12.02.1956 – letzter Ottobeurer Faschingsumzug
Titel
Beschreibung
Ottobeuren war – als „Barockien“ – definitiv eine absolute Faschingshochburg: In sämtlichen Lokalen gab es Hausbälle, vom „Lumpenball“ in Eldern, zum „Bauernball“ (in der „Post“) bis zum „Rosenmontagsball“ der Sudetendeutschen Landsmannschaft im Hirsch oder dem großen „Bürgerball“ („Bü-Ba-Ball“; ebenfalls im Hirsch).
Der Rosenmontagsball war eine rauschende Ballnacht, das Motto lautete „rote Rosen, rote Lippen, roter Wein“. Es spielte die große Hauskapelle des Hotels „Hirsch“, das sämtlichen Räume für diesen Zweck öffnete, in der Bar musizierte ein Duo; eine Rosenkönigin wurde gewählt. Das Prinzenpaar zog mit Gefolge ein und besuchte den Ball, in der Tombola warteten wertvolle Preise auf die Gewinner unter den Ballbesuchern. Am Rosenmontag stieg zudem – nach altem Herkommen – im „Ratskeller“ die immer beliebte Hausfasnacht.
Der kath. Frauenbund lud am „gumpigen Donnerstag“ zum „Faschingskränzchen“ in den Postsaal; am Abend durften auch die Herren der Schöpfung dazustoßen. Der Männergesangverein (MGV) veranstaltete einen „Sängerball“, zu dem auch Sänger aus Münchner Theatern verpflichtet worden waren.
Sogar das „Collegium Rupertinum“ im Kloster hat unter der Leitung seines Direktors, Pater Prior Rupert Reiser, mit den Studenten einen „lustigen Theaterabend“ für den Fasching vorbereitet, der mehrfach aufgeführt wurde.
Im Rahmen des Balles der Faschingsgesellschaft des TSV Ottobeuren zogen „Ihre Tollitäten“, die närrische Hoheit Prinz Don Alfonso I. (Alfons Wagner), und Ihre Lieblichkeit, Prinzessin Rita I. (Rita Winkler), mit großem Gefolge in den „Hirschsaal“ ein. Sie hatten 1956 den Hofstaat erweitert. Dem „Hofmarschall“ Georg Haugg wurde von den „Ministern für gutes Essen, süffiges Trinken und schöne Frauen“, den Hofnarren, der Prinzengarde, dem Zeremonienmeister, dem Elferrat, den Exprinzessinnen und Exprinzen, dem Hofballett und den Hofdamen assistiert.
Max Reichardt erinnerte sich am 5.10.2021: Vor dem Rathaus nahm Haugg dem Ottobeurer Ortspolitik auf's Korn. Dort feuerte er die Menge mit einem Karnevalsspruch an:
Lächle - am Motzabächle
Lach' - am Mühlabach
Grins' - an d'r Günz!
Mangels Fernsehgeräten spielten aufgezeichnete Konserven oder Live-Übertragungen aus Köln in den 1950er Jahren keine Rolle, man war sozusagen „seines eigenen Glückes Schmied“: Viele Ottobeurerinnen und Ottobeurer beteiligten sich am Treiben der „fünften Jahreszeitl“, sogar ein eigener Faschingsumzug wurde auf die Beine gestellt, der nicht nur lokale Themen aufgriff, sondern auch die Bundes- und Weltpolitik aufs Korn nahm. In Zeiten eines strengen Ladenschlussgesetzes durften am Sonntag ausnahmsweise sogar die Geschäfte geöffnet werden.
Nach dem Umzug, der mit einer Huldigung und Szene vor dem Prinzenpaar vor der Tribüne (Knabenschulhaus) endete, bgann der Faschingsrummel: Im Hotel „Hirsch“ spielten bei der Hausfasnacht zwei Kapellen, im Gasthaus „Krone“ „flötete“ die Kapelle „Nachtigall“ zum Tanze bot Tanzlustigen süße Schlagerweisen. Im „Mohren“, im „Ratskeller“ und im „Goldenen Stern“ fanden nach dem Faschingszug die traditionellen Unterhaltungen statt.
Wer bis dahin noch nicht völlig platt war, der konnte sich auch am Faschingsdienstag weiter austoben:
Kehraus wurde im dekorierten „Postsaal“ gefeiert, um 19 Uhr begann dort die Hausfasnacht, zu der die Kapelle „MTC“ aufspielte. Um 20.11 Uhr zog das Prinzenpaar mit Gefolge ein und blieb bis zum Kehraus. Um Mitternacht beerdigten sie den „Prinzen Karneval“ in einer heiter-komischen Szene.
An diesem letzten Tag wurde auch der Kinderball im Café Hasel abgehalten, zu dem das Prinzenpaar erschien, nachdem es vorher noch dem Altersheim einen Besuch abgestattet hatte, um die Heiminsassen zu erfreuen. Abends tanzte man ferner im Hotel „Hirsch“ (Kapelle Piccolini mit „Jutta“). Im Gasthaus „Krone“ spielte die Kapelle „Nachtigall“ zum letzten Tänzchen auf, während im „Goldenen Stern“ die Faschingslichter nach einer „Unterhaltung“ in den beiden Lokalen erlöschen sollten.
Damals ein Faschingsmuffel zu sein, war definitiv kein Spaß!
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Zu den maßgeblich Beteiligten zählte u.a. der Kirchenmaler Georg Haugg („George Pittoro Hauggio“). Das Prinzenpaar, Rita Winkler + Alfons Wagner (von der Bäckerei Wagner, dem „Schiaßstattbäck“) hatte wahrlich alle Hände voll zu tun. Mastermind hinter der Umzugs-Orga war Dr. Friedrich Kuhn, im wahren Leben Chefarzt im Kreiskrankenhaus Ottobeuren. Er arbeitete die Themen aus.
Nur 25 Wagen waren beim Faschingsumzug am 12. Februar 1956 beteiligt, nur noch halb so viele wie im Vorjahr. Und wegen der eisigen Temperaturen – in Memmingen waren bis zu minus 34° C gemessen worden – wäre der Gaudiwurm fast noch ein Opfer der sibirischen Kälte geworden. Lange hatte man beraten, ob man das Unternehmen wagen könne. Da aber die Wagen weniger auf Personen, denn auf bildliche Darstellung abgestimmt waren, die Gruppen eben verringert wurden und der Aufwand nun schon getätigt war, entschloss man sich zur Abhaltung.
Nachdem die Umzüge in München und Augsburg abgesagt wurden, erwarb sich der Bayerische Rundfunk große Verdienste, indem er diejendigen Orte ansagte, die sich von dem närrischen Treiben in den Straßen trotz der klirrenden Kälte nicht abhalten ließen. Unter diesen Unentwegten befanden sich auch die Ottobeurer. Die Bundesbahn setzte ab Memmingen eigens Dampfzüge ein, auch die Rietzler-Busse fuhren von dort nach Ottobeuren. Es waren letztlich zwar weniger Besucher als 1955, aber immerhin kamen doch einige tausend Menschen, vor allem waren die Fenster der Häuser dicht belagert.
Der Präsident der Faschingsgesellschaft Ottobeuren des TSVO, Dr. Friedrich Kuhn, hatte wieder Ideen und Entwürfe zum Zug beigesteuert, Meister Josef Dotzel, vor allem auch Rudolf Schneider und die Maler Zettler und Demmeler, haben an dem Gelingen der von ihnen gestalteten Wagen großen Anteil. Für die innere Organisation zeichnete in bewährter Weise Verwaltungsinspektor Louis Zuchtriegel verantwortlich, während die Zugleitung bei Sepp Reichenwallner (von der Bäckerei in der Luitpoldstraße, Ecke Obere Straße) in sicheren Händen lag. Seine schöpferische Idee von den wandelnden Kassen verdiente ein Sonderlob.
Durch die Straßen des Marktes bewegte sich eine „Revue des Humors“. Die politischen Darstellungen boten feinen Witz, gewiss Satire auch und Kritik, nirgends aber wirkten sie beleidigend und überall herrschte ein gewisser lyrischer Grundzug vor. Es wurde bewiesen, dass ein ländlicher Faschingszug auch Geist und irgendwie Niveau haben kann, nicht bloß derbe Späße kennt oder jemanden zu beleidigen braucht.
Die Fotos zeigen politisch brisante und kontroverse Themen. Dabei schlug sicherlich auch das politische Wirken von Dr. Kuhn durch, der selbst bei der Gründung des Bundes-FDP dabei war. Auch seinen Vorsitz der Kreis-Verkehrswacht konnte er in den Jahren seines Engagments für die Ottobeurer Faschingsumzüge nicht verbergen. Die Themen der Wägen wurden schon damals in eigenen Programmheften erläutert, der große zeitliche Abstand erfordert erst recht Recherche, um die Hintergründe zu verstehen.
Zum Eingangsfoto – eines von mehreren, die uns Georg Besel (2021: Neubiberg) dankenswerterweise zur Verfügung stellte und die gemeinfrei genutzt werden dürfen:
Starken Beifall errang der Witz über den Lehrerbildungsstreit. Vater Staat, zwischen den Beinen die braven Schäflein, hatte einen befrackten Lehrer (man beachte die Hakenkreuz-Krawatte!) auf seinen Federhalter aufgespießt. Da schwebte also gleichsam der Bayerische Lehrerverein zwischen Hangen und Bangen. Darunter standen Fässer mit schwarzer, roter und brauner Tinte (letztere gerade geschlossen!). Vater Staat fragte: „In welche Tinte, Herr Lehrer, willst Du?“ Der zappelnde Lehrer aber antwortete: „Am liebsten würde ich mich in keine Tinte mehr setzen!“
Hintergrund dieses Themenwagens dürfte der sog. Rucker-Plan gwesen sein: Der Kultusminister der Viererkoalition (SPD, BP, FDP, BHE), August Rucker (parteilos, 1900-1978, Kultusminister 1954-1957), wies auf die technischen Herausforderungen der Zeit hin und sah einen Zehn-Jahres-Plan mit dem Ziel des Ausbaus des gesamten Schulwesens, insbesondere des Volksschulbereichs vor, um den Bildungsrückstand zum Ausland aufzuholen.
Der zweite hier abgebildete Wagen zeigt Bundeskanzler Konrad Adenauer, wie er versucht, einen geeigneten Nachfolger zu „angeln“. Seine letzten Jahre als Kanzler wurden durch seinen hartnäckigen Kampf, so lange wie möglich im Amt zu bleiben, und durch den – vergeblichen – Versuch, die Wahl Ludwig Erhards als Nachfolger zu verhindern, überschattet. Häufig wurde er in dieser Zeit als „der Alte von Rhöndorf“ bezeichnet. Hier uminterpretiert, frei nach Hemingways Erzählung „Der alte Mann – und die kleinen Fische“. Adenauer angelt im Bundesaquarium für politische Backfische in Bonn: „Ist denn gar kein größerer Hecht darunter, den ich mir zum Nachfolger angeln könnte?“
Die amerikanische Flagge am Köder unterstreicht seinen Annäherungskurs an den Westen. Als gläubigem Katholiken waren Adenauer die Bolschwiken mit ihren antiklerikalen Kurs verhasst.
Der dritte Themenwagen beschäftigte sich mit der bayerischen Familienpolitik. Die deutschen Familienausgleichskassen waren die Institutionen, die von 1954 bis 1964 für die Auszahlung des Kindergelds und die Erhebung der dazu erforderlichen Beiträge zuständig waren.
1953 hob die Regierung Adenauer die Familienpolitik in den Rang eines Ministeriums. Dr. Franz-Josef Wuermeling wurde als erster Bundesminister für Familienfragen berufen und war bis 1962 im Amt. Er, selbst Vater von fünf Kindern, wurde bekannt für den nach ihm benannten „Wuermeling-Pass“, mit dem Kinder und Jugendliche aus kinderreichen Familien zum halben Preis Zugfahren konnten.
Die Berufstätigkeit der Frau war ständiger Kritik ausgesetzt, auch durch Bundesminister Franz-Josef Wuermeling: „Für Mutterwirken gibt es nun einmal keinen vollwertigen Ersatz.“ „Eine Mutter daheim ersetzt vielfach Autos, Musiktruhen und Auslandsreisen.“ Sein Ministerium erklärte Wuermeling bei Amtsantritt zur „Abwehrinstanz gegen die Gleichberechtigung der Frau“. Den mit dem Geld aus der Familienausgleichskasse erhofften Kindersegen nahmen die Ottobeurer mit einem Storch vor der Basilika aufs Korn.
Um die 25 Wagen zu ziehen, mussten „Dieselrösser“ gesattelt werden, „richtige PS“, sprich, Pferde, waren für diesen Zweck kaum mehr aufzutreiben. Michael Hatzelmann von der Unteren Mühle hatte zwei Pferde zum Holztransport („Rossführer“ Wölfle), auch die Benediktinerbrauerei Ottobeuren hatte zwei. Die Maler und Künstler rüsteten sich für die Montage der Szenen des Panoptikums. Damit die Zuschauer auf dem Marktplatz nicht mehr lange warten mussten, bis sich der Zug zum zweiten Male durch das Ortszentrum bewegte, waren die Routen 1956 etwas geändert worden: Der Zug stellte sich wieder an der Klosterökonomie in der Kemptener Straße (heute: Sebastian-Kneipp-Straße) auf und zog durch den „obera Flecka“ zum Marktplatz und machte bei der Sparkasse in der Bahnhofstraße bereits die Schleife zum Gegenzug, nicht mehr draußen am Bahnhof. So durchquerte der Zug dreimal den Marktplatz, sodass er hier eingehend studiert werden konnte. Auch die Schlussszene fand auf dem Marktplatz vor dem Knabenschulhaus (heute: Haus des Gastes) statt. Eine eigene Musikkapelle – aus Sontheim – unterhielt dort die Zuschauer.
Der Zug wurde durch den Fähnrich und die Hofnarren eingeleitet, dann folgte die Blaskapelle Ottobeuren. Die West-Ostpolitik im Zeitalter des Atoms wurde geistreich glossiert, die Spaltung Deutschlands köstlich dargestellt. Die „Kadertruppe Blanks“, fehlte ebensowenig wir der „Spielbankuntersuchungsausschuss“, der „Song der Verkehrswacht“ und das „Grabmal des unbekannten Steuerzahlers“.
Die politische Satire wurde durch die Kreis- und Ortspolitik aufgelockert und aktualisiert. Die „Columbusfahrt der drei berühmtesten Memminger“, der „Zweckverband der Kur- und Altersheime“, die Spielbank des Kurortes Ottobeuren“, die „Kommunalwahl“, die „letzten Neuerungen im Kreiskrankenhaus“, die „Kneippgymnastik“ usw. sprachen die Bewohner des Landkreises Memmingen besonders an. Die Prinzengarde saß hoch zu Ross, während im Elferwagen das „wahre Gemeindeparlament“ anzutreffen war. Den Lärm bekämpften die Kapellen des Zuges.
Ihre Tollitäten, das Prinzenpaar, Ottobeurens Herrscher bis zum Aschermittwoch, konnte man freilich nicht mehr in einer Kutsche aus Gold fahren, die „Dynastie“ war inzwischen soweit emporgekommen, dass die närrischen Hoheiten wie indische Nabobs auf einem Elefantenthron durch ihren Herrschaftsbereich ritten.
Neben den nationalen sowie internationalen Themen (drohender Atomkrieg, die Spaltung Deutschlands) standen wie gesagt auch lokale Themen im Fokus. Ein besonders cleveres war die Anspielung auf die Geburt der Zwillinge Max und Stefan (im Dezember 1955) des Brauereibesitzersehepaars Ingeborg (geb. Euringer, *09.01.1930, †14.10.2019) und Max Graf (Dipl.-Brauerei Ing. Max Graf; *21.05.1924, †25.01.2016). Der in der Brauerei gebraute „Doppelbock“ erhielt in dem Scherz mit den Zwillingen (im richtigen Leben Brüder von Claudia, Inge und Georg) freilich eine gänzlich andere Note. Die Szene spielte sich auf der Günzbrücke vor dem Gasthof zum goldenen Engel ab:
Ladenbesitzer Martin Werner war als Ingeborg Graf verkleidet, der SPD-Gemeinderat Erwin Schmid (*28.1.1938 in Ottobeuren, †11.03.2018) als Max Graf, als „Zwillinge“ hatten sich Manfred Werner (Bruder von Martin) und Hans Sinz (mit Schnuller) zur Verfügung gestellt.
Man beachte: Am Brückengeländer findet sich ein Wegweiser zur „Landpolizei“ (im Amtsgebäude).
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Faschingsumzüge gab es in Ottobeuren - nach jetztigem Kenntnisstand – nur von 1952 - 56; der hier dokumentierte war sozusagen der Abgesang. Die Bälle gab es auch in den späteren Jahren unverändert, zum Umzug 1957 hieß es in der Zeitung nur, er würde „aufgrund der ernsten Zeitumstände ausfallen“. Gemeint sein könnte die Sueskrise oder die Wiederbewaffnung der beiden deutschen Staaten (Aufbau der Bundeswehr und der NVA), vielleicht gab es auch ortsinterne Verwerfungen. Wer mehr zu den Hintergründen weiß, bitte melden!
In Bad Grönenbach übrigens feierte man 1956 bereits den 50. Umzug, mit einem Spiegelbild der letzten 50 Jahre.
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Die letzten 10 Fotos stammen aus dem Bildarchiv der Marktgemeinde. Scans der Besel'schen Negative, Bildbearbeitung, Recherche und Zusammenstellung: Helmut Scharpf, 09/2021