09.01.1784  Pater Ulrich Schiegg lässt eine „Luftkugel“ steigen: erster deutscher Ballonstart (mit Fragezeichen)

Titel

09.01.1784  Pater Ulrich Schiegg lässt eine „Luftkugel“ steigen: erster deutscher Ballonstart (mit Fragezeichen)

Beschreibung

Am 21.11.1783 hoben der Physiker Jean-François Pilâtre de Rozier und der Offizier François d’Arlandes ab und wurden so die ersten menschlichen Luftfahrer. Der Flug dauerte 25 Minuten. Die Erfolge und Erfahrungen der französischen Heißluftballon-Pioniere – insbesondere die der Gebrüder Montgolfier – inspirierten auch im deutschen Sprachraum unzählige Nachahmer.

Einen frühen Start legte hierbei Pater Ulrich Schiegg hin, der eine „Luftkugel“ zunächst in einem geschlossenen Raum steigen ließ – bis an „das Gedecke seines Zimmers“ –, um dann am 9. Januar 1784 erstmals eine „Maschine ... in der freyen Luft“ steigen zu lassen. Sein Hauptexperiment fand am 22.01.1784 statt. Trotz widriger Wetterbedingungen verlief die Fahrt der (unbemannten) Luftkugel sehr erfolgreich. Statt wie die Montgolfiers auf möglichst viel Rauch zu setzen, nutzte er besonders reinen Alkohol („Weingeist“).
Im Anschluss verfasste Pater Ulrich Schiegg ein kleines Büchlein, das Sie hier abrufen können:
Literaturzitat:
Schieg, Ulrich: Nachricht über einen Aerostatischen Versuch, welcher in dem Reichsstifte Ottobeuren vorgenommen worden den 22. Jenner 1784, Karl Josef Wankenmiller, Ottobeuren, (1784), 16 S. sowie zwei Tafeln

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Die Augsburger Postzeitung (hier: „Augspurgische Extra-Zeitung“ Nr. 23) nahm in ihrer Ausgabe vom 27.01.1784 auf den Seiten 1 und 2 Bezug auf den Vorgang:
Memmingen, den 23. Jan.
Zur Ehre Schwabens ließ Herr P. Adalricus Schiegg, Professor der Philosophie und Großkeller in dem Kayserl. Reichsstift Ottobeuren, gestern eine Luftkugel zu 100. Cubic-Schuhen empor steigen, nachdem er den 9ten vorhero einen sehr glücklichen Versuch mit einer kleinern gemacht hatte. Der erstgedachte von Papier gemachte, in der Höhe 14. im Durchmesser 12 französische

Schuhe messende Ball stieg nach empfangener brennbarer Luft so schnell in die Höhe, daß er in 4. Minuten schon im Gewölke und ausser aller Augen gewesen. Dieser Erfolg hat in der That die Erwartung aller sehr zahlreichen Anwesenden weit übertroffen, und das richtigste Zeugniß von der grossen Geschicklichkeit des Hochwürdigen Herrn Verfertigers abgelegt. Besagte Luftkugel kam nach einer halben Stunde ohnweit besagtem Reichsstifte wieder herunter.

Am 16.05.1784 ließ Pater Ulrich einen noch größeren Ballon steigen, der nach ca. 22 km in der Nähe von Leutkirch zu Boden ging. Auch in der Abtei Kempten wurden Luftkugeln gebaut. Über die weiteren Versuche und Ballonstarts kommen an dieser Stelle zu gegebener Zeit noch weitere Ausführungen!
Warum nicht der 9.1.1784 als der eigentliche Erstflug gilt, ist nicht bekannt. Anlässlich des 200. Jahrestages des Ballonstarts vom 22.01.1784 fand am 21. und 22. Januar 1984 in Ottobeuren eine Rang 3-Briefmarkenausstellung statt. Einen Bogen von Ballonpostmarken mit dem Konterfei Schieggs können Sie hier abrufen, außerdem ein Ballonpostbeleg von 1984.

Zum 250. Geburtstag Schieggs erschien eine Festschrift:
Literaturzitat:
Marktgemeinde Ottobeuren und Benediktinerabtei Ottobeuren (Hrsg.): Festschrift zum 250. Geburtstag von Pater Ulrich Schiegg OSB. Benediktiner und Wissenschaftler, Ottobeuren, 03.05.2002, 134 S.

Die Gebrüder Baader aus Ottobeuren führten kurz nach dem Ballonstart Schieggs in Augsburg weitere Vorführungen durch. In der „Augsburger Ordinari Postzeitung“ Nr. 45 vom 21.02.1784 hieß es auf Seite 3:
Augsburg, den 19. Febr. [1784]
Heute Nachmittags 4. Minuten vor 3. Uhr liessen die Herren Gebrüder Baader ihrem (in unserer Montagszeitung) gethanen Versprechen gemäß auf dem Frohnhof eine Luftkugel in Gegenwart einer zahlreichen Menge Zuschauer fliegen. Sie hatte 11. Schuhe in die Höhe, und 10. Schuhe im Durchschnitt, und ist aus starkem weissen Papier mit rothen und grünen Streifen verfertigt. Sie erhob sich majestätisch, und ziemlich gerade, nahm hierauf ihren Flug über die Stadt gegen Süden, und ward noch 4. bis 5. Minuten (freylich bey etwas neblichtem Himmel) auch dem schärfsten Auge unsichtbar.

Die Ankündigung der Vorführung fand sich in der Zeitung am Montag, den 16.02.1784, S. 4:
Nachricht.
Das verehrte Publikum wird hiemit geziehmend benachrichtiget, daß die zween Gebrüder Baader, von Ottobeyren, unweit Memmingen in Augsburg angelangt sind, um daselbst einen Versuch mit einem Luftball, nach des berühmten Herrn Mongolfier Erfindung, von 10. Schuhen im Durchmesser, zum Vergnügen des Augsburgischen Publikums zu machen. Da ihnen nun der Theater-Saal bey St. Salvator, und der Frauenhof, als hiezu bequeme Plätze Hochobrigkeitlich gnädig bewilliget worden sind, so werden erstlich bis nächsten Dienstag []= 17.02.1784] Mittag von 11. bis 12. Uhr, und Nachmittag, von 3. bis 4. Uhr, als den 17ten, und Mittwochs am 18ten dieß Nachmittags von 2. bis 3. Uhr in dem Theater-Saale bey St. Salvator, kleinere Versuche mit gedachtem Luftballe gemachet, und die Maschine selbst sammt Zubereitung den Anwesenden vorgezeiget werden. Den nächst folgenden Donnerstag als den 19. Hornung [Februar], wiederum nach 2. Uhr Nachmittags, wenn ein schöner heller Tag ist, wird man auf dem Frauen-Hof die Maschine los und frey in die Luft fliegen lassen. Zur Schadloshaltung der Vorweiser, welche beträchtliche Unkosten auf Maschine und Reise gemacht, wird das Einlaßgeld Personen vom Range selbst beliebig heimgestellet. Auch alle Kenner und Liebhaber neuer Erfindungen werden hiemit auf das höflichste eingeladen, an diesem sehenswürdigen Schauspiel Antheil zu nehmen, deren guten Erfolg man sich desto gewisser verspricht, je glücklicher eben dieser Versuch in Ottobeyren, und anderswo bereits schon gemacht worden ist.
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Der letzte Satz deutet bereits an, dass Ottobeuren mit dem Ballonstart Schieggs wohl nicht so exklusiv vor allen anderen vonstattet gegangen war. Zur Frage, wer den ersten Ballonstart in Deutschland ausführte, kommt in Ottobeuren die Meldung aus der Zeitung „Augspurgisches Extra-Blatt“ Nr. 1 vom 01.01.1784 (= „Augsburger Ordinari Postzeitung“) auf den Seiten 2 und 3, deshalb eher ungelegen. Es heißt dort:
Darmstadt, den 23. Dec. [1783]
Heute frühe gegen 10. Uhr liessen einige Freunde der Physik und Naturgeschichte einen Luftball in die Höhe.

Er war aus Goldschlager-Häutchen zusammengesetzt, mit Hausblase verleimt, und mit gewöhnlicher aus Eisenfeilspänen und Vitriol entwickelt brennbarer Luft gefüllt. Seine Gestalt, die ein längliches Viereck vorstellte, beweiset, daß die Kugelgestalt hierzu nicht schlechterdings erforderlich ist. Er stieg sogleich in die Stadt, wo er loßgelassen wurde, zweymal so hoch, als der hiesige Stadtthurm, setzte seinen Lauf über den vor der Stadt liegenden Exercierplatz fort, gegen den Rhein zu, und wird wahrscheinlich in der Gegend des Rieds gesunken seyn.

In der Zeitung vom 07.02.1784 hieß es auf Seite 1:
Oesterreich, den 30. Jan.
Bey Gelegenheit des letzthin in Wien mit einem Luftballe von 6. Fuß im Durchschnitte von dem Herrn von Widmannstätten gemachten Versuchs sind 29. Pfund Vitriol-Oel, und über 100. Pfund Eisenfeil zur Verfertigung der brennbaren Luft, und zur Füllung dieser kleinen Maschine verbraucht worden.
[Gemeint war der Buchdrucker Aloys bzw. Alois von Widmannstätten; siehe Link.]

Das Schiegg'sche Prinzip war demnach deutlich effektiver!
Biographisches: Alois Beckh von Widmanstätten, geboren am 13. Juli 1754 in Graz; recht ausführliche Lebensgeschichte unter besonderer Berücksichtigung seiner Ballonversuche gibt es in der Wiener Zeitung vom 04.06.1999. Die Zeitung hatte am 17. und 21. Januar 1784 berichtet. Die Meldung brauchte eine Weile, bis sie in Augsburg ankam!

Dramatische Ausmaße nahm eine Vorführung im Südwesten Frankreichs an (in derselben Ausgabe vom 1.1.1784, S. 3):
Bordeaux, den 7. Dec. [1783]
Vorigen Mittwochen [= 3.12.1783] hatten wir, bey Gelegenheit einer Luftmaschine, in dieser Stadt einen unangenehmen Vorfall. Ein Kaffeeschenker, Namens Bellevue, hatte eine Luftmaschine, 1 1/2 Fuß hoch, von Paris kommen lassen, um damit, gegen Bezahlung von 60. 36. und 24. Sous, auf einem großen Platze Bellevue ein Schauspiel zu geben. Die Maschine stieg aber nicht höher, als etwas 25. Fuß. Mehr als 30000. Zuschauer waren da, die immer den rechten Globus zu sehen erwarteten, und sahen die Maschine nur für eine Windblase an. Man ward ungeduldig, und einer nahm ein Stück Erde, warf es mit den Worten, voici un Ballot, in die Luft, und es fiel unglücklicher Weise einem Irländer, der nicht weit davon saß, auf den Kopf. Dieser nahm seinen Stuhl, und warf ihn dahin, wo der Wurf hergekommen. Darüber entstand in Zeit von 10. Minuten ein solcher Tumult, daß über 2000. Stühle zerbrochen waren. Das Haus war bombardirt und die Fenster eingeschlagen; 30. Mann Kavalleristen und so viele Stadt Soldaten, die den Lärm stillen sollten, wurden mit Steinen zurückgetrieben, einige getödtet, verschiedene verwundet, und aus dem Soupe und Ball, welche dem Schauspiele folgen sollte, war auch nichts.

In der Festschrift sind die Originalseiten der beiden Werke über die „Ersparnuß bei Bräupfannen“ sowie das kleine Büchlein über den „aerostatischen Versuch“ abgebildet. Dr. Dr. Edgar Mayer verfasste zu letzterem auf den Seiten 63 - 66 eine Abhandlung, die sich mit den Inhalten des Werkes auseinandersetzt.

Am Samstag, den 04.05.2002, fand um 14 Uhr auf dem Marktplatz der Start eines nach Originalangaben nachgebauten Ballons der Rupert-Ness-Realschule Ottobeuren statt. Auch hier waren die Wetterumstände widrig: Eine Gewitterböhe führte nach wenigen Metern dazu, dass der Ballon in Brand geriet.

Die aerostatischen Versuche sind auch bei Schlim, Jean Louis: Ludwigs Traum vom Fliegen und andere bayerische Flugfantasien, August Dreesbach Verlag München, 2018 (3. Auflage), 120 S., 29.80 €, ISBN 978-3-944334-99-8 (2. Auflage vom Oktober 2011) auf den Seiten 110 - 113 abgebildet. Jean Louis Schlim wurde 1952 im Großherzogtum Luxemburg geboren und lebt seit 1977 als Autor in München.

Urheber

Pater Ulrich Schiegg

Quelle

Frau Huith

Verleger

Helmut Scharpf

Datum

1784-01-09

Rechte

gemeinfrei