26.-28.06.1981 – Bundespräsident Dr. Karl Carstens besucht mit seiner Frau Veronica Ottobeuren
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Alles, was Rang und Namen hat, schaut irgenwann einmal bei uns vorbei (vgl. Kohl, Merkel, Gauck, Draghi, ...). Wieder einmal besuchte ein hoher Staatsgast Ottobeuren. Für Prof. Dr. Carl Carstens war es bereits sein dritter Aufenthalt im Kneippkurort, allerdings zum ersten Mal in seiner Funktion als Bundespräsident. Nach Dr. Theodor Heuß (28.07.1957) und Dr. Wilhelm Lübke wurde es der dritte Besuch eines Bundespräsidenten in unserem Marktflecken.
Aufgrund seiner Vorliebe fürs Wandern wurde der Nachfolger Walter Scheels („Hoch auf dem gelben Wagen“) während seiner Amtszeit als „Wanderpräsident“ bekannt. Die Wanderungen quer durch die Bundesrepublik nutzte er zur Begegnung mit vielen Menschen, von denen er sich streckenweise begleiten ließ und mit denen er unterwegs einkehrte. Carstens hatte bereits 1000 km hinter sich, es fehlten nur noch etwa 180 km. Am 27. Juni 1981 lief er mit seiner Frau – Dr. Veronica Carstens – von Attenhausen über Pfaffenhausen bis Nassenbeuren, am Tag darauf von Nassenbeuren über Bad Wörishofen bis nach Oggenried im Landkreis Ostallgäu. (Noch heute finden sich übrigens ein paar wenige verwitterte Holzschilder, die auf den Verlauf des „Carstens-Wanderwegs“ hinweisen. Eingeweiht wurde der Weg unter dieser Bezeichnung erst im Ende Mai 1982; mit dabei: der persönliche Referent des Bundespräsidenten, Fritz Schuster) Überall gab es Empfänge und Menschenaufläufe:
An der Grenze zu Landkreis Günzburg bildten Reinald Scheule (damals stellv. Landrat und Bezirksrat), Dr. Hermann Haisch (Landrat Unterallgäu), Julius Strohmayer (damals stellvertr. Landrat und Bürgermeister von Mindelheim) sowie Dr. Georg Simnacher (Landrat Lkr. Günzburg und Bezirkstagspräsident) einen „Chor der Landräte“ (s. Foto). Sie sangen Hei, griaß di Gott, Ländle und I bin a Schwob, a Schwob bin i. Mitgesungen hat dabei außerdem MdL Rudolf Kluger. Das Ehepaar Carstens war zu Tränen gerührt. Der Bundespräsident meinte dazu im Nachgang, er sei bei seinen Wanderungen von vielen Musikgruppen empfangen worden, „doch noch nie hat mir ein Landräte- und Bürgermeisterchor den Willkommensgruß entboten“. Für ihn „ein klares Indiz dafür, dass im Unterallgäu auch in der Kreis- und Kommunalpolitik ein guter Ton herrscht“.
in Pfaffenhausen kam es zu einem Treffen mit dem bayer. Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß, der dort mit dem Hubschrauber landete. Bundespräsident Karl Carstens lud die Ottobeurer bei seiner Ankunft auf dem Marktplatz (am 26. Juni 1981 gegen 18.30 Uhr) ein, falls sie Zeit hätten, nach Garmisch zum Abschluss seiner langen Wanderung zu kommen. „Das wird ein großes Fest!“
Die Begegnung mit den Unterallgäuern waren zahlreich, in Ottobeuren wurde Carstens von Bürgermeister Martin Frehner (in diesem Amt seit 1974) begrüßt. Im Hotel „Hirsch“ – in dem Carstens und seine Frau zweimal nächtigten – ließ sich der Bundespräsident Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vorstellen. In seinem Gespräch mit Bürgermeister Martin Frehner (*23.03.1921, †13.06.2015) interessierte sich Carstens besonders für die Kommunalpolitik, in der er sich sehr beschlagen zeigte. Er informierte sich über Struktur, Wirtschaftsleben und Kultur in Ottobeuren. Die Bayerische Staatskanzlei war durch Ministerialrat Eichler in Ottobeuren vertreten. Der Bürgermeister stellte die damaligen Gemeinderäte einzeln vor, sie sind auch mit im Goldenen Buch der Marktgemeinde verewigt, in dem sich das Ehepaar Carstens kurz nach ihrer Ankunft im Hirsch eintrugen (s. Abbildung). (Ob sich auch das Gästebuch des Hirsch erhalten hat, ist ungewiss.)
Die gesamte Bevölkerung war aufgerufen, den höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik auf dem Marktplatz zu empfangen. Ferner waren die Anrainer des Marktplatzes ersucht worden, die Häuser zu beflaggen. Der Markt sollte sich von seiner besten Seite zeigen. Einheimische wie Kurgäste kamen mit ihren Fotoapparaten fast bis auf Tuchfühlung an den hohen Gast heran. Bei den heutigen Sicherheitsstandards undenkbar, selbst das Unterfangen an sich – an den Wochenenden mit einem Flugzeug der Luftwaffe anzureisen, um zum Wandern zu gehen – wäre aus Gründen des Klimaschutzes und wegen der hohen Kosten heutzutage nicht mehr denkbar. Zumal es sich im Wesentlichen um eine Imagekampagne handelte, Carstens wollte Volksnähe demonstrieren. Kritische Fragen hätte es freilich genügend gegeben (s. Wikipedia), auch von den Inhalten des Zusammentreffens mit Franz-Josef Strauß erfuhr die Bevölkerung nichts. Immerhin: Im Gespräch mit den Gemeinderäten am ersten Abend ging es „hauptsächlich um die bundesdeutsche Wohnungsmisere und die Krawalle der vorangegangenen Nacht in Berlin“.
Natürlich kam es durch Abt Vitalis Maier zu einer Basilika-Führung, die Carstens besuchten am Samstagabend darüber hinaus ein Kaiserssal-Konzert, von Ottobeuren als Kneippkurort war Carstens jedoch schlecht informiert. Im Gespräch mit den Pfarrern beider Konfessionen fragte der prominente Gast am Freitagabend zunächst, „ob es in Ottobeuren heiße Quellen gebe, um sich dann gerne über Kneipp-Kuren belehren zu lassen.“ Ob die ein Jahr nach dem Ottobeuren-Besuch erfolgte Gründung der „Karl und Veronica Carstens-Stiftung“ (mit Sitz in Essen) damit in irgend einem Zusammenhang steht, ist denkbar, die Stiftung beschäftigt sich immer mal wieder auch mit der Kneippkur. Stiftungszweck ist „die Förderung von Naturheilkunde und der Pseudowissenschaft Homöopathie“.
1976 hatte sich Carstens lt. Wikipedia als Fraktionsvorsitzender der CDU-Fraktion des Bundestags „maßgeblich für die Umsetzung des umstrittenen sogenannten Binnenkonsens eingesetzt“. Der Binnenkonsens wurde am 6. Mai 1976 im Bundestag beschlossen und ermöglichte es, dass homöopathische Präparate als Arzneimittel zugelassen werden können, selbst wenn es keinen wissenschaftlichen Nachweis ihrer Wirksamkeit gibt. Carstens Frau Veronica nutzte als Internistin vorzugsweise homöopathische und naturheilkundliche Verfahren.
Dr. Veronica Carstens, die in den insgesamt sechs Zeitungsberichten (von Erika Gäble) – als promovierte Ärztin – nie in Verbindung mit ihrem Doktortitel genannt wurde, war mehr „schmückendes Beiwerk“. Am 27. Juni wurde berichtet, Frau Frehner habe Frau Carstens einen Ottobeurer vorgestellt, „der eigens in eine Original-Allgäuer Tracht geschlüpft war“. Die Gattin des Bundespräsidenten habe sich von Ottobeurerinnen über ihr soziales Engagement berichten lassen, der Anblick der Tracht hätte sie an ihre schwäbische Großmutter erinnert. Ganz im Stile eines Boulevard-Blatts ergänzte die Memminger Zeitung: „Sie selbst war im schlichten hellbeigen Fein-Cord-Kostüm angereist, unter dem sie eine braun-gestreifte Bluse trug. Die grauen Strähnen im dunklen Haar färbt sie nicht ein.“
Immerhin erhielt Frau Carstens nicht nur Blumen, sondern auch einen Scheck (in unbekannter Höhe) für ihre Sozialarbeit.
Auch der Bundespräsident engagierte sich sozial: für kinderreiche Familien. „Wenn du Kummer hast und deine Eltern dir nicht helfen können, darfst du mir schreiben“, sagte Bundespräsident Karl Carstens zu seinem Patenkind Horst Dieter Bürzle aus Boos. Dessen Vater Anton Bürzle (*03.11.1920, †27.10.1989; CSU-Mitglied) stellte sein 7. (und letztes) Kind stolz dem „Patenonkel“ in Ottobeuren vor. Horst blieb ledig, war begeisterter Fußballer und war 2003 maßgeblich an der Gründung des „FC Bayern Fanclub Rot Süß Boos e.V.“ beteiligt und bis 20016 dessen Präsident. Horst Bürzle arbeitete zunächst bei einer Druckerei in Fellheim, dann bei Ziegler in Krumbach; er bekam zunehmende gesundheitliche Probleme; ihm war kein langes Leben beschieden (*21.07.1968, †22.12.2018, Bad Buchau).
Zum Konzertprogramm am Samstagabend: Das Programm begann mit drei Werken von Georg Philipp Telemann, dessen 300. Geburtstag Ottobeuren auf diese Weise würdig feierte. Es folgte das 5. Brandenburgische Konzert von J.S. Bach. Der Augsburger Meistercellist Fred Buck, in vielen Rundfunkhäusern, Schallplattenproduktionen und Konzerten in verschiedenen europäischen Ländern bekannt, der unter namhaften Dirigenten konzertierte, spielte das beliebte Konzert für Cello und Orchester Nr. 1 in C-Dur von Joseph Haydn. Mozarts Sinfonie in G-Dur (KV 199) ließ den Kammermusikabend ausklingen.
Das Konzert war zunächst nicht ausverkauft: Karten waren beim Konzertbüro des Verkehrsamtes Ottobeuren (08332/1022) nach wie vor erhältlich. Letztlich war das Ottbeurer Sommerkonzert im Kaisersaal dann doch „vollbesetzt“.
Das Besuchsprogramm war äußerst dicht gedrängt:
26.06.1981
Gegen 18 Uhr:
Empfang auf dem Flugplatz Memmingerberg durch den Kommodore des Jagdbombergeschwaders 34, Oberst Hammerstein sowie Offizieren des Geschwaders. Aus dem zivilen Bereich begrüßten Landrat Dr. Hermann Haisch und Bürgermeister Zettler (Memmingerberg) den Staatsgast. Von der Landespolizei war der Leiter der Polizei-Inspektion Memmingen, HK Fischer, mit einigen Beamten anwesend.
18.30 Uhr:
Eintreffen mit schwarzer Limousine auf dem Marktplatz Ottobeuren, Begrüßung durch Bürgermeister Martin Frehner Eintrag im „Goldene Buch“ sowie im Gästebuch des Hotel Hirsch. (Auf lange Ansprachen wurde verzichtet.)
Begrüßungsumtrunk bei einem Glas Bier, Zusammentreffen mit den Gemeinderäten und den Pfarrern beider Konfessionen.
27.06.1981
7 Uhr:
Wanderung ab Attenhausen und St. Johann (östlich von Erkheim) nach Pfaffenhausen. Dort Zusammentreffen mit Franz-Josef Strauß; Weiterwanderung bis Nassenbeuren.
15.30 Uhr:
Empfang auf dem Marienplatz in Mindelheim; anschließend ging es zurück ins Ottobeurer Quartier.
Spätnachmittag:
Der von einer „Firmungsreise“ zurückgekehrte Abt Vitalis Maier begrüßte die Gäste, erklärte dann die theologischen und architektonischen Grundgedanken des barocken Baumonumentes und führte durch das Gotteshaus.
19.30 Uhr:
Als Herr und Frau Carstens den Kaisersaal betraten, brandete langanhaltender Beifall auf. Den Kammermusikabend bestritt die „Camerata musicale Augsburg“ unter Leitung von Helmut Hauf und Mitwirkung des Solisten Fred Buck (Cello), Stefan Wagner (Violine), Gereon Trier (Flöte) und Helmut Hauf (Cambalo).
In der Konzertpause:
Carstens begab sich in ein Zimmer des Knabenheimes, wo sein Protokollchef, Oberst Schuster, das ZDF an der „Strippe“ hatte. In der Sendung „Wetten, dass …“ wurde live ein Gespräch mit dem Bundespräsidenten eingeschaltet. Der Schauspieler Karlheinz Böhm hatte bei der vorletzten gleichartigen Unterhaltungssendung gewettet, dass es nicht gelinge, 100.000 DM für einen sozialen Zweck aufzubringen, wenn er die Bundesbürger darum bitte, eine DM an den Bundespräsidenten einzuzahlen. Letzterer teilte nun mit, dass der Mime verloren habe, denn auf dem Konto seien bis zur Stunde bereits 1,6 Millionen DM eingegangen.
Carstens sprach anschließend noch mit Oberin Gyldwina OSF vom Knabenheim. Dann zog er mit anerkennden Worten Dirigent Helmut Haug, den Flötisten Gereon Trier und den Leiter der Musikalischen Akademie, Kurt Raich, ins Gespräch.
Als Dirigent Haug bei den Schlussovationen vom Leiter des Kulturamtes, Reinald Scheule, einen riesigen Blumenstrauß überreicht erhielt, übergab der Dirigent spontan Frau Carstens das Blumengebinde.
28.06.1981
Fahrt mit dem Auto nach Nassenbeuren, wo die Wanderung bis Bad Wörishofen fortgesetzt wurde. Ziel letzte Sonntagsetappe war der Weiler Oggenried im Landkreis Ostallgäu. Auf der Rückfahrt zum Flugplatz Memmingerberg besuchten die Carstens noch das Jugendturnfest in Türkheim.
Rückflug von Memmingerberg in die damalige Bundeshauptstadt Bonn.
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Die Fotos wurden von Konstantine („Stanzl“) Wiedemann gemacht. Bis zum Eintritt in den Ruhestand (Mitte 1984) stand sie 43 Jahre lang im Dienst der Marktgemeinde Ottobeuren, im Zuge der Gebietsreform wurde sie ab 01.01.1976 zur Verwaltungsgemeinschaft Ottobeuren versetzt. In Klosterwald hatte Wiedemann die dreiklassige „Haustöchterschule“ besucht, in den ersten Jahren ihrer beruflichen Tätigkeit bei der Gemeindeverwaltung war sie „Mädchen für alles“ (insb. aber zusätndig für die Friedhofsverwaltung und Lohnabrechnung), bei der VG Standesbeamtin des Standesamtsbezirks Ottobeuren. Frau Wiedemann lebte allein in ihrem Haus in der Thalheimerstraße, sie blieb ohne Nachkommen. Einen Schatz hat sie uns trotzdem überlassen: Schon früh war Stanzl Wiedemann begeisterte Hobby-Fotografin. Die drei Fotos vom Eintreffen des Bundespräsidenten machte sie vom Rathaus aus.
Wer weitere Fotos oder Erinnerungen an den „Staatsbesuch“ beisteuern kann, bitte melden! Die Fotos der Unterzeichnung im Goldenen Buch sowie von der Wanderung stellt Reinald Scheule zur Verfügung.
Die beiden Fotos vom Geburtshaus sowie dem späteren Wohnhaus der elterlichen Familie in Bremen wurden am 14.08.2022 gemacht. Hinweistafeln gibt es dort nicht, Bremen hat immerhin eine Brücke nach Carl Carstens benannt.
Repros und Zusammenstellung: Helmut Scharpf, 08/2022