13.10.1904 – Artikel über Sebastian Kneipp in der Zeitschrift „Über Land und Meer“
Titel
Beschreibung
Über Land und Meer war ein illustriertes Unterhaltungsblatt, das von 1858 bis 1923 wöchentlich in Stuttgart erschien. Auf einer eigenen Wikipedia-Seite heißt es über das Blatt:
Der Inhalt war belletristisch und humoristisch und sollte unterhalten, aber auch belehren. Besonders wichtig war jedoch die Verknüpfung mit vielen Bildern. Im „Prospect“ der ersten Ausgabe heißt es denn auch: „Den doppelten Anforderungen unserer Zeit zu genügen, was ist und was geschieht in lebendigen Bildern durch Feder und Stift zu vergegenwärtigen – das ist's, was sich unser Journal zur Aufgabe gestellt.“
Da durfte ein Artikel über „Prälat Sebastian Kneipp“ nicht fehlen. Illustriert wird der Artikel (auf der Seite 433) von einem sehr schönen Stich, der nach einem Foto von Otto von Zabuesning (1871 - 1929) entstanden war; Zabuesnig wirkte in Lindau, Oberstdorf, Kempten und Wörishofen.
Der Text gibt in Kurzform Kneipps gesamte Lebensgeschichte wieder. Der Autor signiert am Ende nur mit seinen Initialen „P. O.“; es war demnach nicht der Redaktionsleiter Carl Anton Piper.
Auch wenn Kneipp insgesamt positiv dargestellt wird: Zwischen den Zeilen scheinen das ein oder andere Mal kleinere Herablassungen durch:
„... so glaubte er die Segnungen dieser Heilmethode der Mitwelt übermitteln zu müssen.“
„In der Hauptsache ist ja die Kneippsche Heilmethode nur die alte Naturheilkunst mittels kalten Wassers, die in vielen Fällen gute Wirkung erzielen kann, ...“
„... das Auftreten des biederen, treuherzigen Pfarrers ...“ „Sebastian Kneipp war fest von den unfehlbaren Segnungen seiner Heilmethode überzeugt, ...“
„...mag man im einzelnen auch nicht mit ihm übereinstimmen, ...“
Hier nun die Abschrift des Gesamttextes (die Hervorhebungen sind zur besseren Übersicht eingefügt worden):
Prälat Sebastian Kneipp †
Im Dorfe Wörishofen in Bayern, das durch ihn einen Weltruf gewann, ist am 17. Juni der Prälat Kneipp kurz nach Vollendung seines sechsundsiebzigsten Lebensjahres gestorben. Als Sohn eines armen Webers am 17. Mai 1821 zu Stefansried [Stephansried] bei Ottobeuren geboren, trat er mit elf Jahren bei seinem Vater in die Lehre und blieb bis zum einundzwanzigsten Lebensjahre dessen Gehilfe, indem er während der guten Jahreszeit als Taglöhner bei Bauern arbeitete oder Maurern Handlangerdienste leistete. In seinen karg bemessenen Mußestunden suchte er seine mangelhafte Bildung zu vervollkommnen, und er war von einem heißen Verlangen nach dem Studium erfüllt, aber wo er dieserhalb auch um Unterstützung und Förderung nachsuchte, er begegnete überall tauben Ohren.
Endlich fand er in dem Kaplan Mathias Merkle von Grönenbach einen wohlwollenden Gönner und Lehrer, der ihn auch nach dem Orte seiner weiteren Thätigkeit, Augsburg, mitnahm. Als Merkle dann 1844 als Professor an das Gymnasium zu Dillingen berufen wurde, veranlaßte er die Aufnahme seines Schützlings in diese Anstalt, und zu Ostern 1848 bestand Sebastian Kneipp, nunmehr 27 Jahre alt, die Reifeprüfung. Nachdem er einige Semester in München Philosophie studiert hatte, kehrte er nach Dillingen zurück, um sich auf dem dortigen Lyceum zum Priester auzubilden. Im August 1852 erhielt er die Weihen und wurde, nach kurzer Amtsthätigkeit an verschiedenen Orten, 1855 Beichtvater des Klosters der Dominikanerinnen zu Wörishofen, woselbst ihm 1882 auch die Pfarrei übertragen wurde.
In seiner Münchener Sudienzeit hatte er die zu Anfang dieses Jahrhunderts erschienene Schrift des Dr. Hahn über die natürliche Heilkraft des kalten Wassers kennen gelernt, für sich selbst befolgte er fortan die darin gegebenen Fingerzeige, und da er im Laufe der Jahre aus einem schwächlichen, kränkelnden Menschen zu einem gesunden und kräftigen Manne erstarkte, so glaubte er die Segnungen dieser Heilmethode der Mitwelt übermitteln zu müssen. Zunächst erzielte er bei einigen seiner Pfarrkinder gute Erfolge, dann kamen Kranke aus weiterer Entfernung, und binnen wenigen Jahren gewann der geistliche „Wasserdoktor“ einen so großen Zulauf, daß er den Hilfesuchenden kaum noch Genüge leisten konnte. Sein 1886 verfaßtes Werk „Meine Wasserkur“ fand ungeheuren Absatz, und mit dem Erscheinen dieses Buches wurden Kneipps Namen und Wörishofen weltberühmt. Fürsten und Herzöge nahmen den Weg nach dem einst so entlgenen Dorfe, ja Papst Leo XIII. beschied den schlichten Pfarrer zu sich und ehrte ihn durch Ernennung zum Geheimkämmerer.
Auch die medizinische Wissenschaft, die sich sonst gegen die Kneippsche Heilmethode in ihrer Gesamtheit ablehnend verhielt, gestand der Wasserbehandlung in bedingtem Maße ihre Bedeutung zu, und auf weite Volkskreise gewannen Kneipps Lehren über Hautpflege, Abhärtung und Einfachheit der Lebensweise Einfluß. In der Hauptsache ist ja die Kneippsche Heilmethode nur die alte Naturheilkunst mittels kalten Wassers, die in vielen Fällen gute Wirkung erzielen kann, und auch in manchen Spezialverordnungen liegt gesunde Vernunft. Hierzu kommt ferner
S. 434
die vorgeschriebene strenge Diät, nicht zu vergessen die suggestive Wirkung, die das Auftreten des biederen, treuherzigen Pfarrers, der auch gegenüber den Hochgestellten kein Blatt vor den Mund nahm, auf die Leidenden ausübte. Sebastian Kneipp war fest von den unfehlbaren Segnungen seiner Heilmethode überzeugt, und über alles Lob erhaben ist seine Uneigennützigkeit und Opferwilligkeit. Seine ganze Zeit gehörte den Leidenden, und er, der ein ungeheures Vermögen hätte sammeln können, behielt nur das Notwendigste für sich, lebte bescheidener als die Aermeren unter seinen Klienten. So bleibt er, mag man im einzelnen auch nicht mit ihm übereinstimmen, doch ein Vorbild edler Menschenliebe.
P. O.
Literaturzitat:
Über Land und Meer. Deutsche Illustirte Zeitung, Band 91 (46. Jahrgang), Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart und Leipzig, 1904, 593 S.
Mit vielen Artikeln aus den Bereichen Literatur, Biographien, Geschichte, Länder- und Völkerkunde, Malerei, Kultur, Natur, Militär, Gesundheit, Poesie, Theater, Musik, Schach u.a.
Auf der Seite 434 folgt der Artikel „Die Überschwemmungen im Mississippithal“. The article about the curriculum vitae of Sebastian Kneipp is followed on page 434 by one about the the horrendous floods in the Mississippi valley in 1904 (in German only).
Sammlung, Abschrift und Recherche: Helmut Scharpf, 04/2020