tatsächlich -  hat auf lange Sicht strenge Lebensmittelrationierung angekündigt, weil auch Österreich zu seinem Versorgungsgebiet gehöre. – Beim Bauern Schalk in Eggisried wurde wieder eingebrochen. – Im Juni hat der hiesige Kartoffelkäfer-Suchdienst 41 Käfer, 5593 Larven und 1130 Eier unschädlich gemacht.
Heute ist Ulrichstag. Unser Ulrichsbrünnele mit Statue, das Ulrichsried und Taufnamen erinnern an diesen tapferen Augsburger Bischof und Abt von Ottobeuren. Er besuchte 973 seinen Freund Hatto von Benningen im Kloster. Lothar von Grönenbach (Schwestersohn meiner Frau) kam von Biessenhofen her auf Kurzbesuch. Er erzählte, man würde durch 13 Zellen geführt und werde auch politisch vernommen. Sein Bruder Winfried ist in Goldap/Ostpreußen vermisst. Morgen sollen die restlichen Polen abgeholt werden.

Den 5. Juli 1945: Ein kritischer Tag. Amerikanische Offiziere verlangten im Ratshaus die Listen der eingetragenen Parteimitglieder und der Gliederungen. Aus den von Franzosen besetzen Gebieten kommen viele Klagen über allzu harte und auch rohe Behand-

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lung der Bevölkerung – dasselbe hört man von den Kriegsgefangenen. Die Franzosen verschleppten alle Männer, Buben ab 12. Lebensjahr, sie nehmen das Vieh, plündern, zerstören sinnlos Sachwerte, schänden auch Frauen und lassen Mütter und Kinder hungern. Ich habe das alles nicht gesehen, leider widerholt gehört. Ist das Rache? Oder Durchbruch der 2000-jährigen Feindschaft? Tragen nicht auch auf beiden Seiten die Geschichtsbücher mit dazu bei? Gestern abend seien viele Frauen, Männer und Mädchen verhaftet worden, weil sie nach 21.30 noch auf der Straße waren – Übertretung des Ausgehverbots. Sie alle mussten in der Ochsenwirtschaft (Kommandantur) übernachten und wurden heute früh zum Verhör nach Memmingen gebracht. Da ist pro Kopf 100 Mark oder 10 Tage Arbeit fällig. Bedauerlicherweise war unter ihnen ein eben heimgekehrter Soldat, der vor seiner Haustüre wegverhaftet wurde. Zur politischen Vernehmung wurden nach Biessenhofen abgefahren unser Hausarzt Briegel, Christian Nett und August Ripfl. Sie hatten angeblich einst mit der SS zu tun (Körpergröße war oft schuld, dass man zur SS kam) – Ripfl war vor 1933 Ortsgruppenleiter der Partei und habe in den letzten Jahren die Parteibonzen Miller [Müller vom „Völkischen Beobachter“?] und Weber (München) mit Fischen versorgt. Beide seien ehedem Pferdehändler gewesen.

Samstag, den 7.7.45: Am Schwarzen Brett ist eine Warnung, die Ausgangszeiten einzuhalten und die spielenden Kinder von der Straße fernzuhalten, angeschlagen. In Memmingen haben sie auch die Frauenschaftsleiterin verhaftet. Stimmung der Bevölkerung ist gedrückt. Es gibt Denunzianten und neue Postenjäger. Man hasst sie. Ich bekomme immer noch kein Gehalt. Sicherheitshalber meldete ich mich bei einer Lebensversicherung als Vertreter an – falls alles schief gehen sollte. Aus der Legauer Richtung war heute Artilleriebeschuss zu hören. Man sagt, der Franzose werde mit Gewalt aus dem Gebiet vertrieben.

Sonntag, den 8.7.45: War wieder in Ollarzried beim Kirchenfest als Organist. Beim Bauern Weißenhorn wurde geplündert. Seine Frau erhielt eine tiefe Schlagwunde am Kopf. Seit dem Überfall ist eine amerikanische Wache im Hause. Ich fragte den Amerikaner nach der gestrigen Schießerei bei Legau. Er sagte: Franzosen müssen von Hauerz abziehen. Man meint, dass die Zeiten noch schlimmer würden.

Dienstag, den 10.7.45: War in Lachen beim Johannisbeerenpflücken mit meinem Büble. In 2 Stunden pflückten wir zwei ganze 15 l. Auf dem Heimweg fasste ich einen Ottobeurer Burschen, der mein Fahrrad fuhr. Ich nahm es ihm weg. Letzten Sonntag war scharfe Predigt gegen die Sittenlosigkeit der Frauen u. Mädchen, die sich um 1 Tafel Schokolade vergeben – natürlich nicht alle! Geht denn
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alles in die Brüche! Am 12.7. war ich mit meinem zurückeroberten Fahrrad in Wolfertschwenden im Geburtshause meines Vaters. Bürgermeister Sinner als Ortsguppenleiter sei verhaftet. Die Frau weiß seit Ende April nichts mehr von ihrem Mann. Im Einödhof zu Schwenden bei Böhen wurde schwer geplündert. Die Polen hielten die Hausbewohner mit Waffen in Schach und ließen sie nicht aus den Betten – also nächtlicher Überfall. Sie stahlen Fleischdosen, Kleider und Wäsche. In Memmingen warten noch 1000 Polen auf Abtransport. – Ortsgruppenleiter Kathan in Niederdorf ist ebenfalls verhaftet samt dem Parteigeldkassierer in Wolfertschwenden. Niemand ist sicher, aus irgendeinem Grunde oder Denunziation verhaftet zu werden. Wir haben noch keine Post, kein Telephon, selten eine Zeitung und keine Bahnverbindung. Man weiß von den nächsten Verwandten nichts. Mir ist in Ollarzried ein guter Jagdfreund gestorben. Davon erfuhr ich Wochen später. Die fetten Jahre haben jetzt die Kraftfahrer. Sie sind zugleich Personenbeförderer und auch Geheimpost.

Sonntag, den 15.7.45: Die Tage werden immer mehr aufregender! Die Verhaftungswelle nimmt zu. Man sucht Parteileute insbesondere Kreisleiter, Kreisjägermeister, Kreisredner … selbst Kreissägenbesitzer müssen mit Verhaftung rechnen!! In Ollarzried haben sie den Molkereibetriebsleiter Pfänder, die Bauern Vetter und Willer (früherer Bürgermeister) von Vogelsang verhaftet, und wie üblich in irgendein Gefangenenlager abgeführt – die Angehörigen erfahren nur durch Zufall vom Ort der Internierung. Keiner von den genannten Verhafteten waren überzeugte Nationalsozialisten. Pfänder musste in den letzten 4 Wochen die Parteikasse übernehmen. Dagegen wurde der ehemalige Ortgruppenleiter von vor 1933 und der Kassenführer vor Pfänder im Orte belassen. Aus vielen Orten kommen jetzt Meldungen, dass kurz vor der Ernte große Bauern verhaftet werden. Mancher weiß nicht weshalb. Auf solche Fragen gibt es nie eine Antwort. Selbst in der Predigt erwähnt der Geistliche heute die schweren Zeiten und Verhaftungen. Auch unser Bezirksschulrat Brenner ist ebenfalls weggeführt und sei in einem Lager gestorben. Die Amerikaner stellten als neuen Schulrat einen pensionierten Lehrer aus Illerbeuren, der im 3. Reiche verhaftet war, an. Wäre mein Fragebogen reiner gewesen, hätte es mich erwischt. Die Offiziere fragten zuerst im Kloster, das mich vorgeschlagen hatte. Vom Schulamt erhielt ich den Auftrag, in Ollarzried die Schulbücherei zu säubern und die Schuleinschreibung vorzunehmen – ohne Amt, ohne Bezahlung – seit April noch kein Gehalt. Schulbeginn voraussichtlich am 1. Oktober, jedoch nur für

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die ersten vier Schülerjahrgänge. – In Memmingen 5 Ärzte verhaftet! Die Verhaftungen sind Tagesgespräch! Was werden die Staatsmänner in Potsdam über uns ausbrüten?
Mein Bruder in Memmingen – Postschaffner – leistet zur Zeit Aufräumungsarbeiten in der Stadt und auf dem Flugplatz. Auch er ist besorgt, ob er nochmals in den Postdienst kommt. Diese Sorge geht im ganzen Lande um und bedrückt so viele Familien. Laut einer Radiomeldung müssten alle Lehrer ausscheiden, die Pg [„Parteigenossen“] waren. Truman, Stalin und Churchill kochen in Potsdam unsere Suppe.

Den 17.7.45: Schuleinschreibung in Ollarzried – 23 ABC-Schützen; Mehrzahl evakuierte Kinder.
Gesamtzahl 114 Kinder, fast doppelt soviel wie früher. Kein Haus ohne Flüchtlingsfamilie. Nun ist es soweit – ich bin mit tausend anderen Lehrern aus dem Schuldienst entlassen worden. Allerdings auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung – unser alter Schulrat Jehle musste den Kollegen das Entlassungsschreiben zustellen. Das hat ihn sehr bedrückt – aber er musste ja! Ich stelle mich vorerst um und versuche mit Schnitzen meine Familie zu ernähren, falls sie mir auch noch die Ersparnisse wegnehmen sollten. Mein Konto ist immer noch gesperrt. Von der Einspruchsmöglichkeit mach ich vorerst keinen Gebrauch.

Donnerstag, den 19.7.45: Mein Grönenbacher Zahnarzt kann meine Zähne nicht richten, weil er kein Füllmaterial hat. Eduard arbeitet bei einem Bauern – mit solchen Füßen! Eine Fahrrad-, Fuhrwerk- und Fenstersteuer soll eingeführt werden. Ich glaube nicht alles. Die Räder haben die Polen! Stalin beanspruche in Potsdam Bayern! Am 20. Juli wird ausgeschellt, dass sich die gesamte Einwohnerschaft auf dem Gemeindeamt registrieren lassen müsse – tatsächlich steht am Samstag der Marktplatz voller Frauen, Männer und Kinder. Unter den Rathausbögen und beim Mohrenwirt haben sich bei 20 Schreibern an kleinen Tischen niedergelassen. Davor stehen die Einwohner Schlange und beantworten die zahlreichen Fragen. Ein altes Weiblein sagte: „Als ob dies lauter Verbrecher wären!“ Die Hilfspolizei macht von jeder Person einen Fingerabdruck. Ein Mann sagte zu mir: „Jetzt kommen wir alle in das Verbrecheralbum!“ Mich fragen viele Leute, ob ich wieder in den Schuldienst komme. Ich muss verneinen – aber wie soll das denn weitergehen – wer soll unsere Kinder lehren? Man ist der Meinung, die Ammi wollten uns Deutschen die notwendige Bildung vorenthalten. Könnte auch sein! Am nächsten Donnerstag kommt Schulrat Jehle zu einer Gruppenversammlung nach Ottobeuren – wir Lehrer müssen uns melden und einschreiben lassen. Ziel und Zweck unbekannt!

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Neueste amerik. Verordnung: Die amerikanischen Truppen dürfen von jetzt an mit der deutschen Bevölkerung freundschaftlich verkehren.

Donnerstag, den 26. Juli 45: Große Hitze und Wassermangel! Erfreulicher Beerenreichtum! Wilde Gerüchte gehen wieder um: Kurz vor der erwähnten Lehrergruppenversammlung erzählte mir ein Mann, dass in Memmingen bei derselben Versammlung alle Lehrer verhaftet worden seien. – Das macht Stimmung! Der Gang zur Gruppenversammlung mit Schulrat Jehle war wie ein Abschiednehmen auf lange Sicht von Frau und Kindern. Sie haben geweint. Tatsache: Nur ein Lehrer ist in Memmingen verhaftet worden. Mehr und Neues erfuhr man vom Schulrat nicht. Wieder einmal ist ein Registrierblatt auszufüllen. Von anderer Seite erfuhr ich, dass Lehrer, die ab 1937 Parteigenossen wurden, aber kein Amt innehatten, doch im Schuldienst behalten würden. – Man leidet unter dem Druck der Unfreiheit und Ungewissheit. Man kann jederzeit verhaftet werden. In unserer Umgebung fanden wieder „Haussuchungen“ statt. Man ist nervös und müde!

Unsere Mädchen gehen abends Arm in Arm mit den Soldaten spazieren – das Verhältnis zur Besatzung ist besser geworden. Heute erhielten wir die „Registrierkarte“ mit dem Fingerabdruck –  eine Art Ausweis – von der Gemeinde ausgehändigt. Man habe sie jederzeit bei sich zu führen. Auch mein Diamantfahrrad musste ich registrieren lassen und erhalte eine „Fahrradkarte“; solche gab es übrigens noch um 1910. –
Sehr ergiebige und selten reiche Getreideernte, wie man dies seit Jahrzehnten nicht mehr kennt. Sichtbarer Segen des Himmels! Die frühe Ernte hilft hoffentlich über die Krisenzeit hinweg! Jetzt gibt es die Augsburger Zeitung – wöchentlich einmal. Post und Bahn liegen noch still. Aber Memmingen hat bereits postalische Ortszustellung.

Mittwoch, den 1. August 45: Zur Schuleinschreibung musste für jedes Kind ein eigenes Formblatt ausgefüllt werden. Ich übernachtete in der Ollarzrieder Mühle. Die Leute waren alle verängstigt und nervös, weil die Polen Plünderungen angesagt hatten. Gegen Abend wurden 14 Polen im Walde gesehen. Sie plünderten in der Moosmühle zwischen Osterberg und Vogelsang. In Untrasried hätten die Polen beim Plündern 2 Bauern erschossen. Die Bauern sagen: Wenn es schon sein muss, sollen sie bei Tage plündern, damit wir wenigstens schlafen können. – Die Ollarzrieder haben eine Orts-Nachtwache aufgestellt. – Große Hitze und Trockenheit. – Die Wiesen werden rot, das Obst fällt unreif von den Bäumen – schade! An die Beamten wurde ein neuer Fragebogen ausgegeben, mit 133Fragen!! Ich brauchte einen ganzen Tag zum Ausfüllen. Im Kloster habe man 4 Waffen gefunden; sie wurden vermutlich vom ehemaligen

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LBA-Lagerleiter Lüdke versteckt, sagt man. Hätte man doch den Bruder Christoph gefragt! Er wollte seinerzeit die Studenten vor Dummheiten bewahren, d.h. in Schach halten. Hier brauchen die Ammi keine „Wehrwölfe“ zu fürchten! Die radikalen Jungen gehören zu ihren Eltern ins Rheinland geschafft. – Immer noch hält sich das Gerücht, dass die Russen unser Bayerland besetzen wollten.

Den 2. August 1945: Ist das nicht eigenartig: Kürzlich schenkte ich auf der Straße, einer plötzlichen Eingebung folgend, einer armen Wittfrau 20 M. Denselben Betrag erhielt ich gestern von ganz andere Seite als Geschenk – zurück! Außerdem kam Pfarrer Maurus zu mir ins Haus und kündigte an, dass ich ab September den Organistendienst übernehmen könne; jedoch wolle das Kloster dafür eintreten, dass ich wieder in den Schuldienst komme – was die Amerikaner dazu sagen, wüsste er allerdings nicht. – Im Auftrage des hiesigen Polizeioffiziers musste ich für eine amerikanische Zeitung einen geschichtlichen Artikel über Ottobeuren schreiben. Frl. Straßer, zur Zeit bei den Amerikanern als Dolmetscherin tätig, hat meinen Artikel übersetzt (er liegt dem Originaltagebuch bei!).

5. bis 7. August 45: Plakate warnen vor den zunehmenden Geschlechtskrankheiten der Frauen. Demgemäß fiel heute auch die Predigt aus. In der Umgebung immer noch räuberische Überfälle und Einbrüche der Polen, besonders in Einödhöfen. Kleider und Wäsche werden immer mitgenommen. Michael Fink, der Sparkassendirektor von hier, der am ersten Tage der Besatzung entführt wurde, kam gestern Abend abgemagert, ausgehungert und braungebrannt überraschend zurück. Er war im Lager Heidelberg. Er war die ganze Zeit über im Freien! Man wusste lange nichts von ihm. Die Hirschwirtin Frau Graf soll ihn mit Hilfe amerikanischer Offiziere, die in ihrem Hotel wohnten, ausfindig gemacht und für seine Befreiung gesorgt haben. Verwandtschaft! Mein Kollege, Otto Wiedemann, Major in Norwegen und Finnland wurde von den Amerikanern ebenfalls gefangen dorthin (Heidelberg) gebracht. Seine Funktion in der SA weiß ich nicht. Auch er kam diese Tage zurück – fertig an Nerven und Gesundheit. Über die Behandlung in den Lagern hört man nie Gutes.
Viele Ährenleserinnen auf den Äckern. Man schätzt die kleinen Körner wieder! Wir sahen einen Amerikaner Gras mähen. Mein 6-jähriger Bub sagte: „Vati schau, der mäht deutsch!“ Mit der Frau Oberin der Mädchenschule besichtigte ich die Kasernenräume. Weil unser Knabenschulhaus von Amerikanern belegt ist, kommen die Knabenklassen in die Kaserne. Die Räume sind noch verwanzt,

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Sonntag, den 12.8.45: Endlich Regen! Dem Sturm ist die große Linde an der Allee zum Opfer ge­fallen. Herbststimmung: Stoppelfelder, Nebel, grauer Himmel, tropfende Bäume. – In der Nacht nach meiner Entlassung aus dem Schuldienst klingelten mich 2 fremde Männer aus dem Schlaf. Ich schaute zum Grottenweg. Ich vermutete einen Überfall oder Plünderung. Man war ja so misstrauisch. Die Männer erzählten mir, sie hätten in Augsburg Herrn R. getroffen, der sie hergewiesen habe. Sie suchten Schnitzer. Ich meinte, das wäre nicht die richtige Tageszeit und die sollten mir den Herrn R. beschreiben. Nachdem alles stimmte, ließ ich die beiden lange nach Mitternacht mit Misstrauen in meine Wohnung. Sie kauften mir alle meine vorhandenen Schnitzereien ab und zahlten mir für einen Märchenlampenschirm mit aufgesetzten Figuren 600 Mark. Heute kam einer der beiden Männer wieder. Ich solle doch für die Besatzungstruppen Geschenkartikel herstellen und monatlich liefern. Bereits am nächsten Tage stand ich im Keller an meiner Werkbank und begann mit der Figurenschnitzerei. Gestern kam zu mir auch ein amerikanischer Offizier und schaute sich die Schnitzgegenstände an. Ich könnte auch hier liefern. Habe ausreichend Beschäftigung und bin nebenbei auch Organist. Die Schule soll am 17. Sept. beginnen. Ob ich dabei sein werde? Es hat sich jetzt nach vier Monaten wenigstens die Regierungskasse gemeldet wegen der rückständigen Gehaltszahlungen. Immer langsam voran! – Japan hat nun nach dem Atombombenwurf kapituliert. Welche Folgen wird diese neue Höllenmaschine für die Zukunft haben?

Himmelfahrtstag, 15.8.45: Heute um 23 Uhr schrillten im Hause alle Klingeln. Ich sehe hinaus. Eine tiefe Männerstimme sagt: „Ich sprechen, schnell aufmachen.“ Ein amerik. Offizier tritt ein, Soldaten an der Türe. Er fordert von mir und Reinl die Ausweise. Er suche einen „Nazi“, der sich bisher nicht gemeldet habe. Wir wohnen am Ortsrand. Gesucht werden SS-Wachmannschaften des Dachauer KZ; zu ihnen gehörten mehrere Ottobeurer. Den Kindern werden sämtliche Schulbücher beschlagnahmt. – Es fahren noch keine Züge – die Unsicherheit nimmt zu statt ab – die Polen plündern weiter. – Von den abtransportierten Russen haben sich etliche von Breslau bis Ottobeuren durchgeschlagen mit der Behauptung: sie kämen alle nach Sibirien, weil sie für Deutschland gearbeitet hätten. Die Polen sind konzentriert auf dem Memminger Flugplatz. Sie essen gut, sie schlafen gut und was ihnen fehlt, holen sie sich im Schutze der Nacht. –
21. August 45: Es blüht der Schwarze Markt! Eine Zigarette kostet 5 - 20 Mark. Es sind nun wieder Raucherkarten ausgegeben worden. Ab 1. September wird sich ein monatliches Einkommen mit der Organisten-    
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dienst etwa 80 Mark betragen. Ich werde mir zu helfen wissen. Ein Schreiben des Schulamtes vom 24.8. unterrichtet uns, dass über die Einstellung oder Entlassung immer noch nichts bekannt sei. Das Gehalt werde ab April nachgezahlt, allerdings nur bis zum 1. Juli d. J. [1945]. Nur wer im Amte bleibt, kann mit Weiterzahlung der Gehälter rechnen. Wer aus dem Beamtenverhältnis entlassen wird, dem wird auch sein gesamtes Vermögen beschlagnahmt. Jetzt verkehren auf allen Strecken wieder 1 mal täglich Personenzüge. In keinen Mengen soll es auch wieder Weißbrot geben. Mangelwaren sind vor allem: Zucker und Streichhölzer, Kolonialwaren selbstverständlich. Die Männer erhalten monatlich 40 Zigaretten zugeteilt. Soviel bekommt ein amerik. Soldat täglich. Mister Platt, dem die Mutti der Kinder wegen wäscht, brachte 6 Orangen und Reinigungsbenzin. Ich mache nach Nürnberg Aschenbecher, darauf sitzt ein Hund (daher der Name Sauhund!), Enzian, Brieföffner, Federhalter, Allgäuer Häuschen. Glückspilze u. anderen gutlackierten Kitsch!

Freitag, den 31.8.45: Neue Gerüchte: Die Amerikaner ziehen ab – Engländer übernehmen die Besatzung. In München und Augsburg seien alle Beamten entlassen worden. Weil ich immer noch kein Radio habe, mangeln dem Tagebuch genauere Informationen. Die organisierten Polenbanden treiben immer noch ihr Unwesen. Diese Woche haben sie in Blauhof, Bühl und Schrallen geplündert. Sie gebrauchten Waffen und verletzten Personen durch Schüsse. Vier Personen liegen im Kreiskrankenhaus – einer Frau wurde durch den Hals geschossen. Niemand sorgt für Abhilfe! Die Bauern haben Nachtwachen und Alarmvorrichtungen geschaffen. Niemand versteht, weshalb die Polen nicht heimfahren, weshalb keine deutschen Kriegsgefangenen von Engländern und Amerikanern in die russisch besetzten Gebiete entlassen werden. Stimmung in den Städten schlecht! Es funktioniert keine Verwaltung, kein Verkehr, keine Post, kein Nachrichtenwesen. Wirtschaft und Handel sind daher gelähmt. Man lebt von heute auf morgen. Diese Tage erhielten unsere Finanzbeamten den Blauen Brief. Viele Finanzämter sind geschlossen. Untem Ammi gehts wohl auch ohne Geld! Die Schule soll am 1. Oktober beginnen – aber es gibt keine Bücher! Arm und Reich, Groß und Klein schleppt Tannenzapfen heim! Heuer reichste Ernte.

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Sonntag, den 2. September 1945: Das Obst ist reif, die Herbstzeitlosen blühen – dichte Morgennebel im Westgünztal. Der Wald schenkt seine letzten Gaben: Pilze, Brombeeren in Fülle, Hagebutten, Purzelkühe! Allzuviel Holz wird geschlagen, um die fehlende Kohle zu ersetzen. Mit Rache wird Unrecht nicht gesühnt! Parteimitglieder werden als Verbrecher behandelt. Unter ihnen sind genauso viele Unschuldige wie unter den Nichtparteileuten, die nur aus Geldliebe nicht zur Partei gingen. Es gibt genug Pg., die nicht halb so radikal sind wie die Nichtparteileute. Eine große Zahl, besonders unter den Evakuierten, verleugnen ihre Parteimitgliedschaft. Wer wills nachprüfen! Demnach wären nur hier Pg gewesen!!
Vom hiesigen Magistrat sind bis auf eine einzige weibliche Angestellte sämtliche Beamten entlassen worden. Der Bürgermeister steht vor leeren Arbeitsplätzen!  Auch in anderen Ämtern werden die Stuben leer. Auch bei uns Lehrern wird der große Kehraus noch vor dem Schulbeginn kommen. Wer wird auf unsere Kinder losgelassen werden? Viele hoffnungs- und mutlos gewordenen Menschen nehmen sich das Leben. Noch zu keiner Zeit gab es mehr Selbstmörder! Soll es für uns doch nur ein Schrecken ohne Ende geben? Will die Besatzungsmacht tatsächlich alles tun, was sie bisher als deutsche Goebbels-Propaganda bezeichnete? Bald wird ein ganzes Heer arbeitsloser, hungernder Menschen nach Brot rufen… Parole unserer Polen: Es wird weiter geplündert! In Hawangen sind 4 Personen an Pilzvergiftung schwer erkrankt – es zeigen sich Tobsuchtsanfälle bei ihnen. –
Radiobericht: Bis Jahresende soll die amerik. Besatzungsmacht von 2,5 Mill. Mann auf 440 000 herabgesetzt werden. Wer mit einem Personenzug fahren will, braucht einen Sonderausweis! Heute am 5. September kam seit April erstmals wieder der Postbote ins Haus. Er brachte vom Schulamt Memmingen den dicken Blauen Brief – meine Entlassung aus dem Bayerischen Volksschuldienst, in den ich 1925 eingetreten bin. Entlassungsgrund: Parteizugehörigkeit. Punkt 5 lautet: „Sie sind in keiner Beamteneigenschaft mehr zu verwenden, auch dürfen Sie nicht in einer der Regierung unterstehenden Stellung oder Tätigkeit behalten werden.“ Formblätter zur Abgabe der Vermögenserklärung, welches gesperrt ist, liegen bei. – Über unsere seit Jahren mühsam ersparten Gelder kann ich nun nicht mehr verfügen. Jedoch ist großzügig gestattet, dass ich von meinem Ersparnis monatlich 200 Mark abhebe. Als kleiner Trost bekam man ein Einspruchsrecht zugestanden. Dazu bräuchte man politisch reine unbelastete Vormünder, die einem gute Zeugnisse und Unbedenklichkeitserklärungen ausstellten. Nun schleppt man eine Last mehr mit sich herum. Man ist ja einer unter Unzählbaren.

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Den 7. Sept. 1945: Laut Order fuhr ich heute mit dem Rietzler-Omnibus zur Meldung beim Arbeitsamt. Ich traf dort genug entlassene Beamte und Kollegen. Ich hatte eine Bescheinigung des hiesigen Pfarramtes dabei, dass man mich als Organisten benötige. Trotzdem wollte mich herzkranken Mann der betreffende Beamte in das Sägewerk Schaber zur Zwangsarbeit einweisen. Er sagte, dass er Auftrag habe, allen Entlassenen körperliche Arbeit zuzuweisen. Auf meine Forderung erlaubte er mir die ärztliche Untersuchung. Der Herr Beamte war herrisch, barsch, anmaßend, obwohl er Pg war. Des Menschen Charakter ist wandelbar! – Das Staatl. Gesundheitsamt Memmingen hat alle Hände voll zu tun. Mich untersuchte ein Ärztin – sie bestätigte meinen Herzfehler und dass ich zu körperlicher Arbeit nicht eingesetzt werden könne. Mit solchem Gutachten ging ich zum Arbeitsamt zurück, konnte aber wegen zu vieler Leute nicht mehr zum Beamten vordringen. –
Im ganzen Kreis Memmingen seien nur noch 5 Lehrpersonen im Dienst geblieben. Ich ging zum Schulrat, um mich zu orientieren. Er hielt die Sache nicht für so schlimm, wie sie scheine – die Mehrzahl würde ja wieder eingestellt. Ich selbst hätte ja auch Aussicht, nachdem vom Bürgermeister ein gut verfasstes Gesuch eingelaufen sei. Für alle entlassenen Lehrkräfte seien Hilfskräfte aufgestellt. – An den Straßenrändern sitzen Dutzende Frauen, Männer und Kinder auf ein Auto wartend. Die seltsamsten Bilder kann man beobachten. In Memmingen ist arg viel zerstört, das ganze Reichhainviertel ist verschwunden. Das nette Städtchen ist wie zerschunden. Es wird lang dauern, bis die Spuren des Bombenkrieges beseitigt sind. Trotzdem eilt alles in die Stadt, um auf irgendeinem Amt Schlange zu stehen! Melde dich beim Landrat – melde dich beim Gesundheitsamt – melde dich beim Wirtschaftsamt – beim Arbeitsamt… man wird ganz dumm dabei! Ich wollte nicht einmal auf den Omnibus warten, um beim Einsteigen fast erdrückt zu werden – man arbeitet nur noch mit Ellbogen beim Einsteigen in das Fahrzeug! – ging daher lieber zu Fuß. Zwischen dem Dorfe Hawangen und dem Beningerhof beobachtete ich eine wilde Schießerei. Deutsche Hilfspolizisten radelten in aller Eile von Memmingen her in dieses Gebiet. Eine richtige Schlacht mit Polen – sie hatten schnell verloren! Auch amerik. Truppen waren eingesetzt. Ich sah, wie 3 Polen von deutscher Polizei gefangen und von den Amerikanern übernommen wurden. Die Polen waren bewaffnet. Vom Walde her kam ein Lkw mit Gefangenen. Es wird ihnen nicht viel passieren. Vielleicht stehlen sie noch heute nacht! Kurz vor dem Walde ereilte mich der Omnibus Rietzler – ich stieg ein und erkannte, in welcher Gefahr ich war.

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Sonntag, den 9.9.1945: Ein Regen- und Nebeltag – trostlos und trübe! Nun steht man brotlos auf der Straße – ausgesetzt den Schikanen übereifriger Beamten. Was würden meine Eltern sagen, die so große Opfer für mich brachten? Man kann die amerik. Entlassungsmaßnahmen einfach nicht verstehen. Mein Schwager schreibt aus Zwiesel, dass von 65 Forstmeistern nur noch 15 im Dienste seien. Alle übrigen sind verhaftet oder dienstenthoben – ich rechne auch täglich mit meiner Entlassung. Landauf, landab dasselbe. Soll denn alles aus den Fugen gehen?

Den 18. September 45: Altweibersommer! Reicher Erntesegen und doch zu wenig für die übervölkerten Orte. Die Mehrzahl der Rheinländer ziehen so langsam ab. Dagegen kommen vertriebene Volksdeutsche aus den polnischen-tschechischen-rumänischen-österreichischen Gebieten. Auf den Gemeindeämtern sitzen größtenteils unerfahrene und nicht immer einwandfreie Elemente. Niemand zeigt bei solchen Verhältnissen Unternehmungsgeist oder Arbeitsfreude. Optimisten glauben an bessere Zeiten und an eine allgemeine Amnestie auf Weihnachten für entlassene Beamte. Für sie hat der Reg.-Präsident in Augsburg eine Betreuungsstelle eingerichtet.
Das Rote Kreuz hat eine Suchaktion eingeleitet. Kinder suchen die Mütter, Väter ihre Frauen – alles ist durcheinander gekommen. Nun wird wöchentlich ein Amtsblatt der Militärregierung zugestellt. Ein allgemeines Wahlgesetz sei in Vorbereitung. Viele Verhaftete wurden freigelassen, Ortsgruppenleiter ausgenommen.

Den 25. September 45: Kalt! Viel Arbeitsaufträge, auch für die Kinderschule – Spielzeuganfertigung. Bürgermeister Wegmann bestellte einen Lampenschirm für einen heimkehrenden amerik. Offizier. Ich komme mit meinen Schnitzaufträgen kaum nach. Besonders gefragt sind Kruzifixe und Madonnen. Viel Arbeit machen die Gesuche um Wiederanstellung. Sie müssen alle in englischer Sprache abgegeben werden. So eine Schererei!

Samstag, den 5. Oktober 45: Man möchte eine geheizte Stube und soll Holz sparen! Keine Kohlenzuteilungen sind zu erwarten. Mein Büble kam in die Schule – gottlob in die klösterliche Mädchenschule zu Frau Elekta. In Ottobeuren sind alle weltlichen Lehrkräfte außer Dienst. Hinauswürfe auch in der noch existierenden Industrie und Wirtschaft. Nach amerik. Bestimmungen dürfen „Nati“ [Nazi] nur noch als gewöhnliche Arbeiter verwendet werden und in keiner leitenden Stellung tätig sein. Die Bayer. Regierung unter Schäfer ist zurückgetreten. Der Sozialdemokrat Höhner [Högner] folgt nach. Er gab einen scharfen Kurs bekannt, u.a. auch die Trennung von Kirche und Staat. Die Kirche ist enttäuscht. Vom Arbeitsamt bin ich derzeit

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als Spielzeugschnitzer des hiesigen Kindergartens geführt. Ich mache einige hundert fahrbare Esel. Heute habe ich meinen ersten Christuskörper geschnitzt. Ich bin zufrieden mit dieser Erstlingsarbeit. Brauchte ja auch 3 Tage!
Den 13. Oktober 45: Meine Arbeiten bis tief in die Nacht halten mich ab vom Tagebuchschreiben. Die Kellerarbeit schadet meiner Gesundheit, die Aufregungen meinen Nerven. Abszesse im Genick und auf der Brust machen mir zu schaffen. Gehaltsnachzahlungen sind eingetroffen. Das Geld macht keine Freude mehr! Im neuen Jahr seien Gemeindewahlen. Die bösen Nazi seien davon ausgeschlossen! Bleiben in der neuen Demokratie wahrscheinlich unfrei. Mein 4-jähriges Irmele wäre beinahe von einem amerik. Auto überfahren worden, als sie über die Straße sprang. Kürzlich hatten sie eine Frau überfahren – sie war tot.

Kirchweihsonntag, 21.10.45: Kritische Ernährungslage. Die Städter werden deswegen wieder evakuiert, die Rationen gekürzt. Halbwüchsige Burschen haben ein Ammiauto mit Steinen beworfen. Man hat deswegen Strafmaßnahmen für den ganzen Ort angekündigt. Die Bierbrauereien sind geschlossen worden.

Sonntag, den 29. Oktober 45: Die Zugvögel verlassen in Scharen unser Land – tätens nur auch die Ausländer! Trostlose Tage, trostlos unsere Zukunft. Der Landwirtschaftsminister spricht von großer Lebensmittelknappheit diesen Winter. In Augsburg sei der Hungertyphus ausgebrochen. Scharen von Arbeitslosen stehen auf den Straßen. Unzählige verlegen sich auf Malerei. In allen Schaufenstern sieht man neben einigen guten Stücken großen Kitsch und auch Schundwaren ausgestellt. Viele haben noch zuviel Geld. Sparmaßnahmen werden eingeleitet. Statt 400 M bekäme ich nur noch 100 Mark. Die Nichtfachleute in unseren Schulstuben werden bei solcher Entlohnung wohl wieder ausziehen. Das politische Hauptthema ist immer noch das gespannte Verhältnis zwischen Amerika und Russland. Man traut dem Frieden nicht und meint, der Russe könnte im Winter ganz Europa überfallen. Die Verlegung amerikanischer Superfestungen [Boeing B-17 „Flying Fortress“ oder Boeing B-29 „Superfortress“] von Japan nach Europa lassen solche Vermutungen zu. Die Ottobeurer amerikanische Besatzung ist in die Tschechei verlegt worden. Dort sollen Unruhen sein. Gestern holt unser Bürgermeister einige meiner bemalten Teller als Abschiedsgeschenk für einen Ammioffizier. Die Mehrzahl der hiesigen Ammi waren deutscher und europäischer Abstammung. Sie waren anständig. Viele kürzlich aus den Lagern entlassenen PG wurden überraschend wieder verhaftet. Niemand kann sichs erklären. Högner hat nun eine neue Regierung gebildet. Gute Einführungsrede! Er habe tüchtige Leute um sich. [Reichsarbeitsminister] Robert Lay [Ley] hat sich im Abort eines Lagers erhängt. Er hatte immer die gehässigste und unflätigste Ausdrucksweise. Der große Pro-

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zess gegen die führenden Parteileute und Generale soll im nächsten Monat beginnen. Das erstemal seit die Welt steht, kommen Politiker und Generale vor ein internationales Gericht. Es hat nur den Fehler, dass nicht alle Nationen, die ebenfalls Kriegsgreuel und Kriegshetze betrieben sowie Völker überfielen, nicht auch in gleicher Weise verurteilt werden – sondern nur Deutsche. – Die Züge heizen mit Holz. Vier Millionen m³ Holz sollen heuer in Deutschland geschlagen werden. So werden wir in wenigen Jahren doch eine Schafweide bekommen!

Den 8. November 1945: Münchens Tag im Bürgerbräukeller bis 1945. Man sehnt sich nicht nach diesem Geschrei. – Kürzlich erfuhr ich, dass die Schulräte Auftrag bekommen hätten, alle Lehrkräfte, die nach dem 1.1.37 in die Partei eingetreten seien, zu melden. In der hiesigen Kreissparkasse halte ich seit 1943 ein Schließfach. Es sind darin verwahrt eine handgeschriebene Chronik von Grönenbach, um sie vor Brand zu schützen, ferner ein Schächtelchen mit steinzeitlichen Funden aus dem Günztal und seiner angrenzenden Höhen – sonst nichts. Das Schließfach blieb bis zur Öffnung im Beisein eines amerikanischen Offiziers gesperrt. Für morgen bin ich also vorgeladen – ich besitze ja auch den Zweitschlüssel. Es kamen soviele Frauen und Männer zur Bank, als Schließächer vermietet waren. Eine Frau war voller Angst, eine andere sah ich weinend weggehen. Ich hatte geheime Schadenfreude. Als ich an die Reihe kam, zuerst Ausweis, Namen, woher und was sein? Dann Abgabe des Safeschlüssels. Der amerik. Offizier, ein freundlich aussehender Mann, stand dabei – immer neugierig, was er wohl zu sehen bekäme. Aus meinem Fach kam ein dickes handgeschriebenes Buch. Er schlug es auf, sah auf der ersten Seite den farbigen Hitler. Ich erklärte ihm, dass die Bücher für alle Orte so hergestellt worden seien. Er blätterte, nickte, war zufrieden und gab mir eine Schere, damit ich das Hitlerbild herausschneide. Ich sagte ihm, das Buch wäre nicht mehr mein Eigentum und ich dürfte es folglich nicht. Nun übernahm er mit netter Vorsicht das Ausschneiden selbst und lachte nach seiner Tat. Die Dinger im Schächtelchen ließ er sich genau erklären: 2 steinerne Messerchen aus der Steinzeit, etwa 5 - 6000 Jahre alt, 1 Bernsteinperle, eine Pfeilspitze aus Hornblende und honiggelbe Hautschaber. Der Dolmetscher hatte zu tun – der Ammi war erstaunt und ließ mich alles mitnehmen.

Sonntag, den 2. Dezember 45: Ein englischer Offizier habe für Deutschland wegen der Epidmien einen strengen Winter gewünscht. Schlimm ist es in den Städten: Hunger, Kälte, Krankheiten, Selbstmorde! Unsere Kinder haben die Windpocken. – In vielen Ländern wird gewählt. Im russisch besetzten Österreich haben die Kommunisten nur 4 Sitze, die Christsozialen aber 84. Vergangenen Sonntag war in

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Memmingen eine kommunistische Versammlung. Die Weiber sollen besonders geschrieen haben. Man ist allmählich an der Politik uninteressiert. Viele schreien fürchterlich gegen die Nazi und waren vorher selbst die größeren. Es sollte ein Esel zu anderen nicht sagen DU hast aber lange Ohren! Im Nürnberger Prozess hört man Dinge, dass einem die Haare gen Berge stehen könnten. Machtmissbrauch ist doch fürchterlich, ein Verbrechen! Aber es konnte doch auch nicht das ganze Volk unterm 3. Reich in die Schweiz auswandern wie der Herr Högner u.a. führende Sozialdemokraten. Sie können heute leicht sagen, jeder hätte freie Wahl gehabt – sie können eben die ganze Zeit in keiner Weise vom Ausland her beurteilen. Ich arbeite tgl. 16 Stunden für meine Familie. Wir kommen auch ohne Staat und Schule durch. Die Lehrer sind am meisten belastet. Wenn man im Dorfe jemand brauchte, der rechnen oder einwandfrei einen deutschen Satz schreiben konnte, dann ging man wie früher auch zum Lehrer – tat ers nicht, dann war er verdächtig und wurde geschnitten, verleumdet. Arbeitet er dagegen, kam er schneller aus dem Dienst wie mein Kollege Rampp wegen eines einzigen vernünftigen Widerspruchs. Weshalb denn der ewige Kampf zwischen HJ und den Lehrern? An vielen Orten halten jetzt Ostpreußen, Ausländer, halbe Tschechen und Polen und Mittelschullehrer oder Unstudierte Unterricht in der Volksschule. Würde man auf gleiche Weise die Apotheker ersetzen, würden die Totengräber überlastet sein. Dann erst merkten die Herrn ihren weisen Entschluss, jeder kann das tun, was der Fachmann mühsam in Jahren lernen musste.
Ich hatte wieder einen gefährlichen Mandelabszess und lag fiebernd in der Küche – keine Medizin –  Hausarzt verhaftet! Zum Glück kam eine Frauenärztin ins Haus, sah mich und gab mir brauchbare Tabletten. Sie bestellt für ihren amerik. Freund einen Fuchs. Ich schnitzte ihn und bin froh, dass sie ihn nicht abgeholt hat. Beim Nachbar Heiß ist Georg aus der Gefangenschaft heimgekehrt. Neben ihm seien auf dem Krankentransport hunderte Soldaten gestorben. Russland entlässt nur schwer Kranke, die nie mehr arbeitsfähig sein werden. Alle müssen schwere Arbeit verrichten u. bekämen viel zu wenig zu essen. Auf Stalin sei ein Anschlag verübt worden. Gerüchteverbreiter sind die Polen; sie sind keine Freunde der Russen, der sie ebenso wie Hitler und mit Hitler überfallen hat.

Am 28. Dez. 45: Im Nürnberger Prozess wurde die SA zur Verbrecherorganisation erklärt. Mitglieder würden verhaftet. Hier geht gegenwärtig eine Wohnungskommission von Haus zu Haus. Für die zu erwartenden Flüchtlinge aus dem Osten werden Quartiere gesucht. Eifrige Bibelforscher rühren sich. Die Nichtparteileute nennen sich jetzt Zaungäste des 3. Reiches. Erscheint mir ziemlich überheblich zu sein.


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Silvester 1945: 365 Tage sind vergangen – keiner brachte Freude, jeder neue Angst und neue Sorgen. Aber der Krieg ist beendet, das Massenmorden, die psychologische Kriegsführung, das Geschrei der Propaganda hat aufgehört. Man erträgt neuen Kummer, der aber doch leichter und mit Hoffnung auf langsame Besserung zu ertragen ist. Heute Schulratsanforderung: Alle meine Berichte sind neu anzufertigen – sind wahrscheinlich verschlampt worden. Ein öffentlicher Schulbeirat ist zu bilden. Zu ihm gehören: Schreinermeister König, Bäckerin Albrecht, Schlosser Adelbert Maier. Ihnen sind meine Eingaben vorzulegen – der Beirat hat zu bestimmen über das Ja und Nein. – Der hiesige Herr Pfarrer [Pater Maurus Zech] braucht Geld für neue Glocken, die im Juni läuten sollen. Ich werde ihm kräftig  beisteuern. Vor einigen Stunden war ich bei Bürgermeister Wegmann. Er machte mir hoffentlich nicht zuviel Hoffnung, dass ich wieder in meinen Beruf komme. Ich hatte vor, einen Kunstladen aufzumachen, den ich mit meinen eigenen Schnitzereien beliefern wollte. – Seit die Erde steht, kam über die Menschheit nie ein furchtbareres Grauen als in den beiden letzten Weltkriegen. Man könnte meinen, es erfüllten sich die Offenbarungen des hl. Johannes auf Pathmos. Man legt die Geschicke der Familie und der Völker in Gottes Hand mit der Bitte, verschone uns vor solchen Greueln und vor Menschen, die solche Teufeleien erfinden und mit satanischer Freude die Menschheit geißeln.

                    Januar 1946

Ottobeuren sammelt für neue Glocken. Ein Teil der alten sei in Hamburg gefunden worden. Spendete dazu tausend Mark von meinen Ersparnissen. Ich komme ganz wenig unter die Menschen – man hat mich zu misstrauisch gemacht. Am 27. sind Gemeindewahlen. Jeder Wähler musste zu dieser Wahl einen Fragebogen ausfüllen. Irgendein Simpel hat den Fragebogenfimmel! Pg. vor 1937 dürfen tatsächlich nicht wählen. Ob wohl später wieder eine Regierung kommt und frägt: „Wen hast du damals gewählt?“ Eine Weltfriedenskonferenz wurde eröffnet – ob sie den Frieden auch schaffen? Das Radio behauptet, auch Russland habe eine Atombombe erfunden mit einem Wirkungsbereich von 85 km. Großstreik in Amerika! In Polen seien 80 000 Juden geflohen und würden verfolgt – sie wollen in ihr Heimatland Palestina zurück. Die ganze Welt ist unruhig. Vom Schulamt erhielt ich den Auftrag, alle im November eingereichten Gesuche in 8facher (acht!!) Ausfertigung von Zeugen unterschrieben abermals einzureichen. Jetzt reichts mir bald! Überall Versammlungen. Als Parteien: Sozialdemokraten, Christlich soziale Union, Kommunisten. Ich besuche keine Versammlung, wäre je-


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doch wahlberechtigt – ruhige Wahlkämpfe ohne Radau. Evakuierte dürfen sich bei den Kommunalwahlen nicht beteiligen. In und um Ottobeuren ist alles ziemlich friedlich – nicht aber in den Städten. Der große Flüchtlingsstrom vom Osten ist im Anmarsch – mitten im Winter!! Man vertreibt Millionen von Menschen aus ihrer Heimat. Die Zahl der Arbeitslosen nimmt zu wie die der entlassenen Beamten. Es fehlt an Rohstoffen, an Kohle, an Fachkräften, oft an allem. Wie soll man auf solche Weise Wirtschaft und Industrie wieder aufrichten können? Araber wollen die Juden nicht in ihr Land lassen! In Polen Chaos! Mit Verfolgung der Juden und der Deutschen. Die Flüchtlinge kommen zu Tausenden nach Bayern. In Augsburg und München seien ganze Häuserblocks – soweit sie solche noch haben – für die Flüchtlinge geräumt worden. Man lässt uns keine Ruhe mehr und jagt Deutsche unter furchtbaren Greueln mitten im Winter davon. In Grönenbach ist das Bräuhaus auf dem Schlossberg abgebrannt. Man vermutet Brandstiftung durch Polen. Erdbeben in der Schweiz! Der Kontrollrat habe beschlossen keinen Pg-Lehrer wieder einzustellen! Aus mit der letzten Hoffnung. Laut Bern sind die Kriegsverluste: 14,45 Millionen Gefallene, 5,5 Millionen Ermordete. Durch den Luftkrieg kamen um 2,86 Mill. Menschen, in KZ 11 Mill. Der Krieg stürzte 65,89 Mill. Menschen ins Elend, 29,65 Mill. sind Kriegskrüppel, 21,24 Millionen sind obdachlos und 15 Millionen heimatlos. 32 Mill. Privatgebäude und 17,8 Mill. öffentliche Gebäude wurden zerstört. Die Schuttmasse würde 35 Milliarden m hoch sein. An Handelsschiffsraum sind 30 Mill. Bruttoregistertonnen versenkt worden. – Das ist der moderne Mensch und sein moderner Krieg!! – Bürgermeister Wegmann wurde mit großer Mehrheit wieder gewählt. Ich könnte viele Schnitzarbeiten verkaufe – kann aber soviele Aufträge nicht annehmen.

Ottobeuren, im Februar 1946: Jetzt wird eine Geldentwertung befürchtet. Wird wohl kommen müssen – und so haben wir leider zum Zweitenmal unsere Ersparnisse verloren. Wegen solcher Vermutung wollen die Geschäftsleute nicht mit ihren Waren herausrücken – und sie haben noch! Immer noch blüht der Tauschhandel und Schwarzmarkt. Die Raubüberfälle nehmen wieder zu. In Grönenbach gab sich ein Hochstapler bzw. verkappter SS oder Parteimann als Geistlicher aus – übte auch geistl. Handlungen aus, wie Messe lesen und beichten – ein Ministrantenbub hat ihn wegen seiner Fehler beim Messelesen als Schwindler entlarvt. Er wurde natürlich verhaftet. Ein Grönenbacher Untermieter in der Apotheke stahl seiner eigenen Ehefrau 80 000 M, welche fremde Gelder waren. In Ottobeuren brannte Frischknechts


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Stadel, vermutl. Brandstiftung. Der Müller sagte mir, dass bei fast allen Mühlen der Mehlvorrat nur noch bis April ausreichen werde. – Bei den Wahlen erhielten die Kommunisten in Süddeutschland die wenigsten Stimmen. Aus Polen werden furchtbare Verfolgungen der Deutschen und Juden gemeldet, sodass sich selbst das Ausland darüber beschwert.

März 1946: Gefahr einer Hungersnot in ganz Europa! Im Bayerischen Wald liegt der Schnee 3 m hoch. Schulrat Brenner, Memmingen, ist im Lager Garmisch gestorben. Morgen Beerdigung in Memmingen. (8.3.) Vom 9. bis 19. März war hier Mission. Heute 20.3. war in Ottobeuren die Beerdigung des ehemaligen Reg.-Schulrats Stiegele – ich leitete den Grabgesang. Dieser tüchtige, fleißige Beamte hatte eine recht armselige Beerdigung; er war hier kaum bekannt. – Wieder ein unangenehmer Gang zum Arbeitsamt. – Die Presse „Der Allgäuer“ Nr. 20 vom 12. März bringt unter dem Titel „Die große politische Reinigung beginnt“ das Gesetz zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus. Man unterscheidet Aktivisten, Hauptschuldige, Nutznießer, Mitläufer, Minderbelastete, Entlastete und die vorgesehenen Sühnemaßnahmen. – Der preußische Beamte im Arbeitsamt Memmingen wollte mich trotz ärztlichen Attestes beim Illerbrückenbau einsetzen. Ich protestierte dagegen und ging nicht; erhielt aber von der Gemeinde die Kartoffelkäferbekämpfung gemeinsam mit Höbel zugesprochen. So hatte ich bis zur Kartoffelernte vor dem AA [Arbeitsamt] wieder Ruhe.

April und Mai 1946: Meine Frau musste zur Operation. Für meine Kinder brauchte ich eine Haushaltshilfe. Eine Eingabe an das Arbeitsamt um Freigabe des Mädchens war notwendig – schriftlich mit Befürwortung des Bürgermeisters. Der Beamte fragt trotzdem: Waren Sie Pg? - ich gab ihm keine Antwort – und bekam das Mädchen. Kein Kommentar! In jedem Landkreis werden Spruchkammern errichtet. Darin sitzen Männer mit angeblich „schneeweißer Weste“ od. Laut Gesetz Nichtbetroffene. Vorsitzender ist ein Dr. Lauter. Überall im Lande haben sie ihre Zuträger und Vertrauensmänner. Diese, die Spruchkammer und die Militärregierung entscheiden über den Pg. Ich ging als einer der ersten durch diese Mühle, weil mich Ottobeuren wieder in der Schule haben wollte. Schon zweimal kam ein Beauftragter der Kammer oder der Ammis zu mir, scheinbar nur um sich zu unterhalten – auszuhorchen. Vermutlich kontrollierte einer die Aussagen des anderen. Einmal kam ein Kommunist. Er legte beide


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Beine auf den Tisch, nach Ammiart. Als ich am Sonntag mit meinen Kindern im Ottobeurer Krankenhaus meine Frau besuchte, stöberte mich dort ein Spruchkammermann auf – er müsse dringend mit mir sprechen und ich sollte mit ihm in die Wohnung fahren. Dort sprach er mein Gesuch durch, erkundigte sich über meine herausgegebenen Schriften, legte einen Zettel so auf den Tisch, dass ich alle seine Vertrauensleute aus Ottobeuren weglesen konnte. Ich war sehr überrascht an ihm und an den Namen. Ich war zunächst besorgt, ob er mich bei der Rückfahrt zum Krankenhaus wirklich aussteigen lassen wird oder ob er event. eine Entführung im Schilde führt. Man war ja so misstrauisch gemacht worden. Mutter war sehr froh, als ich wieder bei ihr war.

Ottobeuren, im Juni 1946: Nichts hat sich geändert – weder die Menschen noch die pol. Lage. Ein moderner Witz sagt: „Jetzt müsste es in der Hölle schön sein, denn die Teufel sind auf Erden!“ – Groß ist der Hunger. Es sterben viele Menschen hungers – selbst wir halten uns nur noch an die Kartoffel. Hamsterer sind überall – sie zahlen sehr hohe Preise – der Schwarzhandel – Schiebertum und Korruption. Wichtige Posten werden mit Vorbestraften besetzt. – Die Brotzuteilung ist zu gering, Zucker ½ Pfund im Monat. Um Magermilch und Buttermilch muss man anstehen. Auf Genussmitteln sind hohe Steuern – wieder einmal zahlt der arme Mann die Zeche. Alles will essen, aber niemand arbeiten. Wirtschftl. Chaos. Parteienzank! Wahlen! Der deutsche Wald verwandelt sich in Fragebögen! und Spruchkammerbescheide. – Ein anderes Gesetz bestimmt, dass ehemalige Pg, ob entlastet oder nicht, aus der Wohnung müssen, falls diese ein Antifaschist benötigt – das innerhalb einer Frist von Tagen. So hören die Sorgen, die Schikanen und Rachepläne nicht mehr auf. Dahinter soll unser Minister Högner stecken. Alle Männer und Frauen sehen zur Zeit 10 Jahre älter aus als sie wirklich sind. Alle herkömmlichen Rechte werden mit Füßen getreten. Wie sollen diese Leute eine Demokratie aufziehen? Am liebsten würden sie jedem Pg einen langen Fragebogen umhängen, damit jeder alles wüsste. Zur Zeit ist Hochblüte der Denunzianten!

Ottobeuren, im Juli 1946: Die erste Woche kam nicht einmal ein Fragebogen ins Haus! Der kommissarische Entnazifizierungsminister hat seinen Posten verlassen müssen. In Bayern siegte die CSU. Wie brüderlich doch die Parteien wieder zueinander sind!! Sie haben nichts dazugelernt. Ich gehe zu keiner Wahl – mach Zaungast. [Kemptens] Oberbürgermeister Merkt, mit dem ich viel heimatkdlich zusammengearbeitet habe, ist ebenfalls vom Lager Garmisch zurückgekommen. – Weil die Ammi viel Kitsch kaufen,


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begannen viele zu basteln und zu schnitzen, mehr aber noch sich am Handel mit den Amerikanern zu bereichern. Jetzt mussten die Schnitzer um Lizenz einreichen. Eine Kommission von Fachleuten u. Künstlern beurteilen die eingesandten Arbeiten. Ich bekam die Lizenz (Madonna mit Kind eingereicht) und schnitze weiter, bis sie mich zur Schule holen. Ich stehe seit langer Zeit tgl. von 7 Uhr bis zum späten Abend im Keller – ich tu es gerne. Dort ist Ruhe und Frieden! Aus Polen und aus der Tschechei kommen jetzt die Heimatvertriebenen zu Hunderttausenden. Was sie am Leibe tragen können, ist ihre ganze Habe. So verjagt man die Familien von Haus und Hof und Heimat.
Am 30. Juli kam zu mir die sogenannte Wohnungskommission. Sie setzt sich hauptsächlich aus Kommunisten und Flüchtlingen zusammen. Die Männer sind unverschämt, brutal und haben von Anstand noch nie etwas gehört. Da kamen sie also hereingepoltert, gingen gleich von Zimmer zu Zimmer, schätzten ab, zählten die Leute und beschlagnahmten das Wohnzimmer, den einzigen größeren Raum mit 16 m² Fläche. Das polierte Nussbaumklavier? – ich sollte es den Flüchtlingen schenken und wenn ich noch lange widerspreche, würden sie die ganze Wohnung beschlagnahmen. Ein grüner Zettel wurde an die Türe geklebt – sie gingen grußlos hinaus. Über diese Kommission empörte sich die ganze Einwohnerschaft.

August 1946: Man stiehlt die Ähren von den Halmen!! und sieht oft bis zu 100 Personen auf einem Acker, die sich noch dazu um die Halme streiten. Am 1. Aug. 46 haben wir Familienzuwachs bekommen – eingewiesen in das beschlagnahmte Zimmer kamen die aus der Tschechei stammende Frau Anna Stoiber mit ihrem 6-jährigen blonden Töchterchen. Die verschüchterte Frau macht einen braven, ehrlichen Eindruck. Wir versuchen ihr trauriges Los zu erleichtern. Ihr Ehemann ist vermisst. In Ottobeuren ist kein Haus mehr ohne Flüchtling. Das ehemalige Finanzamt ist zum „Flüchtlingsaltersheim“ eingerichtet worden. Scharenweise gehen die Leute jeden Morgen zum Buttermilch holen. Sie ist auch für uns zum Hauptnahrungsmittel geworden. Uns werden alle 2 Tage 2 Liter zugewiesen. Unsere Wälder werden von den Leuten gesäubert. Es sind richtige „Waldkatzen“ dabei, sie gehen nie ohne Holz, ohne Reisig, ohne Rinden aus dem Wald; sie kennen alle Pilze; sie hauen mit ihren Äxten Holzspäne von den Baumstrünken. – Noch nie waren unsere Wälder so sauber wie mit dem Besen ausgefegt – zur Freude pirschender Jäger, die allerdings auch über Wilddieberei und Fallensteller klagen. Aber die waren vorher auch schon da. Die Amerikaner schießen das Wild mit Maschinenpistolen und die Franzosen fahren tausende Klafter Holz nach Frankreich.

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Bedauerlich ist, dass manche Familien sich den Bedauernswerten gegenüber völlig unsozial, unbarmherzig und egoistisch benehmen. Über die Art und Weise der Ausbürgerung, wie sie solche Brutalität nennen, müsste auch dieses Volk gerichtet werden. Wenn darüber ein Buch geschrieben würde, müsste sich die Bevölkerung nicht weniger schämen als wir mit unseren KZ. Man nimmt Rache nicht an Unschuldigen! Meinem ehemaligen Hauptmann haben sie vor seinen Augen 2 Brüder und den alten Vater erschlagen. Zudem hätten die Tschechen und Polen die Wohnungen nicht gebraucht. Man stopft eben unser Westdeutschland so voll, dass es ein wirtschaftliches Chaos und Hunger gibt. Den Hunger braucht man, wenn ein Land kommunistisch werden soll.

Der neue Säuberungsminister heißt Pfeifer. In Memmingen trat die Spruchkammer erstmals am 23.8. zusammen. Man sagte, seine Pfeifentöne seien schriller als die seines Vorgängers. – Ich könnte Schnitzereien bis Stuttgart liefern. Habe abgelehnt, weil ich die Ottobeurer Aufträge erst in Jahren liefern könnte. Wer etwas kann, verhungert nicht! Heute am 30. August kam ein Schreiben der Memminger Spruchkammer. Sie hat mich wegen meiner Parteizugehörigkeit unter die Mitläufer eingereiht und mir als Buße oder Sühne 600 Mark aufgebrummt plus 153 Mark Gerichtskosten. Zusammen ist das der Wert einer Kuh. Bezahlung ist kein Problem. Geld wird ohnedies entwertet. Das Gefühl ist trotzdem merkwürdig! Man hat sich sein Leben lang so geführt, dass man nicht vor den Richter musste – und jetzt ein Gerichtsurteil! Erfolg für alle Zeiten: Hände weg von der Politik! Ob ich nun wieder in den Schuldienst kann, hängt wohl weniger vom Schulamt als von der Militärregierung ab. Ich werde nicht darum betteln! Der Lehrermangel ist natürlich groß, die Schulverhältnisse miserabel, ganz angepasst dem Jammer unserer Tage. Man weiß heute nicht mehr: Wer betrügt wen?

September 1946: Die Besatzungstruppen freunden sich mit den Kindern an. Sie sollen nicht auch noch sagen: „Ammi go home!“ Jetzt werden Kinderfeste abgehalten. Nach Memmingen, nun hier: Großer Jubel unter den Kleinen, als der Gemeindediener durch den Markt radelte und den Beginn des Festes um 13 Uhr verkündete (am 1.9.). Fast 1000 Kinder zogen vom Knabenschulhaus am Marktplatz zur Maibaumwiese. Neben der Kirche war eine Wurstkletterstange errichtet. Der Ammi stiftete 15 hl. Bier. Die Tische waren unter der Maiwiesenallee aufgestellt und in der angrenzenden Kirchenwiese. Rotkreuzhelferinnen zählten die zahlreichen Gabenpäckchen. Ammiautos fuhren Fruchtsäfte heran. Karussel und Schiffschaukel machten Musik. Unzählbare Leute, auch von Auswärts kamen zur Klosterwiese.



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Bürgermeister Alexander Wegmann eröffnete mit kurzen herzlichen Worten das Kinderfest. Reigen, Lieder und Tänze des Trachtenvereins wechselten ab. Auffallend war das Fehlen männlicher Lehrkräfte. Aber das gehört zu unserer Zeit. Nach den Vorführungen begann der Ansturm auf die Stände mit den amerikanischen Süßigkeiten für die Kinder. Es waren Päckchen mit etwas Schokolade, Tropps [Drops], Kuchen u. a. 2 Zigaretten für den Vater. Viel Kinderstaunen, aber auch Tränen, denn die unvernünftigen Alten begannen ein Gedränge und glaubten schon ihr Päckchen nicht zu bekommen.
Inzwischen fuhren auch schon die Ammis mit ihren Autos heran. Man hat den Kindern Rundfahrten durch und um den Ort versprochen. Großer Jubel und Ansturm, Gedränge – groß ist die Geduld der Fahrer. Wie die Trauben hängen die Kinder an den Autos, sie saßen auf den Kühler, Trittbrett und Kotflügel, dem Fahrer auf den Knien. Mein Kleiner war ganz blass vor Aufregung und ich vor Angst, dass ein Unglück bei solchem Tumult geschehen könnte. – Plötzlich hörte ich neben mir den Schmerzensschrei eines Kindes. Menschen, Sanitäter rennen. Beim Rückstoßen kam ein Flüchtlingskind unter die Räder. Das Mädele starb nach wenigen Minuten, schrecklich zugerichtet. Das war das tragische Ende eines Freudentages. Man bedauert nicht allein die leidgeprüfte Mutter, sondern auch die Amerikaner, die den Kindern Freude machen sollten. Nun nahmen die Mütter ihre Kleinen an die Hand, viele gingen weg, die großen Buben kletterten auf die Wurststange, als wäre nichts passiert. Die Fahrten hat der Amerikaner sofort eingestellt. Der bald einsetzende Regen beendete der Kinderfest; das am Abend von den Großen fortgesetzt wurde nach alter Ottobeurer Tradition. Selbst ich wurde abends vom Kinderfestausschuss zum Mohrenwirt eingeladen. Es gab erstmals 1 Liter Vollbier! – seit Jahren. Wie das schmeckte im Vergleich zu unserem Käswasserbier! Das Vollbier hat ebenfalls der Amerikaner gestiftet. 1 Liter davon koste 4 Mark; es gab auch Aufschnitt und 2 Bretzen. Ein gemütlicher Abend nach langen Jahren. – Wieder einmal wird von einem neuen Weltkrieg gesprochen. 5 Jagdmaschinen überflogen heute das Günztal. Es liegt etwas in der Luft – sagen die Leute. Im Schulamt wurde mir mitgeteilt, ich könnte mit Schulbeginn meinen Dienst wieder aufnehmen, allerdings zunächst nur als Vertragslehrer. Soll man sichs überlegen, nachdem ich schon auf Lebensdauer beamtet war? – Hier geht abermals der Wohnungskommissar von Tür zu Tür. Ottobeuren müsse weitere 500 Personen aufnehmen. Im Lande Bayern seien es Millionen, die miternährt werden müssen bei verringerter Anbaufläche. Darum Wohnungsnot, Hungersnot, Krankheiten, besonders Tbc, ständige Seuchengefahr und Streit wegen Enge


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und Unverträglichkeit. Man kann ein Volk auch auf solche Weise dezimieren – sollte dies Absicht sein. Schulamtsauftrag: Am 24.9. habe ich mit dem Unterricht zu beginnen – es sei mir auch ein Schulamtsbewerber zugeteilt. – Heute Nacht (20.9.) hat man im benachbarten Butterlager eingebrochen und gestohlen. Die Polizei macht Haussuchungen. Das Verhältnis unserer ehemaligen Alliierten wird immer schlechter – die Zeitungen berichten offen darüber. Es fallen die Kronen, es stürzen die Throne. Eine neue Macht wird die Welt regieren: Amerika im Westen, Russland im Osten. – Die Sterblichkeitsziffern sind auf höchste gestiegen.

24. September 1946: Schulbeginn – Nur die Beamten büßen und löffeln die Suppe aus. Alle anderen Pg konnten weiterarbeiten und verdienen. Ich habe auf Drängen des Schulrates mit dem Unterricht begonnen und den 7./8. Schülerjahrgang Knaben mit 90 Schülern übernommen. Neuestes Gerücht: Alle Lehrer sollen versetzt werden. Was wird wohl noch alles kommen? Kaum begonnen, lässt mich ein Hexenschuss zu Boden sinken. 3 Tage Bettruhe.

Oktober 1946: Im Extrablatt erscheinen die Nürnberger Urteilsverkündungen! Das Kemptener Kinderfest am 2.10. endigte mit einer schrecklichen Katastrophe. Der Illersteg brach mit 150 Menschen zusammen und in den Fluss. Die Zeitungen bringen darüber genaue Berichte.
Laut Schulamtsbericht muss ich jetzt gar noch ein Gesuch um Wiedereinstellung an den Regierungspräsidenten richten. Beizulegen seien: ein handgeschriebener Lebenslauf, 2 beglaubigte Abschriften des Sühnebescheids, das Gesuch um Wiederanstellung, 2 ausgefüllte Personalfragebogen. – Ist das kein Bürokratismus? Ein Gendarmeriewachtmeister, der ebenfalls 1 Jahr a. D. war, erzählte mir, er hätte sogar nochmals eine Prüfung ablegen müssen und ebenfalls Gesuche einreichen und immer wieder neue Schikanen, Demütigungen ohne Ende! – Unsere Flüchtlingsfrau, die wir so gerne hatten, die Stunden unbewegt an ihrem Platze sinnend, weinend saß, die meiner Frau auch mithalf und alles sauber hielt, ist heute zu ihren Verwandten ins hessische Gebiet gezogen. Schade! An allen Flüchtlingen aus Böhmen fällt auf, dass sie am Sonntag waschen und die Wäsche aufhängen. In Schwaben unmöglich. Die oberschlesischen Flüchtlinge sind sauberer, gut gekleidet, arbeiten weniger, Vergnügen und Reisen werden bevorzugt. – Seit Tagen arbeite ich tgl. bis nachts 12 Uhr.
12. Oktober 1946: Es wird schon kalt. Man braucht Handschuhe! Schule geheizt. Laubfall stark. Wunderbarer Sternenhimmel – zu schön für unsere Welt. Durchschnittliche Kartoffelernte. Ich sah nicht nur Ähren-, Getreide- und Kartoffeldiebe! Jetzt sind aber alle Häuser


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mit Flüchtlingen – nun auch noch aus dem Sudetenland vollgestopft. Das Bayernländle wird verzehrt werden. Ein Flüchtlingsredner in Ottobeuren hielt sich über die Katholiken auf und sagte, dass sie selbst die richtige Religion hätten. Statt sonntags in die Kirche zu gehen, fänden sie hinaus zur Natur … Er vergaß zu sagen, dass wir Schwaben an ihnen die Sonntagsentheiligungen (wie ich sie in Karlsbad lange beobachtete) mit Waschen, Schrebergartenarbeiten, Holz fahren u. a. bemängeln. Man müsste sich einfach nach den Gebräuchen des Gastlandes richten – manche taten es auch. –  
Der Flüchtlingsstrom nach Bayern bricht noch nicht ab. Die Gnadengesuche der in Nürnberg zum Tode Verurteilten seien alle abgelehnt worden. Hinrichtungstag sei der 16. Okt. – Ein Päckchen Tabak kostet 7 Mark, eine Zigarre kaum zum Rauchen 1,40 Mark. 1 Pfund Tabak koste auf dem Schwarzmarkt 500 M.
Man hat den bayerischen Bauern verboten, ihre Zuckerrüben an Verbraucher zu verkaufen. Aus Zuckermangel wird trotzdem in jedem Hause aus den Rüben süßer Syrup gekocht, dass die Wände kleben. Zucker brauchen vor allem die Kinder. – Die Memminger Spruchkammer ist stark am Werke – urteile strenger als andere. Mein Kamerad Wiedemann kann nun endlich auch wieder in den Dienst, in dem er als Soldat nun 8 Jahre nicht mehr war. In Nürnberg hat sich Göring vergiftet. Die anderen wurden hingerichtet. Jeder hinterließ einen guten Wunsch für Deutschland. Viel Geschrei macht die Wirtschaftsaufbaupartei und bringt doch nichts fertig. –
Am 28.10. hört man entrüstete Reden über die Verschleppung und Jagd auf die deutschen Facharbeiter, besonders gesucht werden von allen Nationen unsere tüchtigen Erfinder. Alle machen Jagd – der Russe war am schnellsten. Churchill fragt im Unterhaus an, ob es wahr sei, dass Russland 200 mobile Divisionen im besetzten Gebiet bereit hält.
Wir waren gestern mit den Kindern in Lachen. Die Kirche war versperrt, weil die elektr. Glühbirnen und in der Nachbarschaft die Altarkerzen gestohlen wurden. Alles wird heutzutage gestohlen, auch Tabernakel werden aufgebrochen. Opferstöcke, selbst die Heiligenfiguren sind nicht mehr sicher. Das Grönenbacher Kinderkrankenhaus soll aufgehoben werden. Öffentlicher Streit darüber in der Presse.

November 1946: Ottobeuren wird wie eine Stadt. Zugewanderte, teils tüchtige Leute, versuchen neue Handwerksbetriebe und Industrien zu gründen. Sie beginnen oft mit den primitivsten Mitteln. – In Bayern Landtagswahl und Abstimmung zur neuen Verfassung. Zuvor Parteiversammlungen. Wer ein öffentliches Amt bekleidet, wird von irgend einem Parteiredner in den Schmutz gezogen. Die KPD wählt unsere Kirchentreppen als Litfaßsäulen! – alles ohne mich! Ganze Seiten


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berichten die Zeitungen über die Überfälle, Diebstähle, Unterschlagungen, Schwarzhandel usw. In Hawangen wurde die Hebamme überfallen – zu ihrem Glück kam im gleichen Augenblick das Milchauto.

Dezember 1946: Am 10. Dez. war ich ins Landratsamt vorgeladen, um dort meinen Vertrag als Angestellter – einen Schandvertrag – zu unterschreiben. Ich hab mich lange besonnen und mir vom Beamten den Gehalt vorrechnen lassen. Ich unterschrieb meinen Kindern zuliebe. Nach 20 Dienstjahren eine aushilfsweise Anstellung gegen 14-tägige Kündigung. Was soll ich mit meiner Urkunde auf Lebenszeit? Hält nun auch der Staat sein Wort nicht mehr? Man müsste, falls sich das nicht ändert, mit Vater Staat einen Prozess beginnen.
Hier in Ottobeuren wird viel und gerne und nicht schlecht Theater gespielt. Ich lasse mich nirgends sehen. Der hiesige Kunstmaler [Ludwig] Dreyer malte mir das Grönenbacher Schloss – ein Geschenk für Mutti. Das 2. Weihnachten nach dem Kriege hat die Menschen einander kaum näher gebracht. Millionen deutsche Soldaten und Internierte sind immer noch in Gefangenschaft. Man spricht von Aufbau und reißt Fabriken ein, man verspricht die Mindestration von 1550 Kalorien und setzt die Rationen weiter herab. 1000 Kalorien braucht der Mensch mehr, wenn er nicht arbeitet. Wegen Zuckermangel haben die Schulkinder ein schlechtes Gedächtnis. Sie sind verzogen und verderbt wie noch nie. Alles ist anfällig, reizbar, nervös – auffallende Gewichtsabnahme. Das Tagebuchschreiben muss ich nun wegen Arbeitsüberfülle einstellen. Es soll in späteren Jahrzehnten der Nachwelt berichten, mit welchen Schwierigkeiten unsere Generation zu kämpfen hatte, mit wem und wie sie sich mit fremden Mächten auseinanderzusetzen hatte. Möge allen anderen Völkern und Geschlechtern allezeit vor ähnlichen Zuständen, Nöten und Ängsten um Leben, Beruf und Familie verschont bleiben.

                                    Karl Schnieringer
                                    [handschriftlich]:
                                    Davon ist die Durchschrift
                                    ins Kulturamt Memmingen
                                    gegeben worden. Bis 1980 keine
                                     Veröffentlichung!
[eingefügt ein Foto, darunter handschriftlich: Frau Erika Fritsch aus Siebenbürgen, Apothekerin,
daneben: geboren 25. Dez. 1913 in Lecknitz/Siebenbg. geborene Seidnitzer]
[nächste Seite] handschriftlich:

Frau Erika Fritsch, Apothekerin aus Siebenbürgen (Photo S. 215) wurde uns in Ottobeuren 1948 als Flüchtling mit ihrem Söhnchen Götz zugeteilt. Eine gescheite, künstlerisch veranlagte, gutherzige, geschiedene Frau, die wir alle sehr lieb hatten. Beschäftigung fand sie in der „Beck“schen Apotheke zu Ottobeuren – später bis heute an der Sonnenapotheke (1970) in Kaufbeuren.

        
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                    1947
Die Menschen in Deutschland hungern und frieren mehr als während des Krieges und es soll noch schlimmer kommen. Volksurteil über die Spruchkammern: Die Kleinen werden gehängt, die Großen lässt man laufen! Diebereien, nächtliche Einbrüche sind an der Tagesordnung. Nichts kann man kaufen – nur tauschen – auf dem „Schwarzen Markt“ sei alles zu haben. Er und der Wucher blüht! Die Schulen sind wegen Mangel an Kohlen und Lehrkräften geschlossen. Und Lehrkräfte gibt es! direkt von der Straße geholt – Lehrer, die schlechter rechnen als die Schüler der Oberstufe, die keinen deutschen Satz einwandfrei sprechen können, noch weniger wissen, was ein Satzgegenstand ist. –
Ich begann das Jahr mit Angina und Hexenschuss! Mutti ist auch recht oft „marode“, vom Rheuma geplagt. Die Kinder sind munter. Karli musste am 16. Jan. wegen einer Infektion an der Brust im Krankenhaus geschnitten werden – Narkose! Thilde und Anny kamen auf Besuch. – Der Winter ist hart – mit 27 Grad C. Lichtmangel, Kohlenmangel, Lebensmittelmangel! Notschreie aus den kalten, öden Stadtruinen! Die Ottenbeurer Ammi sind nach Augsburg versetzt worden.

Im Februar immer noch kalt – aber wenig Schnee. Keine lustige Fasenacht für Erwachsene! Mitte des Monats war ich in Memmingen bei der Vereidigung auf die neue bayerischen Regierung, abgenommen von Schulrat Jehle, der im 3. Reich wegen religiösen Aberglaubens und Weltuntergangsstimmung vom Berufe kam. Will sehen, wie oft ich noch vereidigt werde. Alle Beamte waren auch auf Hitler vereidigt. Jetzt hat man uns hinausgeworfen, weil wir nicht öffentl. eidbrüchig wurden. Verstehe diese Welt! – Große Sterblichkeit – in den Städten erfrieren u. verhungern die Menschen. Jetzt hört man wieder von „Saupreußen“ reden – alte Kluft zwischen Nord u. Süd. wird bewusste wieder aufgerissen von wem? Seperatisten? Bayerische? Nach 3 Wochen Kohlenferien beginnt am 17.2. wieder der Unterricht. Hier kann ein sudetendeutscher Flüchtlingslehrer beginnen. Die ehemalige Lehrerwohnung wurde zu Schulsälen umgebaut. Wir haben keine Lehr- und Lernmittel. Samt Schülerbogen wurde von den Einquartierten alles verheizt oder verhandelt. Selbst mein schönes Ottobeurer Reichshofmodell aus Holz wurde als Hackstock verwendet, die alten Häuschen darauf dienten als Kinderspielzeug. Arbeite am heimatkdlichen Lesebuch für den Landkreis Memmingen. – Karli hat Bronchitis und ist bettlägerig!
Anfangs März Tauwetter – Schneeschmelze – heute am 9.3. strenger Winter. Der Schulunterricht beginnt erst morgen!! 4 Wochen Ausfall! Wir haben Klassen mit über 100 Schülern. Mein Jahrgang 7/8 hat 84 Schüler. Schulsitzungen wegen Saalmangel und Schulhausneubau! Vorsitzer


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des Schulausschusses ist Bäckermeister Johann Steck von der CSU-Partei. Schulleiter ist Frl. Breitsammer Anna; sie ist zugezogen, wurde bald Seminarleiterin der Junglehrer im Landkreis. Die kommissarische Schulleitung wurde mir übertragen. Hatte im Interesse der Schule mit dem damaligen Hausmeister einen zweijährigen Prozess zu führen, weil ein Schulbeiratsmitglied von der Geheimsitzung dem Hausmeister Mitteilung machte. Der Mann trieb schwunghaften Schwarzhandel. Ins Schulhaus kamen die Bauern mit Rucksäcken zum Tauschgeschäft. Er hat den Prozess verloren. Bürgermeister war Glasermeister Wegmann.
Um Geld zu neuen Lehrmitteln hereinzubekommen, beschloss die Lehrerschaft bei einer der monatlichen Konferenzen und kameradschaftlichen Zusammenkünfte ein Kinderfest und Rollerrennen abzuhalten. Aus der 8-klassigen Knabenschule wurde eine 10-klassige. Schülerzahl über 800. Geschichtsunterricht zu erteilen war verboten. Nur Vorgeschichte. Weil die vielen fremden Lehrkräfte weder Bücher noch Kenntnisse darüber besaßen, musste ich im Auftrag Jehles (Schulrat) in Ottobeuren, Grönenbach, Memmingen u. Legau bei den Gruppenkonferenzen Vorträge darüber halten. Ich gab jedem das Büchle: „Vorgeschichte im schwäbischen Raum“ und dazu als Heimatkunde das Lehrerheft: „Der Landkreis“. Später gab ich die Hefte: „Heimatkunde im 3. + Heimatkunde im 4. Schuljahr“ heraus, die besonders im Landkreis Kaufbeuren eifrig bezogen wurden. Nebenbei erschienen auch 30 Nummern Heimatbriefe für die Lehrerschaft. Siehe literarische Arbeiten! Am 8.3. erhielt ich die schulamtliche Nachricht von meiner Wiederverwendung als Beamter. Am 21.3. war im Kapitelsaal des Klosters Benediktusfeier – ganze Lehrerschaft war eingeladen. – Hungerdemonstrationen im Ruhrgebiet – Überschwemmungskatastrophen – Sandstürme, die von Afrika bis Ottobeuren reichen. Unser Ort lag in Staubwolken – bei Sonnenauf- und Untergang war alles in ein seltsam rotes Licht getaucht. Am Fenstersims lag dicht feinster gelblicher Sand – über Nacht von Schirokko übers Mittelmeer geweht.

                1947 – 1955 in Ottobeuren
Keine Tagebucheinträge mehr wegen Arbeitsüberlastung; deshalb nur allgemeine Rückblende 13 Jahre später. Die Schulleitung hatte ich inne bis 1953. Schulrat Fischer wollte mich damals zum Rektor machen. Die Ernennung vom Ministerium und der Regierung war bereits ausgegeben. Da kam die Regierung erst darauf, dass während des Krieges Otto Wiedemann, damals im Norwegeneinsatz zum Schulleiter an d. Knabenschule Ottobeuren ernannt worden war. Als er vor kurzem wieder in den Schuldienst kam, hätte er die Leitung übernehmen müssen. Nachdem er selbst nichts sagte, musste ich 1 Jahr länger an seiner Statt die Arbeit leisten. Ich musste nach solchem Regierungsversehen meine Beförderung zum Rektor wieder zurücker-


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statten. Als Ersatz wollte man mir mehrere gute Schulleiterposten anbieten. Unter der Lehrerschaft war ein ausgezeichnetes Verhältnis. Jeden Monat trafen wir uns kameradschaftlich mit Essen oder Kaffee; jeden Samstag die letzte Schulstunde Konferenz mit Kurzvortrag über Methodik u. Erfahrungen. Es ging demokratisch zu. Lehrkräfte waren außer mir: Viktor Kopp (Flü) + Otto Wiedeman + Prinz + Inge Trapp (verh. Schickling) + Martha Huber + Breitsammer + Neudert (Fl) – später nach Wechsel wieder Karl Schurrer (n. heftigen Protesten seitens der Elternvertreter). Als einmal Alois Hundhammer als Kultusminister in Ottobeuren war und zur CSU sprach, legte ich ihm von allen Lehrkräften unterschriebenes Gesuch um baldige Wiedereinstellung des Kollegen Wiedemann vor. Er steckte es in die Tasche und ließ nichts von sich hören – nie; er ließ sich auch die Lehrerschaft nicht vorstellen – der Herr Kultusminister, von dem es ironisch heißt: „An Hund hammer“. Nach der Übergabe der Schulleitung an Wiedemann hatte ich es leichter, er aber schwerer. Der geplante und in Elternversammlungen vergetriebene und vorbereitete Schulhausneubau wurde allerdings total verschwiegen. Damals hätte 1 Cbm umbauter Raum 175 000 M gekostet – als Ottobeuren nach einem Jahrzehnt bauen musste, kostete des cbm Raum das Vielfache. Mit meiner Klasse baute ich u. a. auch das große Ottobeurer Ortsmodell aus Holz auf eine 4 qm große Platte, maßgerecht (siehe Fotos!) - es steht im Kloster neben der Benediktuskapelle. Unsere Modell- und Zeichenausstellungen waren gern besucht, wie auch meine Elternabende mit der 8. Klasse. Zuletzt mit Bildern aus dem Zunftleben und Meisteressen aus zinnernen Tellern und Zunftliedern. Es wird heute noch darüber gesprochen. – Sonst tätig auf dem Kirchenchor und Gesangverein. Vorläufer des Ottobeurer Volksbildungswerkes waren meine Vortragsabende mit Fragestunde und mein Gitarrekurs, erstere mit interessierter Jugend. Meine Klasse war immer voll bis zum letzten Platz. Viel Anklang fanden meine Gedichte in Mundart (s. Literatur und Tonbandaufnahmen!), meine heimatkdlichen Abende mit dem Vorstand Jos. Holzmann. Ich hatte mich in 18 Jahren mit den Ottobeurern und vor allem mit der Jugend gut verstanden. Bereits 1954 sagte mir meine Hausfrau Wiesheu, die Inhaberin des Hauses 223 1/3 am Grottenweg, dass sie nun bald in ihr eigenes Haus einziehen wolle und ich müsse mich umsehen. 1955 war es soweit. Eine passende Wohnung fanden wir in Ottobeuren nicht – jedoch in Grönenbach. Ich gab also um Versetzung an die katholische Volksschule in Grönenbach ein. Mein Abschied war vielen Ottobeurern nicht recht, sie suchten mich zu halten, auch das Kloster. Kleiner Abschied im „Café Hasel“ bei der Lehrerschaft – großer Abschied bei den Buben. Sie gaben mir


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Gaben als Abschiedsgeschenk: 1 Gartenstuhl und 2 Alben Mozartsonaten. Die Klosterbuben fuhren beim Umzug mit nach Grönenbach und halfen das Holz in den Keller schichten. – Karli besuchte die Oberschule in Memmingen, Irmgard die Mädchenmittelschule Klosterwald bei Ottobeuren.

IN GRÖNENBACH
(1.6.1955 - 27.9.1966)

Ende der Abschrift (Franz Bermeitinger, 02/2018), Scan und Korrekturlesen: Helmut Scharpf, 03/2018

Auf zwei Artikel der Memminger Zeitung sei verwiesen, die sich mit den Luftschlachten im Allgäu befassen:
24.10.2017, S. 19 (Allgäu-Rundschau: „Die heftigste Luftschlacht über dem Allgäul“). Hier geht es um die Spurensuche der Nachkommen zum Schicksal des amerikanischen Bomberschützen Daniel LaHurd, dessen B-17-Bomber am 18.07.1944 bei Legau abgeschossen worden war. Der Aichstetter Gemeindearchivar Gerhard Schmaus arbeitet an einem über 300 Seiten starken Buch über die 63 Flugzeuge, die an jenem Tag im Allgäu abgeschossen wurden, und wird dabei auch auf das Schicksal der Besatzungen eingehen. Der Enkel LaHurds - Christopher LaHurd - erzählt die Geschichte seines 2005 verstorbenen Großvaters im Buch „A story of one“ (erschienen 16.12.2009, 226 Seiten, ISBN 978-0557147137) nach.

24.03.2018, S. 37: Im Lokalteil der Memminger Zeitung (Titel: „Verschollen im Allgäu“) wird über eine Gruppe („Fliegerhistorische Arbeitsgruppe - Vermisstensuche Baden-Württemberg/Bayern“) um den Hobbyhistoriker Gunter Lauser aus Kirchheim a.d. Teck, die zum Schicksal des Kampffliegers Karl Müller forscht, der von einem Einsatz am 19.7.1944 im Raum Kempten-Memmingen nicht wieder zurückkehrte.

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Urheber

Karl Schnieringer

Quelle

Frau Naegele (Tochter)

Verleger

Helmut Scharpf

Datum

1944-07-13

Rechte

gemeinfrei